Bundesland streicht „Fehlerquotienten“ – und löst damit bundesweite Debatte um den Wert der Rechtschreibung aus

KIEL. Machen Schülerinnen und Schüler Rechtschreibfehler, sinkt die Schulnote. Dabei spielt es keine Rolle, wie schwierig die aufgeschriebenen Wörter sind. Diese Regelung in Schleswig-Holstein soll sich nun ändern – der sogenannte Fehlerquotient zur Bewertung entfällt. Die Maßnahme, die auf eine Verständigung im Rahmen der KMK zurückgeht, hat eine bundesweite Debatte um die Bedeutung der Rechtschreibung ausgelöst.

Rechtschreibung und Schulerfolg hängen eng zusammen – sagt der Bildungsforscher Prof. Friedrich Schönweiss. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Im Deutsch-Unterricht ist für Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein ab kommendem Schuljahr nicht mehr die Anzahl der Rechtschreibfehler entscheidend. Zum Schuljahr 2024/2025 entfällt der sogenannte Fehlerquotient zur Bewertung der Rechtschreibkompetenzen. «Unabhängig davon bleibt die Bewertung der Rechtschreibung und Zeichensetzung weiterhin wichtiger Bestandteil der Note», sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU). «Die Vermittlung von Rechtschreib- und Zeichensetzungskompetenz bleibt weiterhin zentral.»

Gleichwohl hat die Maßnahme eine hitzige Debatte um das Thema Rechtschreibung angestoßen – befeuert von der «Bild»-Zeitung, die bereits von einer «Rechtschreibungs-Revolution“ schreibt. Eingeschaltet hat sich nun auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). «Ich frage mich: Ist Rechtschreibung tatsächlich so wichtig, wenn das Schreibprogramm alles korrigiert?» , so sagt er in einem Interview mit der «Zeit».

Online-Fortbildung
Steht Rede und Antwort: Prof. Friedrich Schönweiss. Foto: Lernserver / Steinbauer

„Lehrkräfte in der Sekundarstufe sehen sich zunehmend mit Problemen konfrontiert, die eigentlich auf Grundschulthemen verweisen und mit denen sie zurecht überfordert sind“, so meint der VBE Niedersachsen mit Blick auf Rechtschreibung und aufs Handschreiben – und fragt: „Worauf kommt es jetzt an? Was bedeutet der Rückgang der zentralen Basiskompetenzen nun für Lehrkräfte, Kinder und Eltern? Wie können Lehrkräfte mit diesen neuen Herausforderungen umgehen? Was ist zu tun?“

Antworten soll nun eine vierteilige Online-Fortbildungsreihe liefern, die der VBE in Kooperation mit dem Bildungsprojekt Lernserver und seinen erfahrenen Expertinnen und Experten – darunter der Bildungsforscher Prof. Dr. Friedrich Schönweiss und die Lehrerin und Handschreib-Expertin Maria-Anna Schulze Brüning – anbietet und die Möglichkeiten einer effektiven, passgenauen Förderung aufzeigt. Start der Reihe ist am 17. April 2024 um 16 Uhr. Die Teilnahme ist gratis. Hier gibt es weitere Informationen dazu.

Seine Antwort darauf hatte Kretschmann selbst schon 2020 gegeben: «Jeder Mensch braucht ein Grundgerüst an Rechtschreibkenntnissen, das ist gar keine Frage. Aber die Bedeutung, Rechtschreibung zu pauken, nimmt ab, weil wir heute ja nur noch selten handschriftlich schreiben», sagte er damals. Kretschmann, der früher als Chemie- und Biolehrer gearbeitet hatte, sagte, es gebe ja «kluge Geräte», die Grammatik und Fehler korrigierten. «Ich glaube nicht, dass Rechtschreibung jetzt zu den großen, gravierenden Problemen der Bildungspolitik gehört.» Kretschmann erntete seinerzeit heftigen Widerspruch dafür – auch vom eigenen Koalitionspartner, der CDU.

«Unsere Gesellschaft hängt auf Gedeih und Verderb davon ab, dass Sprache und Schrift als eindeutige Kommunikations-Klammern funktionieren»

Was sagt einer der führenden Rechtschreib-Experten in Deutschland, der Bildungsforscher Prof. em. Friedrich Schönweiss, zu der Debatte? «Es gibt heute durchaus Tendenzen, dem Schreiben und Lesen eine sehr viel geringere Bedeutung einzuräumen, als dies bis noch vor gar nicht allzu langer Zeit ganz selbstverständlich der Fall war. Dies gilt in besonderer Weise für die Rechtschreibung, deren bislang hohe Beachtung mehr und mehr in Frage gestellt wird. Manchmal erfolgt dies subtiler, nicht selten aber auch frappierend offensiv. Selbst etliche Didaktiker, Fachwissenschaftler und Lehrkräfte vertreten inzwischen die Auffassung, dass der Rechtschreibunterricht mit Bildung eigentlich doch nicht sonderlich viel zu tun habe und für Schule und Gesellschaft eine ziemlich marginale Rolle spiele», erklärt er gegenüber News4teachers.

Er betont allerdings: «Im Grunde verhält es sich doch genau umgekehrt! Unsere Gesellschaft hängt auf Gedeih und Verderb davon ab, dass Sprache und Schrift als eindeutige Kommunikations-Klammern funktionieren.» Auch für den Schulerfolg sei Rechtschreibung eminent wichtig. «Es versteht sich, dass flüssiges Lesen- wie auch korrektes Rechtschreiben-Können eine hohe Chance für das einzelne Kind darstellen, in anderen Fächern ebenfalls erfolgreich zu sein und sich somit den schulischen und beruflichen Weg zu ebnen.»

Was die Initiative in Schleswig-Holstein betrifft, sagt Schönweiss, der (von der Universität Münster aus) die Münsteraner Rechtschreibanalyse und das darauf aufbauende Diagnose- und Förderportal Lernserver entwickelt hat: «Natürlich ist jede Maßnahme zu begrüßen, die Lehrer von überflüssigem Ballast befreit. Kein einziges Kind hat sich dadurch verbessert, dass ihm die bloße Zahl seiner Fehler vorgehalten wird. Etwas ganz anderes ist es freilich, wenn man sich neben dem Anmerken der Fehler auf deren Qualität konzentriert, also darauf, was der einzelnen Fehlschreibung zu entnehmen ist. Nur darüber können Lehrkräfte die überfällige Verbesserung der Rechtschreibfähigkeiten in den Blick nehmen.»

Und weiter: «Kinder schreiben ja nicht absichtlich falsch, sondern operieren mit ihrem jeweiligen Wissen und Können. Was also in den Vordergrund gerückt werden soll, und das halte ich für das Wichtige an solchem Abschneiden von alten Zöpfen, wie es nun bald für alle Bundesländern gilt, ist das Wertschätzen der in den Fehlern enthaltenen Denkleistungen. Also von dem, was die Kinder bereits können und wo sie noch die Unterstützung durch die Lehrkraft benötigen. Dafür brauchen unsere Schulen die erforderliche Zeit, vernünftige Konzepte und Lehrkräfte, die diese Aufgabe ernstnehmen.» Eine präzise Auswertung der Fehlschreibungen öffne dem Lehrer oder der Lehrerin den Blick dafür, wo er oder sie gebraucht werde.

«Uns fällt dabei auf, dass die Kinder sich immer schwerer damit tun, die einzelnen Wörter zusammenzubasteln»

«Wir erhalten ja monatlich tausende von handschriftlich ausgefüllten Schülertexten», so Schönweiss. «Uns fällt dabei auf, dass die Kinder sich immer schwerer damit tun, die einzelnen Wörter zusammenzubasteln. Die Zunahme der Fehler selbst in einfachen Wörtern unterstreicht diese Anstrengung. Es kann inzwischen von einer weitgehenden Überforderung der Kinder gesprochen werden.  Es hapert schlicht und einfach an den basalen Kenntnissen der Kinder – ein Handicap, das sie dann durch die gesamte Schulzeit mitschleppen. Hier die Kinder nicht alleine zu lassen, sondern solche grundlegenden Schwierigkeiten gleich zu Beginn des Schriftspracherwerbs oder eben später in Form einer individuellen Schleife nachholen zu lassen, ist zur zentralen Herausforderung für unsere Lehrkräfte geworden, über alle Schulformen hinweg. Zum Glück gibt es immer mehr Schulen, die mit neuen Konzepten für echte Abhilfe sorgen.»

Zur Initiative in Schleswig-Holstein: Bislang erhalten Schülerinnen und Schüler dort beispielsweise nur noch die Note 2, wenn sie einen Rechtschreibfehler auf 149 Wörter machen. Ist es einer auf 99 Wörter, gibt es nur noch die Note 3. Das fällt jetzt weg. «Didaktisch ist der Wegfall des überkommenen Fehlerquotienten durchaus sinnvoll, weil die Schülerinnen und Schüler zukünftig eine qualitative Rückmeldung erhalten über Fehlerschwerpunkte und über die Systematik ihrer Fehler», erklärte Bildungsministerin Prien. Zudem könnten Lehrkräfte gerechter die Rechtschreibkompetenzen bewerten. «Basis ist ein differenzierter Analysebogen, den das Ministerium aktuell entwickelt und den Lehrkräften zum neuen Schuljahr zur Verfügung stellt. Also: Differenzierte Rückmeldung an die Schülerinnen und Schüler statt bloßes Fehlerzählen.»

Nach Angaben des Bildungsministeriums ist Schleswig-Holstein neben Hessen aktuell ohnehin das einzige Bundesland, das überhaupt noch einen Fehlerquotienten zur Bewertung der Rechtschreibkompetenz verwendet. Hintergrund ist eine bundesweite Vereinheitlichung der Prüfungsbedingungen im Rahmen der Kultusministerkonferenz (KMK). News4teachers / mit Material der dpa

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Source: News4teachers
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Date: April 11, 2024 at 09:40AM
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