Allmächtig? Alte Zweifel und neue Überlegungen zum kirchlichen Lehrsatz der Omnipotenz Gottes

Horst Heller
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Darf ein evangelischer Theologe hinter die Allmacht Gottes ein Fragezeichen setzen? Beginnt doch das Apostolische Glaubensbekenntnis mit dem Satz: „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen.“

Die Zweifel an diesem Lehrsatz der Alten Kirche sind aber nicht neu. Besonders engagiert wurden sie vor 180 Jahren vorgetragen. Ludwig Feuerbach, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, stellte in seinem Buch Das Wesen des Christentums (1841) die These auf, dass alle Eigenschaften, die wir Gott zusprechen, eigentlich zum Menschen gehören. Der Mensch macht sich dadurch aber klein unglücklich, meinte Feuerbach. Dabei sehnt er sich doch nach Glück und Vollkommenheit. Er erschafft sich ein transzendentes Wesen, das unendlich, liebevoll, souverän und gütig ist. Dieses Wesen nennt er Gott.

Feuerbachs Kritik am Christentum benennt einen theologischen Denkfehler

Feuerbach hat den Finger in eine Wunde der Geschichte des Christentums gelegt. Ich kenne niemanden, der Theologie treibt und das bestreitet. Auch ich nehme Feuerbachs Anfrage ernst. Sie überzeugt mich.

Dennoch bin ich kein Atheist geworden. Wenn ich einen Menschen über Jahre für meinen Freund gehalten habe und nun feststelle, dass ich mich gründlich in ihm getäuscht habe, dass kein einziger Charakterzug, den ich an ihm zu erkennen glaubte, zu ihm gehören, wenn sich also meine Sicht auf ihn als ein großer Irrtum erweist und diese Person für mich somit unbekannt und fremd wird ist und mich nicht mehr interessiert – dann heißt das aber nicht, dass diese Person nicht existiert.

Gehört auch die Allmacht Gottes zu den Attributen Gottes, die in der Küche menschlicher Sehnsüchte gekocht worden sind? Auf der Suche nach einer Antwort nahm ich mir als protestantischer Theologe mehrere deutsche Bibelübersetzungen vor. Das Resultat meiner Nachforschungen gab mir zu denken. Allmacht ist kein zentraler biblischer Begriff. Im Alten Testament findet sich das Wort überwiegend im Buch Hiob. Der Protagonist, ein frommer Mann, quält sich mit der Frage, warum Gott sein Leiden nicht beendet. Im Neuen Testament suchte ich fast vergeblich nach Sätzen, die von der Allmacht Gottes sprechen, und wurde erst im letzten Buch der Bibel fündig. Im Buch der Apokalypse des Johannes fürchtet sich die christliche Gemeinde vor schwersten Verfolgungen. Nur der Allmächtige, so glaubt sie, kann sie retten.

„Nur der allmächtige Gott kann den Menschen retten.“ Stimmt das überhaupt?

Dann stieß ich auf ein Buch meines Kollegen Michael Deckwerth. Darin untersuchte er ein Gedicht, das der Apostel Paulus im Brief an die Philipper zitiert, den sogenannten Christushymnus. Eine Paraphrase:

Jesus Christus, der für sich hätte beanspruchen können, wie Gott zu sein, verzichtete darauf, göttlich zu sein. Er wurde ganz und gar Mensch und nahm die Rolle eines Dieners an. Er starb in Solidarität mit dem Menschen. Deshalb hat Gott ihn erhöht und sich mit ihm identifiziert. Er hat ihm seinen eigenen heiligen Namen gegeben. (nach Phil 2,6-11, Originaltext)

Traditionell wird diese Stelle aus dem Blickwinkel des Trinitätsdogmas gelesen. Dann ist das Wesen Gottes aber widersprüchlich: Im Himmel wohnt der Vatergott, der nicht Mensch geworden ist. Er ist menschenfern und allmächtig. An seiner Seite sitzt der Auferstandene, der den Tod am Kreuz erlitten hat. Nur er repräsentiert die Seite Gottes, die dem Menschen zugewandt ist. Diese Auslegung übersieht einen wichtigen Satz des Gedichts, das Paulus zitiert: Jesus trägt im Himmel einen neuen Namen.

Darum hat ihm Gott Jesus den Namen verliehen, der hoch über allen Namen steht.

Welchen Namen hat Gott Jesus Christus verliehen? Es ist der unaussprechliche Name Gottes. Im hebräischen Alten Testament wird er mit den vier Buchstaben JHWH geschrieben, aber nicht gesprochen. In der griechischen Bibel wird er mit Kyrios (Herr) übersetzt. Martin Luther gibt ihn mit HERR wieder.

Der heilige Name Gottes geht nun auf den über, der am Kreuz den Tod eines Sklaven gestorben ist. Abgründe des Menschlichen sind somit nicht nur ein Teil der Geschichte Jesu, sondern auch Gottes. Damit hat nicht nur Jesus, sondern auch Gott jede Allmacht abgelegt.

Wir können von der Freiheit des Menschen reden und zugleich mit Gottes Gegenwart rechnen

Sind das theologische Spitzfindigkeiten? Ich glaube nicht. Ich bin überzeugt, dass der Glaube an die Allmacht Gottes kein glücklicher Teil der christlichen Theologiegeschichte ist. Biblisch steht diese Vorstellung auf schwachen Beinen, wie wir gesehen haben. Feuerbach hat sie als Ausdruck einer menschlichen Sehnsucht durchschaut.

Ich denke in diesem Zusammenhang an einen Brief Dietrich Bonhoeffers aus dem Gefängnis. Am 5. Mai 1944 schrieb er an seinen Freund Eberhard Bethge:

Ich denke augenblicklich darüber nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung weltlich […] zu interpretieren sind.

Er vermutete, dass diese neue Sicht auf Gott einen weitergehenden und grundlegenden theologischen Wandel erfordere. Das könnte Thema eines weiteren Blogbeitrags sein. Für diesmal genügt es zu verstehen, dass wir uns nun weniger mit der Theodizee-Frage Hiobs quälen müssen. Wir können nun von der Freiheit des Menschen reden und zugleich mit Gottes Gegenwart rechnen. Auch kommt uns Gott als Leidender näher als in der Gestalt eines vermeintlich Allmächtigen. Um noch einmal aus einem Brief Bonhoeffers an Bethge (16.7.1944) zu zitieren:

Nur der leidende Gott kann helfen.

Gern wüsste ich, was Ludwig Feuerbach zu dieser anderen Gottesvorstellung gesagt hätte.

Literatur und Link
Michael Deckwerth, Kenosis, Das Christusbekenntnis im Philipperbrief (Phil 2,5–11), Berlin 2024
Walter Dietrich, Allmacht Gottes. http://www.bibelwissenschaft.de

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Date: September 21, 2024 at 08:49AM
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