Berchtesgadener Kruzifix
Eine Entdeckungsgeschichte, so spannend wie ein Krimi: Auf dem Dachboden der Berchtesgadener Stiftskirche entdeckte eine Kunsthistorikerin 2015 ein ganz besonderes Kreuz, dessen Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht. Nach einer aufwendigen Restaurierung ist das "handelnde Bildwerk" eines Christus mit beweglichen Armen nun in die Stiftskirche zurückgekehrt, was an Karfreitag mit einem besonderen Gottesdienst samt Kreuzesabnahme und Grablegung gefeiert werden wird.
Das restaurierte "handelnde Bildwerk" in der Stiftskirche Berchtesgaden
Ein ganz besonderes Kreuz begleitet in diesem Jahr die Gläubigen in der Stiftskirche Berchtesgaden durch die Fastenzeit. Es zeigt eine mittelalterliche Christusfigur aus Holz, deren ungewöhnliche Vor- und Wirkungsgeschichte sie zu einem echten Schatz für die Kirchengemeinde werden lässt. Und zu einem Symbol für die aufrichtende Kraft des Heiligen in einer Zeit voller Wirrnisse, Veränderungen und Verletzungen. Die Entstehungszeit gegen Ende des 14. Jahrhunderts und ehemals bewegliche Arme machen die Christusfigur zu einer echten kunsthistorischen Entdeckung.
Im Rahmen eines feierlichen Karfreitags-Gottesdienstes am 7. April 2023 um 20 Uhr wird die Christusfigur mit einer Kreuzabnahme und Grablegung wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung zugeführt. Dazu werden Texte und Musik aus verschiedenen Jahrhunderten zu hören sein.
Der Fundort des Berchtesgadener Kruzifix auf dem Dachboden
Spannend wie ein Krimi ist die Geschichte von der aufregenden Wiederentdeckung der Figur auf einem verlassenen Dachboden, ihrer schwierigen Bergung und der aufwendigen Konservierung. Noch heute schwingt Begeisterung in der Stimme von Regina Bauer-Empl mit, wenn sie sich an die Situation vor ein paar Jahren erinnert. Sie war als Restauratorin der Erzdiözese München-Freising in enger Kooperation mit dem Landesamt für Denkmalpflege für die sorgfältige Bergung und Restaurierung der in völlig desolatem Zustand aufgefundenen Christusfigur zuständig.
Schrittweise wurden die einzelnen Farbschichten vom Schmutz befreit und neu fixiert
Jahrzehntelang lag das Kunstwerk unbeachtet und vergessen auf dem Dachboden über der Oberen Sakristei der Stiftskirche. Diese ist nur auf abenteuerliche Weise über einen begehbaren Holzschrank und eine wacklige Leiter mit fehlenden Sprossen und eine enge Luke zugänglich. Diesen Weg nahm 2015 auch die Kunsthistorikerin Dr. Natalie Glas im Rahmen einer Nachinventarisierung, um sämtliche Kunstwerke dieser Kirche für die Erzdiözese zu erfassen.
Sie fand die Christusfigur auf Holzdielen liegend, daneben der lose rechte Arm sowie ein Nimbus aus Metall und Eisennägeln. Der – wie Holzspuren zeigen – wohl gewaltsam samt Schultergelenk ausgerissene linke Arm war nicht mehr auffindbar. Ebenso fehlten Teile an den Fingern und Füßen. Ein Bild des Erbarmens!
Weihevolle Stimmung bei Kreuzabnahme
Für das Team der Kunsthistoriker um Dr. Norbert Jocher, dem damaligen Leiter der Hauptabteilung Kunst im Ordinariat München, deutete vieles darauf hin, dass es sich bei dem Fund um einen eher seltenen Kruzifixus aus dem Mittelalter mit beweglichen Armen handelt. Dieser wurde am Karfreitag am Kreuz verehrt, vom Kreuz abgenommen und – eingebettet in eine liturgische Dramaturgie mit Gebeten, Gesängen, Weihrauch und Kerzenlicht – zur Ruhe ins Heilige Grab gelegt. Möglich wurde dies durch die beweglichen Arme der Christusfigur.
Weltweit sind rund 140 solcher Kruzifixe bekannt. Neben Berchtesgaden befinden sich im Gebiet der Erzdiözese München-Freising weitere wie in Kleinhelfendorf. Was den Berchtesgadener Fund so besonders macht, ist sein Alter. Mit der Datierung zwischen 1360 und 1380 gehört er zu den frühesten Kunstwerken dieses Typus, der erstmals um 1300 in Florenz nachgewiesen ist.
Die naturwissenschaftliche Farbanalyse dieser Spur von aufgemalten Blutstropfen auf dem Lendentuch lässt darauf schließen, dass sie noch aus der Entstehungszeit im Hochmittelalter stammt
Den armseligen Zustand der Christusfigur beim Auffinden, der zudem der linke Arm fehlt, beschreibt Regina Bauer-Empl so: „Die Farbfassung blätterte in übereinander liegenden oder gegeneinander verschobenen Schollen ab, lag kleinteilig zerfallen in der Tiefe und war mit einer dicken Schicht staubiger Ablagerungen überzogen“.
Komplexe Fragen bei Restaurierung
Was tun in dieser Situation? Mit einem speziellen Bindemittel, das sich nach einigen Wochen wieder abbaut, sicherte und fixierte die Fachfrau die Farbschicht. Danach wurde der Fund auf eine Holztrage geschnallt, bergmännisch durch die enge Dachbodenluke geborgen und in die klimatisierte Werkstatt gebracht.
Bei den Konservierungsarbeiten sahen sich Bauer-Empl und ihre beiden Kolleginnen Doris Zeidler und Julia Brandt vom Landesamt für Denkmalpflege dann mit komplexen konservatorischen Herausforderungen konfrontiert: Wie konnte die starke äußere Verschmutzung entfernt werden, ohne gleichzeitig die fragile und brüchige Malschicht zu gefährden? Diese musste obendrein mit viel Fingerspitzengefühl fixiert werden. Nach naturwissenschaftlichen Befunduntersuchungen und Literaturrecherchen brachte schließlich eine modifizierte Form von Methylcellulose die Lösung.
Die Christusfigur vor und nach der Restaurierung
Schritt für Schritt erlangte so der knapp 1,30 Meter große Kruzifixus sein jetziges Aussehen wieder. Es lässt im Detail die unterschiedlichen Farbschichten erkennen. Farbanalysen deuten darauf hin, dass die am Lendentuch erkennbaren Blutstropfen aus der Entstehungszeit im Mittelalter stammen. Weiter zeigte sich laut Bauer-Empl, „dass die Christusfigur möglicherweise bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Nutzung war“.
Symbolbild für Verletzlichkeit
Die schnitztechnische Anlage der Augenlider lässt zudem darauf schließen, dass sich der Korpus ursprünglich mit ehemals geöffneten Augen auf einer – heute ergänzten – Fußstütze stehend zeigte. Deshalb nimmt der Christus mit farblich angelegter Iris und Pupille mit dem Betrachter Kontakt auf. Der Bildhauer Bert Praxenthaler ergänzte fachkundig den rechten Schulteransatz aus Lindenholz.
Der restaurierte Christus mit beweglichen Armen am Kreuz
Mit all seinen Verlusten und Beschädigungen ist der als Fragment im Original belassene Christus am Kreuz somit auch als Sinnbild für die Verletzlichkeit und Verletztheit des Menschen wiedererkennbar. Er steht symbolhaft für die Brutalitäten, Kriege und Konflikte der heutigen Zeit und deren Glaubensvergessenheit. Aber zugleich setzt seine durch die Mitwirkung vieler helfender Hände bewerkstelligte „Wiederauferstehung“ ein starkes Zeichen – ein Zeichen der Stärke und der Zuversicht, des Trostes, des Mitgefühls und der Glaubenskraft, das die Jahrhunderte überdauert hat. So macht das „handelnde“ Bildwerk aus dem hohen Mittelalter das Geschehen um den Tod Christi eindrücklich erlebbar und berührt mit seiner Ausdruckskraft auch heutige Kirchenbesucher.
Monsignore Dr. Thomas Frauenlob, der die Pfarrei betreut, drückt es so aus: „Dieser Christus am Kreuz spricht zu uns: Ich habe keinen anderen Arm als den deinen. Ich habe keine anderen Füße als die deinen.“ Damit lade dieser Christus am Kreuz dazu, das Licht und die Botschaft von der Liebe Gottes „in diese verwundete Welt hineinzutragen“, seine Gesinnung in der Welt zu bezeugen und „neuen Mut zu fassen, im Geiste des Evangeliums zu leben“.
Anlässlich der Restaurierung und Neuaufstellung des mittelalterlichen Fundes erscheint passend zum Karfreitagsgottesdienst eine neue Info-Broschüre mit Fotos und kunstwissenschaftlichen und liturgiegeschichtlichen Informationen. Nach Ostern soll der Kruzifixus in einem kleinen Andachtsraum im Turmbereich seinen Platz finden.
Text: Axel Effner, Freier Redakteur, März 2023
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March 25, 2023 at 12:12PM