„Das muss jeder für sich selbst entscheiden.“ Zehn religionspädagogische Anmerkungen zur Suche nach religiöser Wahrheit und zum Toleranzgebot

Horst Heller
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Der Marmorstein ist 2000 Jahre alt. Er hat einen Durchmesser von 1,75 m und ist über eine Tonne schwer. Seit 400 Jahren befindet er sich im Portikus der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin nahe des Tiberufers. Bei meinem letzten Besuch wollte es kaum gelingen, ein Foto zu machen. Vor der steinernen Maske hatte sich eine Schlange gebildet. Zahlreiche asiatische Touristen standen für ein Erinnerungsfoto an. War ein Paar an der Reihe, legte die Frau ihre Hand in die Bocca della verità, den Mund der Wahrheit, und lächelte in die Handy-Kamera ihres Begleiters. Konnte sie danach ihre Hand unverletzt aus dem Mund der antiken Steinmaske ziehen, hatte sie die Probe bestanden.

Wozu diente dieser Stein, bevor er zur Touristenattraktion wurde? War er ein Lügendetektor? Diente er als Briefkasten, in den Menschen anonyme Denunziationen einwarfen? Oder war er einfach ein Kanaldeckel, durch dessen Mund, Augen und Nasenlöcher alles Flüssige in die Cloaca Maxima gelangte? Die geschichtliche Wahrheit über den Mund der Wahrheit ist nicht mehr herauszufinden.

Für mich ist das steinerne Denkmal ein Symbol der Sehnsucht nach Wahrheit. In existenziellen Fragen wollten Menschen schon immer Klarheit gewinnen, woran sie sind. Dieser Blogbeitrag fragt danach, wie sich der Wahrheitsanspruch der Religionen mit dem Gebot der Toleranz vereinbaren lässt. Am Anfang dieses Blogbeitrags steht meine These. Sie lautet: Es führt eine breite Straße von der Suche nach der religiösen Wahrheit zur Akzeptanz von Verschiedenheit.

1. Der christliche Glaube hat lange mit der Toleranz gefremdelt

Die christliche Kirchengeschichte kennt vor Beginn der Neuzeit eigentlich nur etwa siebzig Jahre, in denen Religionsfreiheit herrschte. Ich spreche Toleranz-„Edikt“ des Kaisers Konstantin. Seine Anordnung, dass jede und jeder in seinem Reich dem Gott oder der Göttin seiner oder ihrer Wahl dienen dürfe, wurde bereits nach zwei Generationen von einem christlichen Kaiser beendet. Er stellte alle nichtchristlichen Kulturen unter Strafe. Als der Islam die heiligen Stätten in Jerusalem eroberten, begann die Zeit der Kreuzzüge gegen die „Ungläubigen“. Doch nicht nur gegen andere Religionen kämpfte die Christenheit, sondern auch gegen Gläubige aus den eigenen Reihen. Christliche Herrscher betrieben Inquisition und Ketzerverfolgung. In der Zeit der Aufklärung standen beide Kirchen auf der Seite der Bremser. Sie nahmen für sich in Anspruch, die Wahrheit bereits erkannt zu haben und lehnten den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ab. Das christliche Sendungsbewusstsein hatte damals schon eine lange Tradition. Seit den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen wurde die erkannte Wahrheit von der Irrlehre unterschieden und festgehalten: Jeder, der diesen Glauben nicht unversehrt und unverletzt bewahrt, wird ohne Zweifel auf ewig verloren gehen. (Athanasianisches Glaubensbekenntnis, 7./8. Jahrhundert).

2. Um christliche Intoleranz abzulegen, bedurfte es einer theologischen Neubesinnung

Heute sehen wir mit kritischen Augen auf diese Aspekte der Geschichte der Kirche. Warum trat die Kirchen nicht in einen Dialog mit denen, die anders dachten? Warum sprachen sich die Nachfolger Jesu nicht gegen die Anwendung von Gewalt aus? Warum fanden christliche Herrscher lange kein Verhältnis zur Toleranz à la Konstantin? Ich glaube, es waren theologische Entscheidungen, die ihr diesen Weg verbauten. Es bedurfte einer theologischen Erneuerung, die auch mit der Reformation noch nicht begann. Heute aber gibt es einen Weg, den Wahrheitsanspruch der christlichen Religion so zu modifizieren, dass er auf eine universale Geltung verzichtet und mit dem Gebot der Toleranz vereinbar ist.

3. Religiöse Bildung versteht sich als Suche nach Wahrheit

Religion gibt den Anspruch nicht auf, der Wahrheit über Gott, das Leben, den Menschen, die Welt und das rechte Handeln auf der Spur zu sein. Das mag zunächst als Widerspruch zum Toleranzgebot erscheinen. Aber erst die Wahrheitssuche macht Toleranz nötig. Eine Gesellschaft, die die Fragen nach Wahrheit, Plausibilität oder Gerechtigkeit nicht mehr stellt, verzichtet auf gemeinsame Werte und übt Toleranz nicht mehr ein.

4. Religiöse Wahrheit muss immer wieder neu konstruiert werden

Im Alten Testament ist die Wahrheit Gott allein vorbehalten. Die oder der Gläubige betet, dass sie sich durchsetzt. Er schließt sein Gebet mit dem Wort Amen, deutsch „Das sei wahr!“ Die Wahrheit Gottes will von Menschen erkannt, verstanden und bekräftigt werden. Kein Mensch aber verfügt über diese Wahrheit. Religionsunterricht versteht sich deshalb schon lange nicht mehr als Vermittlung kirchlicher Lehre, sondern organisiert das Fragen. Er untersucht die eigene Tradition nach Wertvollem und Relevantem und sucht in fremden Traditionen nach Weisheit und Wahrheit. Was religiös wahr ist, entsteht während des Bildungsprozesses im Kopf der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

5. Kann nicht jede Religion ihre eigene Wahrheit haben?

In der Kulturgeschichtlich der Antike war religiöser Pluralismus kein Problem. Als die Religionen noch nationale Kulte waren, betete jedes Volk auf seine Art und Weise zu seinen Göttinnen und Göttern. Friedliebend war diese Zeit nicht, aber die Religionen waren nicht das Motiv für kriegerische Gewalt. Friedliebend waren auch die Römer nicht, weshalb ihr Imperium eine damals nicht gekannte Größe erreichte. Wenn sie fremde Länder eroberten, nahmen sie deren Kulte in ihre Heiligtümer auf, sie verehrten auch selbst Gottheiten der eroberten Völker. Militärisch kannten die Römer keine Gnade, aber in religiösen Fragen waren sie offen.

Das änderte sich, als sich der Gotteshimmel mehr und mehr leerte und am Ende die Idee die Oberhand gewann, dass es eigentlich nur eine Gottheit geben könne. Mit dem Monotheismus geriet die religiöse Offenheit in schweres Wetter. Nun gab es nur noch einen Gott, andere angebliche Gottheiten, die diesen Namen nicht verdienten, waren Götzen. Der Diskurs verschob sich. Es ging jetzt nicht mehr um meine Götter und deine Göttinnen, sondern „nur“ noch um die eine Wahrheit. Wer sie nicht anerkannte, lebte im Irrtum. Bevor wir das verurteilen, müssen wir uns fragen: Hätte es einen Ausweg gegeben? Anders gefragt: Kann es einander widersprechende Wahrheiten über das Göttliche geben?

Die Geschichte zeigt, dass der Glaube, dass es nur einen Gott gibt, religiöse Intoleranz erzeugte und – so wird behauptet – eine neue Form religiöser Gewalt in die Welt brachte. Ich wende ein, dass es in der Antike unfassbar viel Grausamkeit gab. Aber die Gewalt der Assyrer, der Griechen und der Römer richtet sich nicht gegen Religionen, sondern gegen Städte, Länder und Völker. Die christliche Intoleranz aber richtete sich gegen Juden und Muslime, und auch – wie beschrieben – gegen Arianer, Katharer, Waldenser und Täufer.

6. Der Gott, an den wir glauben, will Frieden und keine Gewalt

Noch einmal: Auf diese Teile unserer eigenen Kirchengeschichte schauen wir heute mit Unverständnis oder Scham, aber wir verschweigen sie nicht. Wir sind heute sicher, dass der Gott, dessen Engel einst Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden gesungen hatten, nicht wollte, dass der Streit über unterschiedliche Auslegungen der Verkündigung Jesu gewaltsam ausgetragen wurde.

Historische Beispiele zeigen zum Glück, dass Monotheismus nicht zwangsläufig Gewalt bedeutet. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte des Judentums. Jüdinnen und Juden waren je länger je mehr davon überzeugt, dass der Gott, dessen Name unaussprechlich ist und der nicht dargestellt werden kann und darf, der einzige Gott ist. Aber (fast) zu keinem Zeitpunkt versuchten sie, diesen Glauben anderen aufzuzwingen. Religionskriege gibt es in der Geschichte des Judentums nicht.

Dasselbe lehren uns auch die Märtyrer der alten Kirche. Sie wurden Opfer von Gewalt, weil der römische Staat vom Prinzip der religiösen Offenheit abwich, um mithilfe eines Kaiserkultes die auseinanderfallenden Teile des Reiches zusammenzuhalten. Die Märtyrer des ausgehenden 3. und frühen 4. Jahrhunderts konnten (und wollten wohl auch) niemandem untersagen, am Kaiserkult teilzunehmen, aber sie waren fest davon überzeugt, dass ihr Gott, den sie für den einzigen Gott im Himmel hielten, die Verehrung eines gottgleichen Kaisers nicht erlaubte. Sie wurden getötet, aber ihre Gemeinden kamen nicht im Schlaf auf die Idee, nun selbst Gewalt auszuüben. Hier zeigt sich ein Merkmal der Toleranz – andere sagen: ihre Grenze: Die Märtyrer waren nicht bereit, eine religiöse Handlung zu vollziehen, die ihnen ihr Gewissen verbot. Wenn Grundüberzeugungen im Spiel sind, endet alle Beliebigkeit. Auf die Märtyrer des Glaubens passt ein Satz, den Rolf Hochhuth im 20. Jahrhundert formulierte: Selbstverständlich darf man einem Prinzip ein Leben opfern – doch nur das Eigene.

7. „Das muss jeder für sich selbst entscheiden.“ Warum dieser Satz keine Lösung ist

Schülerinnen Schüler schreiben eine solche Schlussbemerkung gerne an das Ende ihrer Reflexionen über ein gestelltes Thema. Für sie ist es ein notwendiger Hinweis auf das Gebot der Toleranz. Dem will auch ich keinesfalls widersprechen. Steht ein solches Votum aber schon am Anfang eines Lernprozesses, kommt das Denken erst gar nicht in Gang. Es macht den Austausch über Meinungsverschiedenheit obsolet. Wenn die Wahrheitsfrage nicht mehr gestellt wird, wird das Fremde nicht mehr erkundet, es gibt darüber keinen Diskurs und keinen Dialog. Bekanntermaßen werden durch die Worte: Du hast deine Wahrheit und ich meine! fast jedes Gespräch beendet.

8. Die Pluralität religiöser Wahrheit ist in der Schöpfung angelegt

Ein Blick in die Welt zeigt uns eine unfassbare Vielfalt von Lebewesen und Lebensformen. Wenn wir die Natur als Gottes Schöpfung ansehen, können wir den theologischen Satz formulieren: Gottes Schöpfung ist von umfassender Diversität. Oder elementarisiert: Als Gott die Welt schuf, erschuf er auch die Vielfalt.

Kann es sein, dass auch religiöse Wahrheit plural ist? Dass es Wahrheit nur im Plural gibt? Das wäre eine neue Sicht auf Theologie und die religiöse Wahrheit. Die Unterschiede in der Bibelauslegung, der Streit über die kirchliche Lehre und unterschiedliche Konfessionszugehörigkeiten wären keine Frage von Rechtgläubigkeit und Irrtum mehr. Es müsste nur noch geprüft werden, ob sie Spielarten christlicher Wahrheit sein können. Selbst die Vielfalt der Religionen, die wir auch bisher schon als Ausdruck eines globalen kulturellen Reichtums ansehen, könnte von Gott so angedacht sein.

Ein moderner Gedanke ist das übrigens nicht. Es gibt ihn mindestens seit dem 7. nachchristlichen Jahrhundert. Ich zitiere den Koran in deutscher Übersetzung:

Hätte Gott es gewollt, Er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch wollte Er euch prüfen in dem, was Er jedem von euch gab. Wetteifert darum in den guten Taten. (Sure 5,48)

Vor fünf Jahren, am 4. Februar 2019 unterzeichneten Papst Franziskus und der Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb in Abu Dhabi das Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt. Darin heißt es:

Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat. Diese göttliche Weisheit ist der Ursprung, aus dem sich das Recht auf Bekenntnisfreiheit und auf die Freiheit, anders zu sein, ableitet.

Diese Sätze können in ihrer theologischen Bedeutung kaum überschätzt werden. Sie widerlegen jede religiöse Begründung für Verfolgungen und Kreuzzüge, und zwar nicht nur mit dem Argument, dass sie grausam und inhuman waren, sondern weil die religiöse Vielfalt dem Willen Gottes entspricht. Mit diesem Papier werden erstmalig in interreligiöser Harmonie und – was das katholische Christentum angeht – von höchster Autorität die Bekenntnisfreiheit und das Ja zur religiösen Pluralität theologisch begründet.

Wenig überraschend gab und gibt es aus Kreisen der katholischen Kirche Widerspruch. Auch evangelische Christen werden sich an den Missionsbefehl erinnern und fragen, ob die christliche Botschaft gemäß ihrem Selbstverständnis nicht über allen anderen Religionen steht. Findet sich doch im Johannesevangelium die Aussage Christi: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zu Gott als durch mich. Die Kritiker können also durchaus auf Bibelworte verweisen. Doch die christliche Theologie hat zu allen Zeiten die Fragen ihrer Zeit aufgenommen, ohne dadurch die biblische Grundlage in Frage zu stellen. Wer das als Anbiederung an den Zeitgeist kritisiert, der müsste auch Augustinus, Thomas von Aquin und Schleiermacher ablehnen.

9. Gibt es eine religiöse Wahrheit oberhalb der Wahrheit der Religionen?

Diese Frage stellte vor 250 Jahren der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn. Er schrieb:

Ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion. … Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung, Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen. Dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mose auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbart worden, aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbart der Ewige uns wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. (Jerusalem oder

Was wollte der große jüdische Aufklärer damit sagen? Seine Berliner Synagogengemeinde war der Anker seines Lebens und Denkens. Er besuchte die Gottesdienste, beachtete die Speisegebote und hielt die Sabbatruhe ein. Er war zeitlebens ein frommer Jude. Aber er bestritt, dass die Lehre seiner Religion eine Heilswahrheit sei. Über seiner und über allen anderen Religionen stand für ihn eine religiöse Wahrheit, die der Ewige jederfrau und jedermann offenbart, die oder der sie erkennen will., die der Ewige jederfrau und jedermann offenbart, die oder der sie erkennen will. Für ihn war es die Wahrheit einer allgemeinen Humanität, die jede Gewalt zwischen den Religionen ausschließt, und der Toleranz, die von der Einsicht gespeist wird, dass Differenzen normal sind.

Wie wäre das, wenn auch die christliche Theologie das für ihre Religion mal zu Ende denken würde?

10. Die Wahrheit der Religionen zeigt sich in ihrer Friedensfähigkeit

Die Aufklärung gibt uns noch einen zweiten Denkanstoß mit, der zugleich ein Auftrag ist. Der Freund des jüdischen Philosophen Mendelssohn, der Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing, wurde im gleichen Jahr wie jener geboren. In seiner letzten großen Publikation Nathan der Weise, setzte er Moses Mendelssohn ein literarisches Denkmal.

Der Protagonist seines dramatischen Gedichts (und das Alter Ego von Moses Mendelssohn) ist ein reicher Kaufmann mit Namen Nathan. Er lebt zur Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem. Er erzählt dem Sultan die berühmte Ringparabel. In ihr geht es um drei Ringe, ein Original und zwei Kopien. Drei Brüder haben je einen der Ringe erhalten, doch welches der echte Ring ist, ist nicht mehr herauszufinden.

Der echte Ring bewirkt, so erzählt es Nathan, dass sein Besitzer von den Menschen geliebt und geehrt wird. Der den echten Ring erhalten hat, müsste demnach von den anderen beiden besonders geachtet sein. Das ist aber nicht der Fall. Weil jeder behauptet, im Besitz des echten Rings zu sein, treten sie vor einen Richter. Dieser fragt die Brüder: Entfaltet einer der Ringe seine wohltuende Wunderkraft? Genießt einer von euch bei seinen Brüdern besondere Achtung? Nein? Dann könnten die Geschenke des Vaters allesamt Duplikate sein.

O, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger. Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. (G. E. Lessing, Nathan der Weise, III/7)

Die drei Ringe stehen für die drei monotheistischen Weltreligionen, das Judentum, das Christentum und der Islam. Welche Religion trägt – im Bild gesprochen – den echten Ring? Die wahre Religion müsste ja überall auf der Welt angesehen sein. Ist dem so? Nein? Zur Zeit Lessings begegneten sich die Religionen mit Misstrauen und Vorwürfen wie die Brüder, die vor dem Richter ihr vermeintliches Recht einforderten. Lessing deutet an, dass es deshalb auch möglich sei, dass keine der Religionen die Wahrheit Gottes erkannt hat.

Damit redet er nicht dem Atheismus das Wort. Seine Skepsis soll vielmehr einen Wettstreit der Religionen um das Gute befördern. Wer sich im Besitz der wahren Religion glaubt, ist aufgefordert, das durch gutes Handeln unter Beweis stellen. An die Stelle des Streits um die Wahrheit müsse der Wettstreit um das Gute treten.

Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf‘!

Dass die Religionen versuchen sollten, einander in guten Taten zu überbieten, ist aber nicht Lessings eigene Idee. Sie war uns schon in der oben zitierten Koransure begegnet:

Hätte Gott es gewollt, Er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch wollte Er euch prüfen in dem, was Er jedem von euch gab. Wetteifert darum in den guten Taten.

Ein Fazit

Die Frage nach der wahren Religion und der wahren Konfession wird heute anders gestellt als zur Zeit der Religionskriege. Auch wenn wir in unserer Religion beheimatet sind, spüren wir doch, dass auch andere Religionen Wahrheiten und Weisheiten enthalten. Um Toleranz und Dialog zu üben, ist es aber erforderlich, Positionen einzunehmen. Christinnen, Christen, Muslimas und Muslime, Jüdinnen und Juden, Katholiken und Protestantinnen, sie alle dürfen, wie es Moses Mendelssohn vorgemacht, in ihrer religiösen Wahrheit beheimatet bleiben. Dennoch hat die Mahnung, einander mit Barmherzigkeit, Sanftmut und Friedensfähigkeit zu übertreffen, bis heute ihren Reiz. Als Leitgedanke des interreligiösen Lernens hat sie sich meines Erachtens noch nicht durchgesetzt.

In 1000 Jahren, so lässt Lessing den Richter der Ringparabel sagen, werde ein wahrhaft Weiser auf dem Richterstuhl sitzen und die Wahrheit der Religionen beurteilen. Die Frage an die Religionen und die Konfessionen wird sein: Haben sie Gutes bewirkt?

Seit Lessings Nathan sind 250 Jahre vergangen. Bleiben noch 750 Jahre, in denen sie zeigen können, dass sich ihre Wahrheit in ihrer Friedensfähigkeit zeigt.

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Date: December 31, 2024 at 11:14AM
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