Vortrag im Rahmen des Erasmusprogramms, Paris 28.6.2023
Vielen Dank für die Einladung, mit Ihnen gemeinsamen über den Beitrag des Christentums, näherhin der katholischen Kirche, zu Demokratie und Demokratisierung heute nachzudenken. Ich schlage Ihnen drei Schritte auf unserem Denkweg vor:
1. In einem ersten Schritt befasse ich mich mit einer ererbten Demokratieskepsis der katholischen Kirche.
2. In einem Intermezzo frage ich, ob die Abwehr einer Demokratisierung der Kirche im Rahmen des Synodalen Weges der katholischen Weltkirche den gefährdeten Demokratien nicht schadet.
3. Im Hauptteil will ich zeigen, dass das Christentum wahre Himmelsgeschenke für die gefährdeten Demokratien von heute besitzt.
I. Katholische Demokratieskepsis
1. Im Jahre 1864 veröffentlichte Pius IX. den Syllabus errorum. Mit diesem Schreiben positionierte sich die katholische Kirche in der neuzeitlichen Europäischen Freiheitsgeschichte. Diese setzte mit der Bill of Rights (1689) in England ein. Hundert Jahre später (1789) wurde in Paris neben fraternité und egalité die liberté gefordert. 1848 folgten weitere Freiheitsrevolutionen. Alle diese Freiheitsrevolutionen kämpften für eine Ende des Absolutismus. An seine Stelle sollten liberale Demokatien treten. Diese Entwicklung zählte Pius IX und mit ihm die katholische Kirche zu den großen Irrtümer der Zeit. Der Römische Pontifex werde sich damit nie und nimmer anfreunden. Der aufstrebende Liberalismus und mit ihm zentrale demokratische Freiheiten wie Meinungs- oder Religionsfreiheit landeten auf der Liste der Irrtümer. Wörtlich heißt es:
„§ X. Irrtümer, die den heutigen Liberalismus betreffen:
77. In unserer Zeit geht es nicht mehr an, die katholische Religion als einzige Religion eines Staatswesens anzuerkennen, unter Ausschluss aller übrigen Arten von Gottesverehrung).
78. Daher ist es lobenswert, wenn in gewissen katholischen Ländern gesetzlich vorgesehen wird, dass die Einwanderer öffentlich ihre eigene Religion, welcher Art sie auch sei, ausüben dürfen.
79. Denn es ist falsch, dass die bürgerliche Religionsfreiheit sowie die volle, für alle gewährleistete Befugnis, frei und offen irgendwelche Meinungen und Gedanken kundzutun, leicht dazu führe, Geist und Sitte der Völker zu verderben und die Seuche der Gleichgültigkeit zu verbreiten .“
80. Der Römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der neuen Menschheitsbildung versöhnen und befreunden.“
Die europäische Freiheitsgeschichte verlief nach dem Syllabus turbulent weiter. Zwei Totalitarismen und zwei Weltkriege haben sie blutig unterbrochen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde im Westen Europas die demokratische Entwicklung wieder fortgesetzt. Die studentische Kulturrevolution von 1968 brachte eine Beschleunigung der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. In dieser Zeit kam es auch zur Wende in der Haltung der katholischen Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den Dekreten über die Offenbarung (Dei Verbum) und die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae). Das „Nie-und-nimmer“ von Pius IX hielt gerade 100 Jahre. 1989 fiel die Mauer in Berlin. Auch im Osten Europas kam es zu einer Demokratisierung – ein Prozess, der noch keineswegs abgeschlossen ist. In jüngster Zeit kam es zu Gegenbewegungen: Im Westen nahm die Zahl zumal junger Leute zu, welche die lästige Last der Freiheit wieder loswerden wollen. Auch entwickelte sich eine Bewegung, den Grad der Liberalität in den Demokratien zu verringern.
2. Kehren wir noch einmal zum Syllabus zurück und stellen die Frage, warum die katholische Kirche die modernen Freiheitsbewegungen derart hart abgelehnt hat. Zwei Gründe bewogen die Kirche damals zu dieser Ablehnung der liberalen Freiheitsidee.
- Der eine ist ideologisch, hat mit der Sorge um „die Wahrheit“ zu tun. Es ist jene Sorge, die Papst Benedikt XVI. 150 Jahre später von einer „Diktatur des Relativismus“ warnen ließ. Über Wahrheit und sittliche Normen lasse sich letztlich nicht demokratisch verhandeln, so die Position der damaligen Kirchenleitung.
- Der andere Grund ist pragmatisch: Die Kirche war eine Stütze der absolutistischen Herrscherhäuser Dieses erwies sich der Kirche gegenüber als dankbar. Die Monarchen privilegierte die Kirche und unterstützte sie finanziell. In den Augen der Liberalen machte das die Kirche zu einem Komplizen des Absolutismus und damit zu einem Hindernis auf dem Weg zur Demokratie. Zusammen mit dem Ruf nach liberté ertönte in Paris 1789 daher auch folgerichtig das Voltaire‘sche „Ecrasez l’infame!“, löscht aus die infame (katholische) Kirche. Mit dem Syllabus wehrte sich somit die Kirche auch gegen ihre Bedrohung ihrer Existenz. Das hat sie noch mehr an absolutistische Monarchien gebunden.
3. Diese zwei Aspekte spielen bis heute eine Rolle, und das nicht nur in der katholischen Kirche. Der Moskauer Patriarch Kyrill I. weiß sich eng mit der politischen Führung Russlands verbunden. Der russische Staat baut für diese Unterstützung Kirchen, finanziert die ROC mit. Durch die immer wieder angekündigte Vernichtung der Ukraine macht der Staat dem Patrairchen Hoffnung, das verlorene kanonische Territorium samt dem Gründungskloster Lavra in Kiew wieder zu erhalten. Zugleich führt Kyrill einen metaphysischen Kampf gegen das Böse. Er kämpft für das Gute, das Wertvolle, die Werte. Ihn irritiert besonders die westliche Haltung zur Homosexualität. Kyrill sagte in einer Predigt:
„Seit acht Jahren … gibt es … eine grundsätzliche Ablehnung der so genannten Werte, die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht beanspruchen.
Heute gibt es einen Test der Loyalität gegenüber dieser Macht, eine Art Passierschein für diese „glückliche“ Welt, eine Welt des übermäßigen Konsums, eine Welt der scheinbaren „Freiheit“.
Wissen Sie, was das für ein Test ist? Der Test ist sehr einfach und gleichzeitig erschreckend – es handelt sich um eine Gay Pride Parade. Die Forderung vieler, eine Gay Pride Parade zu veranstalten, ist ein Test der Loyalität zu dieser sehr mächtigen Welt; und wir wissen, dass Menschen oder Länder, die diese Forderungen ablehnen, nicht Teil dieser Welt sind, sie werden zu Fremden in dieser Welt… Das heißt, wir befinden uns in einem Kampf, der nicht physisch, sondern metaphysisch ist.“ (Predigt Kyrill I., 6.3.2022)
Ich zeige dies am Beispiel Ungarns. Viktor Orban strebt seinen eigenen Worten gemäß eine „illiberale Demokratie“ an. In einer Grundsatzrede am 26.7.2014 in Băile Tușnad (Tusnádfürdő) begründete er dieses Anliegen so: „Von den ungarischen führenden Politikern erwarten die ungarischen Bürger, dass sie jene neue Organisation des Staates finden, schmieden, ausarbeiten, die nach der Ära des liberalen Staates und der liberalen Demokratie die ungarische Gemeinschaft – natürlich unter Respektierung der Werte des Christentums, der Freiheit und der Menschenrechte – wieder wettbewerbsfähig macht… Die ungarische Nation ist nicht eine schiere Anhäufung von Individuen, sondern eine Gemeinschaft, die organisiert, gestärkt und aufgebaut werden muss. In diesem Sinn ist der neue Staat, den wir in Ungarn aufbauen, ein illiberaler Staat, kein liberaler Staat.“[1] Teile der Kirchen in Ungarn geben ihm dabei Unterstützung. Wieder ist es nicht nur die finanzielle Zuwendung, welche die Ungarischen Kirchen vom Staat erhält. Die Kirchen schätzen es auch, dass sich Orban für christliche Werte einsetzt: er kämpft für die Familie und gegen die Gender-Ideologie.
Es war die Absicht der bisherigen Überlegungen, auf eine tiefsitzende Demokratieskepsis, ja manchmal sogar Demokratiefeindlichkeit in Teilen der katholischen oder der orthodoxen christlichen Kirche aufmerksam zu machen. Auch in den evangelikalen Teilen der Kirchen der Reformation ist diese Skepsis gegenüber der Demokatie stark ausgeprägt. Donald Trump verdankt dieser Haltung in vielen Freikirchen seine Wahl und möglicherweise seine Wiederwahl.
Diese Demokratieskepsis hindert mich daran, ihnen mit Begeisterung zu erklären, was das Christentumzur Demokratieförderung beitragen kann.
II. Intermezzo
Mich ermutigt auch bei unserem Thema auch Papst Franziskus nicht wirklich. Dieser weist zwar zu Recht unentwegt darauf hin, dass die Kirche keine Demokratie ist. Theologisch ist das auch klar: Die Kirche ist als Volk Gottesstreng genommen eine Theokratie. Sie erfindet sich nicht selbst. Sie ist nicht, wie marxistische Theoretiker gern sagten, eine Ansammlung von religiös Süchtigen, die durch das Opium der Religion in ihrer miserablen Lage ruhiggestellt werden. Ist Gott der Herr seiner Kirche, dann ist diese menschlich besehen eine gut organisierte Anarchie, weil sie keine Herrschaft von Menschen über Menschen im Volk Gottes zulässt. Dennoch sollte es, so der Politologe Hans Maier aus München, in den Abläufen der Kirche durchaus Elemente und Verfahrensregeln geben, die sich in Demokratien bewährt haben: Gewaltenteilung, Gerichtsbarkeit, geordnete Formen der Beteiligung aller wären Beispiele dafür. Ist also die plakative Warnung vor einer Demokratierung der Kirche wirklich nötig? Oder schwächt gar Papst Franziskus durch seine wiederholten Äußerungen gegen eine „Demokratisierung der Kirche“ die ohnedies bedrängten Demokratien in der Welt in unnötiger Weise?
III. Himmelgeschenke an die gefährdeten Demokratien
Nach diesen Anmerkungen komme ich zum Beitrag, den Religionen, den die katholische Kirche zur Demokratisierung leisten kann. Ich nnene diese Beiträge theologisch „Himmelsgeschenke“. Das hat mit der Aufgabe einer christlichen Kirche in der Welt von heute zu tun.
Aufgabe der Kirche ist es, die von Jesus initiierte Reich-Gottes-Bewegung die endzeitliche Phase der Geschichte hindurch lebendig zu halten. Der noch ausstehende Himmel soll jetzt schon auf die Erde kommen, so Jesus. In Spuren wenigstens, füge ich demütig und realistisch hinzu. Die Präfation des Christkönigsfestes, auf die auch in Lumen gentium 32[2] verwiesen wird, charakterisiert das Reich Gottes als ein „Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“.
So soll nun im Hauptteil meiner Überlegungen darüber meditiert und reflektiert werden, welche konkreten Himmelsgeschenke die Kirche der taumelnden Welt und darin den gefährdeten Demokratien machen kann. Sie betreffen weniger die demokratische Tagespolitik, sondern die Grundlagen der Demokratien. Der deutsche Theoretiker Ernst Wolfgang Böckenförde formulierte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“[3]
Drei Himmelsgeschenke greife ich im Folgenden heraus, die für das Leben und Überleben von Demokratien heute bedeutend sind.
Einheit – Mitwelt – die Eine Welt
Ein erstes Himmelsgeschenk ist das Wissen um eine tiefe Einheit des Seins, damit der Welt und darin der Menschheit. Seit Aristoteles steht dafür die Vorstellung von einer Kette des Sein („Chain of Being“). Später wurde sie vom mittelalterlichen Franziskanertheologen Bonaventura aufgegriffen. Heute steht der Vertreter der Integralen Theorie Ken Wilber dafür. Die Kette des Seins reicht von der Materie bis zu Gott. Das Bild von der Kette des Seins steht für eine tiefe Einheit von allem, was ist.
Dieses Wissen um die Einheit allen Seins hat weitreichende Folgen. In Zeiten des Klimanotstandes erinnert es beispielsweise daran, dass die wir nicht in einer grenzenlos ausbeutbaren Umwelt leben, sondern die Menschen auf Gedeih und Verderb in eine Mitwelt eingewoben sind. Eine Wirtschaft, die dieses Wissen um die Eine Welt nicht beachtet, nicht nachhaltig, sondern auf rücksichtsloses Wachstum aus ist und die enorme soziale Spannungen verursacht, zerstört nicht nur die Natur, sondern gefährdet letztlich auch die Demokratien. Deren Chancen wachsen, wenn Ökonomie, Ökologie und Soziales verwoben werden, wenn also eine ökosoziale Gemeinwohlwirtschaft gelingt. Diese Verwebung von Ökonomie, Ökologie und Sozialem ist der rote Faden in der Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus. Auch in Querida Amazonia, welche Laudato si praktisch anwendet, ist davon die Rede.
Würde und Gleichheit
Ein zweites Himmelsgeschenk sind Würde und Gleichheit Menschen. Theologisch formuliert: Die Gottunmittelbarkeit aller Menschen ist die Grundlage einer unantastbaren Würde jeder Person. Das Zweite Vatikanische Konzil hat dieses gläubige Wissen mit Blick auf die Kirche so formuliert: „Auf Grund der Wiedergeburt in Jesus Christus herrscht unter allen Gläubigen eine fundamentale Gleichheit an Würde und Berufung.“ Was aber von den Mitgliedern der Kirche gilt, trifft auf alle Menschen zu. So können wir in profaner Sprache formulieren: „Unter allen Bürgerinnen und Bürgern jeder Gesellschaft herrscht eine fundamentale Gleichheit an Würde.“ Alle sind in dieser Hinsicht gleich. Würde geht daher mit Gleichheit einher. Diese zählt zu den Grundlagen jeder Demokratie. „Vor dem Gesetz sind alle gleich“, so lautet es in Verfassungen. Es ist die Egalité der Französischen Revolution.
Gleichheit heißt: Jedes Leben ist von der Wiege bis zum Grab unantastbar. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen, egal welchen. Zudem bedeutet Gleichheit die Absage an die menschheitsalten Diskriminierungen. Wieder in der Sprache der Bibel: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen, denn eins geworden seid ihr alle in Christus.“ (Gal 3,28) Demokratisierung bedeutet daher den Versuch, alle ererbten Diskriminierungen abzubauen: die rassistische Diskriminierung zwischen Völkern, die ökonomistische zwischen Reichen und Armen, die sexistische zwischen der Vielzahl von sexuellen Ausprägungen, unter denen jene zwischen Mann und Frau eine dominante, aber nicht die einzige ist.
In der unantastbaren Würde der Person gründet die Freiheit jedes Menschen. Demokratisierung war von allem Anfang an der Versuch, Selbstbestimmung und Beteiligung auszuweiten. Alle überkommenen Repressionen, so die studentische Freiheitsrevolution der 68erjahre, galt es zu überwinden. Willi Brandt formulierte daher das Programm „Mehr Demokratie wagen!“ Anliegen waren, die „Wahlmöglichkeiten“ der Menschen auszuweiten. „Choice“, so Peter L. Berger, gehört zum Wesen demokratischer Kulturen. Man kann inzwischen, so Berger, alles wählen, nur nicht, ob man wählen will. Wählbar sind Lebensdeutung und Lebensführung, also die Religion, die Art und Dauer einer Partnerschaft, die Sexualkultur, der ökologische Fußabdruck.
Solidarität und Freiheit in Balance
Freiheit bedeutet Individualität, ist aber, dank der Einheit im Sein, nie Individualismus. Das hat enorme praktische Auswirkungen.
Am Beginn des 19. Jahrhunderts hielt der Dominikaner Jean B. Lacordaire in Notre Dame zu Paris eine sozialpolitisch brisante Predigt. Angesichts der erweiterten Freiheitsgrade der Fabriksbesitzer in England formulierte er: „Man muss der Freiheit immer Gerechtigkeit abringen!“ Auch das ist ein Himmelsgeschenk an die gefährdeten Demokratien. Wenn diese nur Freiheit fördern, aber nicht die Gerechtigkeit, wenn sie also die Armut nicht bekämpfen, sammelt sich sozialer Dynamik und zerstört die Demokratien von innen. Dieses Abringen von Gerechtigkeit kann auf verschiedene Weise geschehen.
- Es kann freiheitlich erfolgen. Dazu haben sich im Lauf der Zeit sozialdemokratische Bewegungen gebildet.
- Aber nicht alle trauten dem demokratischen Überwinden von Armut und Ungerechtigkeit. Marx und Engels haben sich für den gewaltsam-revolutionären Weg entschieden.
Die christlichen Kirchen versuchten auf Grund ihres Menschenbildes ständig zwischen den modernen Freiheits- und Gerechtigkeitsbewegungen zu vermitteln. Sie schlugen den christlich-sozialen Mittelweg vor. Dieser Weg findet heute bei Vordenkern Beachtung, welche die Freiheit des Marktes mit den Erfordernissen sozialer Gerechtigkeit verbinden. Sie sehen in einer ökosozialen Marktwirtschaft, welche auch die Ökologie nicht übersieht, eine gute Grundlage für eine ebenso liberale wie soziale Demokratie.
Mit der Angst leben
Interdisziplinäre Analysen machen darauf aufmerksam, dass in den Bevölkerungen sowohl Solidarität wie Freiheit als hohe Werte gesehen werden. Ihre Realisierung gelingt aber oftmals weder im privaten wie im politischen Handeln. Dies erinnert an den Apostel Paulus, der einmal klagte: „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will… Ich unglücklicher Mensch!“ (Röm 7,19.24)
Für dieser Unfähigkeit, Werte auch privat wie politisch zu realisieren und in die Tat umzusetzen, machen viele Experten eine sich ausbreitende Angst verantwortlich. Die Tiefenpsychologin Monika Renz nimmt an, dass sich schon beim Erwachen des dualen Bewusstsein eine tiefsitzende Urangst ausbildet. Diese Urangst habe zwei Dimension: eine Angst vor einem Zuviel, was auf das erwachende Menschenwesen eindringt, und eine Angst vor einem Zuwenig, was zum Überleben nach der Geburt und damit dem Ende der mütterlichen Versorgung gebraucht wird. Die Urangst ist damit die Angst vor dem Endlichkeit und wie diese gemeistert werden kann. Diese Angst vor dem Zuviel und dem Zuwenig kann jederzeit neue Kleider finden. In der Flüchtlingszeit waren jene, die zu uns strömten, für viele zu viel. Und viele hatten Sorge, dass für uns zu wenig bleibt, wenn so viele in den Arbeitsmarkt oder in den Sozialstaat einwandern.
Bleibt diese Urangst dominant, so Renz, dann beginnen Menschen und Völker sich gegen sie zu verteidigen: privat durch Gewalt, Gier und Lüge und politisch durch Krieg, Ausbeutung und Korruption. Ruth Wodak beobachtete, dass diese tiefsitzende und stets neu aktualisierte Angst Fundamentalisten religiös und Populisten politisch missbrauchen, um Demokratien der Liberalität zu berauben. Angst fördert die Anhänglichkeit an Führer und de-demokratisiert. Angst raubt Freiheit; Angst entsolidarisiert. Angst ist damit ein Urfeind der Demokratie. Daher konnte Franklin T. Roosevelt schon 1933 formulieren: „The only thing we have to fear is fear itself”.
Monika Renz, die nicht nur Tiefenpsychologin, sondern auch Theologin ist, sieht in der Urangst das, was die theologische Tradition Erbschuld nennt. Ihre Analyse zeigt, dass „diese in uns wohnende Sünde“ (Röm 7,17) böse macht. Sie stimmt damit auch dem deutschen Priesterpsychologen Eugen Drewermann zu.
Damit komme ich zu einem der bedeutendsten Himmelsgeschenke, die Religionen, zumal die christlichen Kirchen, den Demokratien machen können. Sie helfen nicht nur die Angst zu verstehen, sondern tragen dazu bei, in der Angst zu bestehen. Das geschieht, wenn die Religionen (wie schon der Begriff re-ligare/re-ligere andeutet) die Verängstigten Menschen zurückbinden in die Quelle des Urvertrauens. Religionen können so der taumelnden Welt und den gefährdeten Demokratien einen unverbrauchten Quell der Hoffnung erschließen und der Angst jene dämonische Macht nehmen, die Freiheit und Solidarität zerstören. Im Hoffnungsfeld des Vertrauens braucht niemand vor der Freiheit zu flüchten. Auch kann Angst nicht mehr entsolidarisieren.
Gewalt in Liebe verwandeln
Papst Pius IX. hatte die Sorge, dass der Liberalismus und mit ihm die liberale Demokratie in ihrer damaligen Gestalt und ihrem Auftreten es der Kirche unmöglich macht, das durchzusetzen, was sie für wahr hält. Wahrheit und Freiheit würden einander ausschließen. Inzwischen aber hat sich das Verhältnis der Kirche zur Wahrheit gewandelt. Dazu hat ein Wandel im theologischen Verständnis von Wahrheit beigetragen. Das Dekret des Konzil über die Offenbarung (Dei Verbum) hat den Buch-Begriff der Wahrheit personalisiert. In Dei Verbum, dem Dekret über die Offenbarung, ist Wahrheit der liebende Gott, der dem Menschen und der ganzen Welt sich gewaltlos übereignet. Diese personalisierte Wahrheit verträgt sich mit der gläubigen Gottanhänglichkeit freier Menschen. Diese Wahrheit, welche letztlich der liebende Gott ist, setzt sich auch nicht autoritär durch, sondern in der ohnmächtigen Freiheit der Liebe.
Nun ist aber die Kirche an den Handlungsstil Gottes gebunden ist. Sie bevormundet daher nicht mehr, engagiert sich aber dennoch. Sie setzt ihre Ideale auch nicht einer politischen Partei durch, bleibt aber dennoch politisch parteilich. Sie bedient sich für die Durchsetzung nicht staatlicher Gewalt, sondern dient durch gewaltfreie Inspiration. Dazu bedient sie sich auch der vielfältigen Mittel der politischen Bildung und einer in ständiger Entwicklung befindlichen Soziallehre.
Sich in freiheitlichen Kulturen und bei freien Bürgerinnen und Bürgern Gehör zu verschaffen und sie zu überzeugen, geht freilich nur, wenn die Kirche in ihrem Dienst an den Demokratien glaubwürdig ist. Glaubwürdigkeit geht verloren, wenn die Kirche nur Worte macht, aber das Verkündete nicht selbst lebt. Evangelisierung, so Paul VI. in seinem viel zu wenig gelesenen Text „Evangelii nuntiandi“ (1975), beginnt daher mit der Selbstevangelisierung. Die Kirche kann nicht glaubwürdig für die Gleichheit aller und z.B. gegen die Diskriminierung der Frauen in vielen Gesellschaften reden, wenn sie im eigenen Haus Frauen nicht das Gefühl von Gleichheit gibt.
Weil die Kirche zwar nicht von der Welt, sondern ein Moment an der Welt ist, trägt sie zur Weltverwandlung bei, indem sie sich zuallererst selbst von Gott wandeln lässt. In jeder Feier der Eucharistie geschieht, was am Kreuz begann und sich in die Gemeinschaften des Evangeliums hinein ausweitet: Gewalt wird in Liebe verwandelt. Eine Zivilisation der Liebe kann sich ausbilden. So aber wird das vermeintlich Unpolitischste, die Anbetung, zum größten Himmelsgeschenk für die Demokratien. Anbetung macht resistent gegen die Unterwerfung. Johannes Paul II. wird nachgesagt, er habe bei einem Gottesdienst in Warschau imm Jahre 1979 gesagt: „Wer sein Knie vor Gott beugt, beugt es nie mehr vor der Partei.“ Ähnlich Papst Benedikt XVI., der über die Auswirkungen des Intimsten der Christen, die Feier der Eucharistie, am Weltjugendtag in Köln 2005 so predigte:
- „Diese erste grundlegende Verwandlung [im Tod Jesu am Kreuz hinein in die Auferstehung] von Gewalt in Liebe, von Tod in Leben zieht dann die weiteren Verwandlungen nach sich.
- Brot und Wein werden sein Leib und sein Blut.
- Aber an dieser Stelle darf die Verwandlung nicht Halt machen, hier muss sie erst vollends beginnen. Leib und Blut Jesu Christi werden uns gegeben, damit wir verwandelt werden. Wir selber sollen Leib Christi werden, blutsverwandt mit ihm. Wir essen alle das eine Brot. Das aber heißt: Wir werden untereinander eins gemacht. Anbetung wird, so sagten wir, Vereinigung. Gott ist nicht mehr bloß uns gegenüber der ganz Andere. Er ist in uns selbst und wir in ihm.
- Seine Dynamik durchdringt uns und will von uns auf die anderen und auf die Welt im Ganzen übergreifen, dass seine Liebe wirklich das beherrschende Maß der Welt werde.“
[1] https: //pusztaranger.wordpress.com/2014/07/30/viktor-orban-wir-bauen-den-illiberalen-staat-auf/ (7.4.2022)
[2] „Der Herr will ja sein Reich auch durch die gläubigen Laien ausbreiten, das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens.“ (Präfation des Christkönigsfestes)
[3] Böckenförde, Ernst Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit, Berlin 2006, 112f.
Title: Beitrag des Chistentums zur Demokratie(sierung)
URL: https://zulehner.wordpress.com/2023/06/28/beitrag-des-chistentums-zur-demokratiesierung/
Source: REL ::: Paul M. Zulehner
Source URL: https://zulehner.wordpress.com
Date: June 28, 2023 at 08:28PM
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