Aufbruch der Kirche in die Welt? Zum Beginn des zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren

Aufbruch der Kirche in die Welt? Zum Beginn des zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren

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Prof. Dr. Thomas Großbölting

Als am 11. Oktober 1962 Bischöfe und Kardinäle zum Zweiten Vatikanischen Konzil zusammenkamen, hielt die katholische Welt den Atem an: Die allgemeine Kirchenversammlung war mit Spannung erwartet worden. Weltweit verfolgten Millionen am Radio und an TV-Geräten, wie die Konzilsväter mit allem Pomp, den das Katholische zu bieten hat, in den Petersdom einzogen. Die Dekrete, die das Konzil im Verlauf der folgenden drei Jahre besprach und veröffentlichte, wurden in den Kreisen der kirchlichen „Professionals“ eifrig diskutiert.

Damals kamen etwa 2.540 stimmberechtigte Bischöfe und Kardinäle zusammen, um mit und unter dem Papst die höchste Lehr- und Gesetzgebungsvollmacht auszuüben. Zu einer „Sternstunde“ des Konzils, in der sich eine neue Offenheit in der Arbeitsweise und im Verfahren selbst realisierte, avancierte insbesondere die erste Sitzungsperiode. Bereits in der Eröffnungszeremonie hatte sich Papst Johannes XXIII. in verschiedenen Gesten bewusst vom Traditionalismus und der absolutistischen Auffassung des Papstamtes abgesetzt, die damals noch vorherrschend waren.

Aggiornamento

Die inhaltliche Richtung hatte der einberufende Papst vorgegeben: Mit dem Anspruch auf ein Aggiornamento, eine „Verheutigung“ der Kirche, hatte Papst Johannes XXIII. das kirchliche Großereignis angekündigt und seine Intention zugleich in ein eingängiges Bild gekleidet: Es gelte die Fenster aufzureißen und frische Luft in das Innere der Kirche hineinzulassen. Ziel war ein theologischer Disput über „die Kirche in der Welt von heute“.

Diese Richtungsbestimmung war deshalb so spektakulär, weil sie umzudrehen versprach, was die Kirche seit 150 Jahren geprägt hatte: Seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1960er Jahre hatte die katholische Kirche sich dogmatisch und kirchenpolitisch mit durchaus modernen Mitteln gegen die Moderne positioniert – auch gegen die Freiheits- und Menschenrechte.

In vielen dieser Punkte definierte das Vatikanum zentrale Punkte des katholischen Selbstverständnisses neu: So leitete man mit der Selbstdefinition der Kirche als „Volk Gottes“ einen einschneidenden Wandel in der kirchlichen Selbstbeschreibung ein, löste man sich doch in der Konzilskonstitution Lumen gentium, aber auch in anderen zentralen Texten von einem hierarchischen und allein auf die Institution abhebenden Verständnis. Zugang zum göttlichen Mysterium, so definierte das Konzil, habe die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Mit dieser Neuorientierung wurden Ortskirchen gegenüber der römischen Zentrale ebenso gestärkt wie die Laien gegenüber den Klerikern. Es betonte die individuelle Glaubensentscheidung.

Die Stellung der Kirche zur Welt versuchte die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes neu zu definieren. Bislang hatte das kirchliche Lehramt auf der Grundlage einer strikten Trennung von Kirche und Welt argumentiert und vor allem versucht, das Säkulare aus dem religiösen Bereich möglichst auszuklammern. Das Vatikanum änderte die Blickrichtung grundlegend: Die Kirche solle sich in der Welt von heute den geschichtlichen Herausforderungen stellen. Ihr Engagement könne sich nicht auf abstrakte zeitlose Formeln beschränken, sondern müsse sich im Dialog realisieren.

Durch diese offene Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt wurde zum einen die Stellung des einzelnen Christen aufgewertet wie auch die Stellung zu den Nichtkatholiken neu definiert. „Durch die Treue zum Gewissen“ seien die Christen mit den übrigen Menschen verbunden „im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen“. Das schloss nicht nur einen Dialog mit Andersgläubigen, sondern auch mit Andersdenken, beispielsweise auch mit den Marxisten, ausdrücklich mit ein.

In eine ähnliche Richtung zielte die grundsätzliche Anerkennung und Befürwortung der Religions- und Gewissensfreiheit in dem Dekret Dignitatis Humanae. Damit zog man in politischer Hinsicht einen Schlussstrich unter den ein Jahrhundert vorher im Syllabus Errorum festgeschriebenen Abwehrkampf gegen Demokratie und Liberalismus und erkannte die Autonomie des Politischen wie auch den Meinungspluralismus an. Insbesondere in diesem Punkt ist die Anpassung der Kirche an Pluralisierungs- und Demokratisierungsprozesse deutlich zu erkennen. Die Kirche definierte sich nicht mehr als Instanz neben oder gar über dem Staat, sondern als ein Faktor im weltanschaulichen Pluralismus.

Im Offenbarungsdekret Dei Verbum vollzog man einen theologischen Paradigmenwechsel, der auch für die Pastoral eine große Bedeutung hatte. Weitreichende, da für jeden kirchengebundenen Katholiken unmittelbar spürbare Auswirkungen fanden diese und andere Neuorientierungen in der Liturgiereform. Mit der Konstitution Sacrosanctum Concilium wurde der Weg dafür freigemacht, Latein als Messsprache durch die jeweilige Landessprache zu ersetzen. In Deutschland fiel damit ein wesentlicher Unterschied zu den seit Luther in der Muttersprache Gottesdienst feiernden Protestanten. Der Altar rückte in das Zentrum des Kirchenschiffs, der Priester zelebrierte die Wandlung nicht mehr vor und mit dem Rücken zur, sondern in und mit der Gemeinde.

Fortbestehen widerstreitender Positionen

Mit der Größe der Aufgabe, die sich das Konzil gesteckt hatte, verband sich ein Grundproblem, welches die spätere Rezeption erschwerte. Dafür war nicht nur die Komplexität der Probleme verantwortlich, derer man sich annahm. Zusätzlich waren die zentralen Erklärungen, die Konzilskonstitutionen, von dem Versuch geprägt, die internen Spannungen zwischen den unterschiedlichen Lagern der Konzilsväter nicht eskalieren zu lassen.

Nachdem Johannes XXIII. im Sommer 1963 gestorben war, beendete Paul VI. das Konzil am 8. Dezember 1965. Der Streit um die richtige Deutung der Konzilstexte und den „Geist des Konzils“ prägte die Jahre seit Abschluss der kirchlichen Generalversammlung ganz wesentlich. Den Reformbefürwortern erschien das Zweite Vatikanum als ein wichtiger, wenn auch verspäteter Schritt der Kirche, sich mit der Moderne zu versöhnen. Einer der schärfsten Konzilskritiker, der später vom Papst suspendierte Erzbischof Marcel Lefebvre, geißelte das Konzil als einen Irrweg.

Rezeption und Folgen

Blickt man auf die Amts- und Würdenträger in der katholischen Kirche, aber auch eine Reihe von prominenten Theologen wie beispielsweise Joseph Ratzinger, dann beobachtet man in vielen Fällen einen raschen Umschwung: Hatte man zunächst große Hoffnungen, dass das Vatikanum das Kirchenleben zu neuer Blüte brächte, überwog schon bald eine ausgeprägte Skepsis.

Ursache dieses Stimmungswandels war die akute Kirchenkrise, die sich dem Konzil anschloss und sich mit dem Schlagwort „1968“ verband: Die Konzilsrezeption geriet in den Sog einer gesamtgesellschaftlichen Informalisierungs- und Liberalisierungsbewegung. Obwohl das Konzil aus der Sicht der Theologen und Kirchenfunktionäre eine behutsame und homogene Weiterentwicklung kirchlicher Traditionen ermöglichen wollte, habe der Übereifer so mancher Reform die Gläubigen verunsichert, sodass es zum Auszug vieler Gläubiger aus der Kirche gekommen sei, so ein von konservativer Seite gelegentlich gemachter Vorwurf gegen das Konzil. Von progressiver Seite wird das Gegenteil vermerkt: Weil man nicht weit genug mit Reformen gekommen sei, habe man den Austrittstrend nicht stoppen können.

Betrachtet man aber die Zahlen zur organisierten Kirchlichkeit genauer, dann sticht schnell ins Auge, dass ein solcher Zusammenhang gar nicht existiert: Fast unabhängig vom Konzilsgeschehen setzte sich in den 1960er Jahren der Prozess der Entkirchlichung fort, der sich in den 1950er Jahre bereits entwickelt hatte. So gilt, dass das Konzil diesen Prozess nicht befördert hat, es umgekehrt aber auch den Erosionsprozess von Kirchlichkeit nicht hat stoppen können.

Der vorstehende Text ist eine gekürzte Fassung. Der Gesamttext ist in https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/home abrufbar.


Prof. Dr. Thomas Großbölting

Prof. Dr. Thomas Großbölting ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professor für Zeitgeschichte an der dortigen Universität. Vorher hat er unter anderem geforscht und gelehrt in Münster, Magdeburg, Berlin und Toronto.

Jüngste Veröffentlichungen:
Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Freiburg 2022.
Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1990, Bonn 2021.

Religion

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October 26, 2022 at 01:27PM