SPIEGEL: Aber war Egalität nicht immer auch eine Stärke des deutschen Systems?
Tenoth: Definitiv. Seit das Abitur 1834 verpflichtend für den Universitätsbesuch wurde, ist das deutsche Universitätssystem im Zulassungsverfahren so egalitär wie kaum ein anderes. In vielen Ländern werden beim Zugang zu den Hochschulen die Schulabschlüsse zwar beachtet, aber entwertet, weil die Hochschulen eigene Aufnahmeprüfungen machen. Selbst in Yale und Harvard führte das dazu, dass sehr lange fast nur Kinder von Alumni angenommen wurden. Frauen, Schwarzen, Juden, Katholiken oder Absolventen von städtischen Schulen wurde der Zugang selbst bei guten Leistungen verwehrt. Anders in Deutschland. Die These, das deutsche Bildungssystem würde immer nur Ungleichheit fortschreiben, ist deshalb auch nicht richtig. Deutschland war sogar oft Vorreiter.
SPIEGEL: Welche wichtigen Wegmarken gab es?
Tenoth: In der Geschichte gab es vier große Egalisierungsschübe. Der Erste fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Damals wurde die schon länger existierende Unterrichtspflicht durch eine flächendeckende Beschulung realisiert. Der Grad der Alphabetisierung war gerade in Preußen extrem hoch . Deutschland wurde dafür weltweit bewundert.
SPIEGEL: Damals legte man auf die Schulbildung für Mädchen allerdings noch nicht viel Wert.
Tenoth: Das geschah im zweiten Schub in der Weimarer Republik. Der betraf die allmähliche Aufhebung der Bildungsbenachteiligung von Frauen , die seit den Fünfzigerjahren vollends verwirklicht ist. Auch hier war Deutschland früh dran. Es gab mehrere amerikanische Experten, die Anfang des 20. Jahrhunderts fasziniert vom deutschen Mädchenschulwesen berichteten. Der dritte Effekt war dann, dass seit den Fünfzigerjahren die konfessionellen und regionalen Unterschiede bei der Bildung aufgehoben wurden. Und schlussendlich das Aufholen bei schichtspezifischen Unterschieden. Unter den Abiturienten, die studierten waren 1930 weniger als 1 Prozent Arbeiterkinder. Diese Zahl steigt ab 1950 radikal an. Heute sind wir bei einem Rekrutierungsindex von fast 30 Prozent.
SPIEGEL: Trotzdem wird dem deutschen Schulsystem immer wieder vorgeworfen, es wäre veränderungsresistent. Zu Unrecht?
Tenoth: Historisch ist das Quatsch. Sie hätten mal einem Mann um 1830 erzählen sollen, dass man irgendwann dank beruflicher Erfahrungen Abitur machen kann. Oder mit einer Meisterprüfung studieren. Der hätte er ihnen nicht geglaubt. Das System und sein Personal waren immer ungeheuer lernfähig und hat sich stets angepasst. Darauf kommt es auch jetzt an.
Title: Bildungshistoriker zum Pisa-Schock: „Wer eine Fünf gibt, gilt schnell als Leistungsterrorist!“
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Source: DER SPIEGEL | Online-Nachrichten
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Date: December 8, 2023 at 03:59PM
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