Bonifatiusbote – Der Sonntag – Glaube und Leben
INK hat schon als kleines Mädchen gezeichnet. Jeder konnte ihre Begabung sehen. Aber erst, als sie 40 Jahre alt wurde, begann ihr Künstlerinnenleben so richtig. Über eine Frau, die ohne ihre Bleistifte nicht leben kann, und die heute für ihre Kunst gefeiert wird. Von Ruth Lehnen
Manchmal muss es einfach der sein. Der Mann in der Cafébar zum Beispiel. Ingrid Sonntag-Ramirez Ponce, Künstlername INK, überwindet sich. Sie zückt ihre Visitenkarte, geht auf den Wildfremden zu und fragt: „Würden Sie sich zeichnen lassen?“ Der Kaffeemann wurde in ihrer Kunst zu „Jesus Christ Superstar“. Was genau ihr sagt: Der ist es! kann INK nicht sagen. Sie weiß es einfach.
Besuch im Atelier der Künstlerin. Sie heißt INK, weil sie schon als Kind immer gezeichnet hat, damals mit Tinte (ink). Ihre Geschwister nannten sie so, eine Anspielung auch auf ihren Vornamen. Heute arbeitet INK vor allem mit Bleistift. Ein angefangenes Werk steht auf der Staffelei. Kein Foto kann einfangen, was man da zu sehen kriegt. Eine Bleistiftzeichnung, mehr als lebensgroß, ein Männerarm mit Maurerkelle. INK reicht eine Lupe: Da kann man mal schauen, ob es ihr gelungen ist, das Flanellhemd des Mannes wiederzugeben. Beim Betrachten stellt sich ein leichter Schauder ein: Die Zeichnung vermittelt die perfekte Illusion – der Flausch des Hemdes ist zu spüren, obwohl ihn nur das Auge sieht. Ein Teil des Geheimnisses sind die vielen winzigkleinen Striche. Ein anderer Teil liegt in der Geduld der Künstlerin, die sich für wenige Zentimeter einer Zeichnung stundenlang Zeit nimmt. Doch da ist noch mehr – sie hat zugleich Michelangelo zitiert, der Gottes und Adams ausgestreckte Hände gemalt hat. Bei INK ist die „Erschaffung“ ein Schöpferakt mit Maurerkelle. Sie hat eine Hand mit Muskeln und Sehnen aufs Papier gebracht, die Hand eines Mannes, der ein Flanellhemd trägt und zupacken kann. Solche Sachen fallen INK ein und machen ihr die Auftragsarbeit für einen Bauunternehmer zur Freude.
Vor der Staffelei steht eine Batterie von Bleistiften. Es sind mindestens
30 Stifte von verschiedenen Herstellern, in verschiedenen Härten, auf verschiedene Weise gespitzt und geschliffen. Neben den Bleistiften steht ein Fläschchen mit Weihwasser. Osterweihwasser aus St. Martin im Jossgrund. Bevor sie mit dem Zeichnen beginnt, bekreuzigt sich INK damit. Ungewöhnlich für eine Protestantin, aber INK hat sich ganz der Ökumene verschrieben. Das kleine Ritual mit dem Weihwasser hilft ihr: „Ich bitte um Kraft, und ich kriege Kraft.“ Und: „Ich bin zwar bei der Arbeit fast immer allein, aber ich bin nicht allein.“
Mit dem Hauptwerk der „Grablege“ nach Lucca
INK hat ihr Atelier in Oberndorf im Jossgrund: nach Bad Orb und dann zwölf Kilometer durch den Wald, das passt zu ihr. Gleichzeitig ist sie weltläufig, ist oft in der Heimat ihres Mannes in Andalusien/Spanien und oft unterwegs zu Ausstellungen. Im Sommer wird sie eines ihrer Werke zur weltgrößten Biennale für Kunst auf Papier nach Lucca in Italien begleiten. Es wurden 18 Künstler aus aller Welt mit ihren Werken ausgewählt, darunter INK aus Jossgrund.
Das Christus-Bild, das in Lucca zu sehen sein wird, ist Teil ihres Projekts „Grablege Christi“, das am Karfreitag in der Kirche von Jossgrund Premiere gefeiert hat, die Schirmherrschaft hatte der Fuldaer Bischof Michael Gerber. INK hat die „Grablege“ als Gesamtkunstwerk von Text, Musik, Bild und Licht angelegt. Die Kirche war proppenvoll, die Menschen ließen sich von INKs Bildern und der Musik durch das Karfreitagsgeschehen führen. Erste Anfragen, das Projekt in andere Gemeinden zu holen, gebe es schon, sagt INK. Es erfordere aber viel Engagement seitens der Kirchengemeinde, und Geld, das sie bei der Premiere durch Sponsoren gewonnen hat. Die Aufführung der „Grablege“ ist Teamarbeit.
Die Kunst von INK hat immer etwas Dialogisches. Mal nimmt sie sich die Bibel vor, um ihren Kommentar dazu abzugeben, mal tritt sie in Dialog mit den alten Meistern. Sie ist in ständiger Auseinandersetzung.
Schwarz und Weiß: eine Form, die Welt zu beleuchten
Manches von dem, was sie tut, geht über ihre Kräfte. Die Künstlerin hat eine schwere Krebserkrankung überstanden. Sie hat Corona überstanden. Sie sagt: „Wenn ich mich entschlossen habe, gebe ich alles. Ich will nicht diese Grenzen. Ich will über sie hinauswachsen.“ Über die eigenen Grenzen hinauszugehen, hält sie ganz allgemein für eine Eigenschaft von Frauen.
Sie selbst ist oft über Grenzen gegangen. Eine wichtige hat sie an ihrem 40. Geburtstag überschritten. Das verdankt sie ihrem Mann. Der wusste, was sie kann als Zeichnerin, obwohl sie als Bankkauffrau arbeitete. Er wusste auch, dass sie damals ihrem Talent nicht wirklich über den Weg traute. Er schleppte sie und ihre Arbeiten zu einer Galeristin nach Frankfurt. Der Termin war seine Geburtstagsüberraschung. INK hat die Geschichte schon oft erzählt, aber sie ist immer noch frisch, immer noch berührend: Der Mann, der seine Liebste besser kennt als sie sich selbst. Die Galeristin, die wenig Zeit hat und sich dann doch Zeit nimmt, weil ihr solche Arbeiten noch nicht untergekommen ist. Es ist die Geburt einer Künstlerin an ihrem 40. Geburtstag. Von dem Tag an wusste INK, was sie zu tun hat. Zeichnen.
Ganz selten bedauert sie, dass sie viel Zeit verloren hat. Heute weiß sie: „Zeichnen ist meine Sprache.“ Meist arbeitet sie in Schwarz und Weiß. Das sind ja keine Farben, erklärt sie: Es geht um Licht oder kein Licht. Schwarz und Weiß sind für sie „eine Form, die Welt zu beleuchten“.
Die 56-Jährige kann alles zeichnen, auch Pflanzen, Gegenstände. Aber Menschen sind ihr Hauptthema. Es fällt auf, dass sie immer wieder auf die Bibel und den Glauben zurückkommt. Nicht nur bei der „Grablege Christi“, auch in ihrem Projekt „Another Day in Paradise“ („ein anderer/weiterer Tag im Paradies“). Sie zeichnet vor allem Evas, verträumte und wütende. Welche, die die Machtverhältnisse umdrehen wollen. Aber INK wirkt nicht wütend, sondern freundlich. Künstlergehabe ist nicht ihr Ding.
Bleistifte sind für sie der schönste Schmuck
Gerade hat sie eine Frauengruppe von der kfd Limburg empfangen. Damit alle nacheinander ins Atelier kommen konnten, hat sich INK ein Programm ausgedacht. Die Frauen haben sicher bemerkt, dass sie eine humorvolle Ader hat. Ihr Schmuck zum Beispiel: Geschmeide aus Buntstiften, Bleistifte als Ohrringe. Den Bleistiftstummel, der sein Leben für ihr erstes Selbstporträt gelassen hat, hat sie in Gold gießen lassen und trägt das Schmuckstück um den Hals.
So bekannt sie geworden ist, sie erinnert sich ihrer Jugend, die nicht immer leicht war. Sie möchte etwas zurückgeben von dem, was ihr in die Wiege gelegt wurde, und was sie ihre Gottesgabe nennt: von ihrem Talent. Seit Jahren engagiert sich die Mutter einer Tochter und eines Sohns für missbrauchte Kinder auf den Philippinen. Sie unterstützt die Arbeit von Pater Shay Cullen und seine Hilfsorganisation Preda und ist für Frauenprojekte aktiv.
Korrekturen sind bei ihrer Art zu arbeiten nicht möglich. Radieren geht nicht. Ingrid Sonntag-Ramirez Ponce weiß also immer: Jetzt gilt’s. Mit Stift und Papier sucht INK nichts weniger als die Wahrheit.
Von Ruth Lehnen
GEFRAGT … GESAGT
„Hören auf die innere Stimme“
In der Rubrik „Gefragt … gesagt“ geben die „gefragten Frauen“ möglichst spontan Antworten.
Durch wen sind Sie zum Glauben gekommen?
INK (Ingrid Sonntag-Ramirez Ponce): Durch Pfarrer Jörg-Michael Schlösser, damals evangelischer Pfarrer von Butzbach, der seinen Glauben gelebt hat. Er hat zum Beispiel Obdachlosen aufgetischt und mit ihnen zusammen gegessen. Durch ihn wurde mir klar, das ist mein Weg.
Was gibt Ihnen Ihr Glaube?
Kraft.
Haben Sie schon mal daran gedacht, aus der Kirche auszutreten?
Nein.
Welche Veränderung wollen Sie in der Kirche noch erleben?
Gleichberechtigung.
Welches war Ihr schönstes Erlebnis im Glauben?
Ich war eingeladen bei einer Konfirmation. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Seitenfenster und beleuchtete Kelch und Brot.
Welche ist Ihre liebste Bibelstelle?
Aus Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte … er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“
Ihr Rat für Frauen auf der Suche?
Hören Sie auf Ihre innere Stimme. Man sucht die Lösung außen, aber oft ist sie innen.
ZUR PERSON
INK, Künstlerin
- Ingrid Sonntag-Ramirez Ponce wurde als Ingrid Sonntag 1966 in Alsfeld geboren und wuchs in Butzbach auf. Ihr Künstlername ist INK.
- Sie ist seit jeher leidenschaftliche Zeichnerin, arbeitete aber zunächst beruflich als Bankkauffrau.
- Ihr 40. Geburtstag markierte den Berufsstart als Künstlerin.
- INKs Kunst wurde vielfach national und international ausgezeichnet, zuletzt wurde INK als eine von 18 Künstler/innen weltweit zur Biennale für Kunst aus Papier nach Lucca/Italien eingeladen.
- Die Zeichnerin lebt und arbeitet im Jossgrund im hessischen Spessart und in Andalusien.
- Sie ist immer wieder mit künstlerischen Projekten hervorgetreten, die einen Bezug zu religiösen Themen hatten, zuletzt am Karfreitag 2022 zusammen mit Opernsänger/innen, Kammerchor, Kammerorchester und Organist im Projekt „Grablege Christi“. Andere Projekte tragen Namen wie „Glaube-Liebe-Hoffnung“ oder „Am Himmel sind alle gleich (Zeichnungen gegen Rassismus)“. Seit 2014 beschäftigt sie „Another Day in Paradise“.
- Viel Aufsehen erregt hat das Projekt „Dutch masters Suite“ in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Komponisten Johan de Meij.
- INK, Mutter einer Tochter und eines Sohns, engagiert sich für Kinder, zum Beispiel auf den Philippinen, und unterstützt die Hilfsorganisation Preda von Pater Shay Cullen.
- Sie ist Mitglied verschiedener Kunst- und Kulturvereine und im Vorstand der Frankfurter Künstlergesellschaft.
- Sie liebt ihren Garten.
via Bonifatiusbote – Der Sonntag – Glaube und Leben |
August 11, 2022 at 06:05PM