BERLIN. In der Netflix-Serie „Adolescence“ wird der 13-jährige Jamie des Mordes an einer Mitschülerin überführt. Wie konnte es zu dieser Tat kommen? Warum hat er es getan? Der Vierteiler ist keineswegs ein Krimi – sondern ein Sozialdrama mit gesellschaftspolitischer Dimension: Wieso entgleiten insbesondere junge Männer in die Gewalt? Die Regierung von Großbritannien hat die Serie zum Schulstoff erklärt. Auch in Deutschland wird darüber diskutiert, ob das Thema in den Unterricht gehört.

Warum…? Das ist die Kernfrage der britischen Serie, die derzeit Rekorde auf Netflix bricht: Warum tötet ein Pubertierender eine Pubertierende? Zwar handelt es sich bei „Adolescence“ (Adoleszenz bezeichnet die Entwicklungsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter) um eine fiktive Handlung, gleichwohl ist sie an authentische Fälle angelehnt.
„Es gab einen Vorfall, bei dem ein Junge angeblich ein Mädchen erstochen hat. Das hat mich schockiert“, so berichtet der Autor, Produzent und Hauptdarsteller (als Vater) Stephen Graham. „Ich dachte: ‘Was ist hier los? Was passiert in der Gesellschaft, dass ein Junge ein Mädchen ersticht? Was ist hier der Auslöser?’ Und dann passierte es wieder, und es passierte wieder, und es passierte wieder.” Tatsächlich häufen sich in Großbritannien Fälle von Messerangriffen durch Jugendliche.
Auch in deutschen Schulen kommt es immer öfter zu extremen Gewalttaten, die insbesondere von männlichen Jugendlichen begangen werden:
- Im Oktober stach ein Schüler einen Mitschüler im Klassenraum einer Schule im baden-württembergischen Ettenheim nieder und verletzte ihn schwer (News4teachers berichtete).
- Im September wurde ein 17-jähriger Gymnasiast aus Wuppertal wegen Mordversuchs zu zwei Jahren und zehn Monaten Jugendhaft verurteilt, weil er vier Mitschüler mit einem Messer in Hals und Kopf gestochen und dabei verletzt hatte (News4teachers berichtete).
- Im Februar vergangenen Jahres verletzte ein 15 Jahre alter Jugendlicher im schleswig-holsteinischen Hohenlockstedt einen Mitschüler im Klassenraum mit einem Messer (News4teachers berichtete).
- Kurz davor hatte ein 18-Jähriger Schüler in einem Gymnasium im baden-württembergischen St. Leon-Rot eine gleichaltrige Schülerin erstochen (News4teachers berichtete).
- In Offenburg wurde im vergangenen Juli ein 15-Jähriger wegen Mordes verurteilt, weil er einen gleichaltrigen Mitschüler mit einer Pistole, die er von zu Hause mitgebracht hatte, im Klassenraum erschossen hatte (hier geht es zum Bericht).
Im Zentrum von „Adolescence“ steht der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper), der eines Abends mit einem Messer eine Mitschülerin ersticht. Als die Polizei am folgenden Morgen sein Kinderzimmer stürmt, stehen die Eltern (Stephen Graham und Christine Tremarco) hilflos und fassungslos dabei.
Der Mord an Katie wird genutzt, um die Psyche eines Jungen zu erkunden, der von Mobbing, sozialer Isolation und gefährlichen Denkmustern offensichtlich überfordert worden ist. Allerdings ist die die Serienfamilie nicht kaputt. So einfach macht es sich „Adolescence“ nicht. Hier gibt es liebevolle Eltern, die aber die Bedürfnisse ihres Sohnes nicht richtig erkennen. Sie stellen ihm unkontrolliert einen Computer ins Zimmer. Das Internet kann jedoch brutal sein. Eltern sollten wissen, was ihre Kinder tun. Das ist eine Botschaft. Am Ende weint der Vater im Kinderzimmer und gesteht sich ein, dass Liebe und guter Wille nicht gereicht haben, um die Katastrophe zu verhindern.
„In dieser Welt existiert eine männliche Hackordnung vom schlechtesten zum stärksten Glied einer Kette der Maskulinität“
Der eigentliche Kern der Serie: „Adolescence“ versucht zu zeigen, dass im Internet-Zeitalter nicht wenige Jungs mangelndes Selbstbewusstsein mit aggressiver Maskulinität kompensieren. Diese toxische Männlichkeit kann viel Unheil anrichten.
Der britische Premierminister Keir Starmer äußerte sich schon zu der Serie und ihrem Kernthema. Viele Eltern und Menschen, die mit jungen Leuten arbeiteten, sähen, dass es ein Problem mit Jungs und jungen Männern gebe, das man angehen müsse. „Ich persönlich nehme das sehr ernst.“ Starmer sagte, er schaue die Serie mit seinem 16-jährigen Sohn und seiner 14-jährigen Tochter. Die Gewalt junger Männer – befördert durch das, was sie online aufsaugten – sei ein reales Problem. „Wir können nicht einfach mit den Schultern zucken.“ In jüngster Vergangenheit warnte auch der frühere englische Fußballnationaltrainer Gareth Southgate, viele Jungs fühlten sich isoliert und zögen sich ins Internet zurück. Dort seien sie toxischen Influencern ausgesetzt.
Tatsächlich gibt es einen international beobachteten Trend, dem zufolge viele junge Männer nach rechts neigen, konservativere Ansichten vertreten – und häufiger wütend und antifeministisch eingestellt sind. Dies zeigt auch eine Untersuchung der Hilfsorganisation Plan International aus Deutschland. Danach prägen traditionelle Rollenbilder das Bewusstsein vieler junger Männer. Ein Drittel der Befragten – für die Studie waren 1.000 junge Männer im Alter zwischen 18 und 35 befragt worden – sind nach eigenem Bekunden sogar schon mal handgreiflich gegenüber Frauen geworden, um ihnen Respekt einzuflößen.
Für die jungen Männer spielt das äußere Erscheinungsbild eine wichtige Rolle. 59 Prozent der Befragten gaben an, dass sie viel unternehmen, um einen sportlichen und muskulösen Körper zu haben. 55 Prozent erklärten, mit ihrem Äußeren und ihrem Auftreten zeigen zu wollen, dass sie „ein echter Mann“ sind. Die Geschlechterrollen: problematisch. 49 Prozent gaben an, dass es für sie wichtig sei, bei Entscheidungen in der Beziehung oder Ehe das letzte Wort zu haben. Außerdem erklärten 52 Prozent, dass es für sie wichtig sei, im Beruf genug Geld zu verdienen. Für Hausarbeit ist ihrer Ansicht nach vor allem die Frau zuständig. 39 Prozent der jungen Männer erwarten, dass ihre Partnerin die eigenen Ansprüche zurückstellt, um ihnen den Rücken freizuhalten.
In puncto Sexualität weisen die Autorinnen und Autoren der Umfrage auf eine ausgeprägte Doppelmoral hin: 50 Prozent der befragten jungen Männer möchte keine Beziehung mit einer Frau eingehen, die viele Sexualpartner hatte. Gleichzeitig reizt es 37 Prozent der jungen Männer, mit möglichst vielen Frauen zu schlafen. 34 Prozent der jungen Männer gaben an, gegenüber Frauen auch schonmal handgreiflich zu werden, um ihnen Respekt einzuflößen. Jeder dritte junge Mann nannte es akzeptabel, wenn ihm gelegentlich beim Streit mit der Partnerin die Hand ausrutscht.
Auch wenn an der Repräsentativität der Umfrage Zweifel geäußert wurden – die dargestellten Tendenzen werden von etlichen Untersuchungen bestätigt. Aus Sicht von Nicole Bögelein vom Institut für Kriminologie der Universität zu Köln sind deshalb viele Erkenntnisse wenig überraschend, wie die „tagesschau” berichtete. „Was man in Studien sieht, ist, dass auch heutzutage das biologische Geschlecht eine zentrale Einflussgröße darauf ist, wie die Geschlechterrollen gesehen werden.”
Tendenziell verhielten sich Männer deutlich rollenkonformer und versuchten, das traditionelle Männerbild zu bedienen. „Männer scheinen eher zu einem konservativen Rollenbild zu neigen und Frauen eher zu einem egalitären.“ In der Forschung sei in diesem Zusammenhang von hegemonialer Männlichkeit die Rede, sagt Bögelein. „Das ist das kulturelle Ideal, das eine Männerdominanz ausstrahlt, eine komplementäre hierarchische Arbeitsteilung und letztlich auch eine vorherrschende Heterosexualität. Also eine deutliche Orientierung dazu, dass es eben sehr traditionell sein soll, so wie das eben ‘schon immer’ war.“
In der Forschung spreche man von einer hegemonialen Männlichkeit, erläutert Nicole Bögelein weiter. Damit gehe eine Männerdominanz, eine komplementäre hierarchische Arbeitsteilung und eine vorherrschende Heterosexualität einher, betont sie.
Auch für die Soziologin Veronika Kracher, die für das Rechercheprojekt de:hate der Amadeu Antonio Stiftung arbeitet, spielt Tiktok eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung. Kracher, die sich intensiv mit Online-Radikalisierung beschäftigt, erklärt gegenüber dem Medium „ze.tt“, dass auf der „toxisch-maskulinen Seite des Internets“ immer noch das Bild des erfolgreichen, körperlich fitten und heterosexuellen Mannes vorherrsche. „Diese Art von Männlichkeit basiert auf der Abwertung des weniger Männlichen, Weiblichen und Queeren”, sagt Kracher. Dies erhöhe in dieser Logik den Status des Mannes, der sich vom Feminismus und gesellschaftlichen Fortschritt bedroht fühle.
Eine Studie der Dublin University bestätigt, dass soziale Medien wie Tiktok und YouTube Shorts gezielt Inhalte verbreiten, die antifeministische und männlich-dominierte Ideologien fördern. In einem Experiment sahen männliche Dummy-Accounts im Schnitt innerhalb der ersten 23 Minuten antifeministische oder andere extremistische Videos – egal, ob sie gezielt danach gesucht hatten. Bei 16- bis 18-Jährigen dauerte es im Schnitt nicht einmal neun Minuten, bis der Algorithmus sie entsprechend bedient hatte.
Tatsächlich gibt es Dutzende von rechtsextremen, frauenfeindlichen Influencern im Netz (Autor Sascha Lobo spricht von einem „misogynen Mob“), die offenbar das Weltbild von vielen männlichen Jugendlichen in Deutschland prägen. Ein Reporter von ze.tt unterzog sich – entsprechend dem Forschungsdesign – mit einem Fake-Account als junger Mann einem Selbstversuch. Ergebnis: „Es dauert keine halbe Stunde, bis mir eine KI-generierte Stimme vor schwarzem Hintergrund vorliest: ‚Eine Frau, die keine Anweisungen von dir annimmt, ist gefährlich. Diese Frau ist herablassend und arrogant.‘ Der Beitrag hat mehr als 14.500 Likes. Ein paar Swipes weiter sagt die nächste KI-Stimme: ‚Wenn ein Mann dich wirklich liebt, wird er dir Grenzen setzen.‘ Dazu dramatische Musik. Schon am dritten Tag bekomme ich eigentlich fast nur noch toxischen Content ausgespielt. Oft ist die Rede von Alphas und Sigmas, von vermeintlichen Tugenden wie Dominanz oder Härte. In dieser Welt existiert eine männliche Hackordnung vom schlechtesten zum stärksten Glied einer Kette der Maskulinität. Hier befinden wir uns tief in der Sprache der Incels (ein Akronym aus ‚involuntary celibates‘). Das sind unfreiwillig sexlose Hetero-Männer, die den Frauen daran die Schuld geben.“
„Ich halte es eher nicht für sinnvoll, vier Stunden einzusetzen, um Schülerinnen und Schülern eine Serie wie ‚Adolescence‘ in der Schule vorzuführen“
In Großbritannien soll „Adolescence“ an Sekundarschulen nun im Unterricht gezeigt werden, um die Schülerinnen und Schüler im Umgang mit schädlichen Einflüssen zu unterstützen und eine Diskussion über die in der Serie angesprochene Thematik anzustoßen. In Deutschland stößt die britische Vorgabe an Lehrkräfte, die Serien in mindestens vier Unterrichtsstunden zu besprechen, hingegen auf Skepsis.
Grundsätzlich gilt: „So ein Film kann ein Lern- und Trainingsort sein“, betont Thomas Köhler, Professor für Bildungstechnologie an der Technischen Universität Dresden im Gespräch mit dem WDR. Schülerinnen und Schüler könnten sich mit den Protagonisten identifizieren und dadurch Rückschlüsse auf ihr eigenes Verhalten ziehen und beurteilen, ob ihr Verhalten in einer vergleichbaren Situation in Ordnung gewesen ist oder nicht. Manche Kinder und Jugendliche fühlten sich allerdings von negativen Darstellungen angezogen. Problematisch ist es auch, so Köhler, wenn einzelne sensible Schülerinnen und Schüler durch solche Filme traumatisiert werden.
„Ich halte es eher nicht für sinnvoll, vier Stunden einzusetzen, um Schülerinnen und Schülern eine Serie wie ‚Adolescence‘ in der Schule vorzuführen“, meint Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands gegenüber BuzzFeed News. Fundamentalistische Überzeugungen von Schülern in Bezug auf beispielsweise Religion oder Sexualität würden – auch ohne „Adolescence“ – immer wieder im Kontext des Unterrichts besprochen. Bei Anzeichen extremer Einstellungen unter Schülern würden Schulen gezielt mit Projekttagen oder dem Einbezug von Experten reagieren. Die Sozialisation der Jugend sei jedoch ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. „Schulen können nicht allein alles leisten“, sagt Düll.
Allerdings: Eine gezielte Aufklärung über die in der Serie thematisierte Incel-Bewegung findet an deutschen Schulen kaum statt (und wenn, dann nur punktuell) – sagt jedenfalls Claudia Paganini, Lehrbeauftragte für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Ob und wie, dies hänge stark vom Engagement einzelner Lehrkräfte ab. Aufklärung sei aber wichtig, um bei jungen und Mädchen ein Bewusstsein für toxische Narrative im Netz zu entwickeln und ihnen beizubringen, darauf angemessen zu reagieren.
Paganini hält die Serie „Adolescence“ dafür allerdings zu intensiv und aufwühlend. Sie fürchtet eine emotionale Überforderung von Jugendlichen und eine Traumatisierung durch die intensive Darstellung des Sachverhaltes. Für ein tiefes Verständnis der Thematik braucht es der Wissenschaftlerin zufolge eine entsprechende emotionale und kognitive Reife. Eine Einbettung der Serie in den Unterricht hält die Expertin, wenn überhaupt, deshalb erst ab 16 Jahren für sinnvoll. News4teachers / mit Material der dpa
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Title: “Adolescence”: Warum das Thema toxische Männlichkeit in den Unterricht gehört – die Serie selbst aber eher nicht
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Date: April 27, 2025 at 12:11PM
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