„Das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne“: Warum Prof. Hattie Bildungsreformen in Deutschland für dringend geboten hält

BERLIN. Prof. John Hattie, einer der renommiertesten Bildungsforscher weltweit, erhebt schwere Vorwürfe gegen das deutsche Schulsystem. Im einem Interview mit dem „Spiegel“ kritisiert er die frühe Aufteilung der Kinder in verschiedene Schulformen als ineffizient und gesellschaftlich schädlich. Stattdessen plädiert er für längeres gemeinsames Lernen, mehr Chancengerechtigkeit und eine neue Sichtweise auf die Rolle der Lehrkräfte. Seine Botschaft: Ohne mutige Reformen bleibt das deutsche Bildungssystem in der Sackgasse.

Deutschlands Schulsystem – in der Sackgasse? Illustration: Shutterstock

Noch immer gilt die sogenannte Hattie-Studie – neben der PISA-Studie – als größter Aufreger der empirischen Bildungsforschung. Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler Prof. John Hattie fasste darin die Daten von Tausenden internationalen Untersuchungen zusammen, um daraus die Gelingensfaktoren für schulisches Lernen zu extrahieren. Zentrales Ergebnis: Auf das Handeln der Lehrkräfte im Unterricht kommt es an (weniger auf die Rahmenbedingungen). Vor 15 Jahren erschien die deutsche Ausgabe der Meta-Studie. In einem aktuellen Interview mit dem „Spiegel“ äußert er sich nun kritisch zum deutschen Schulsystem – und dessen frühzeitiger Aufteilung von Kindern in verschiedene Schulformen.

Gilt als „Harry Potter der empirischen Bildungsforschung“: John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Education Research Institute an der University of Melbourne. Foto: idunius / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Hattie bezeichnet diese Praxis als Verschwendung von Potenzial. „Ich kann nicht verstehen, wie man so viel Talent vergeuden kann“, bemerkt er. Er argumentiert, dass Kinder oft mehr Zeit benötigen, um ihre Fähigkeiten voll zu entfalten. Das gegliederte Schulsystem beruhe auf der Annahme, dass homogene Klassen das Lernen erleichtern. Doch Hattie widerspricht: „Diese frühzeitige Trennung ist nicht im Interesse der Schülerinnen und Schüler. Einige Kinder brauchen eine zweite, dritte oder vierte Chance, um Dinge besser zu verstehen, und zwar über die Grundschulzeit hinaus.“

Er zeigt sich erstaunt, dass ein System, das er als „das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne“ bezeichnet, hierzulande weiterhin Bestand hat. „Deutschland steht damit weltweit ziemlich allein da.“ Es fehle an Chancengerechtigkeit, da Eltern und Schüler eine klare Hierarchie wahrnehmen würden – mit dem Gymnasium an der Spitze. „Das ist traurig. Ich möchte doch, dass mein Handwerker eine ebenso exzellente Schulbildung genossen hat wie mein Arzt.“

Heißt also: Gymnasium abschaffen? Hattie antwortet: „Viele Eltern wollen das nicht, aber die Schule ist nicht für die Eltern da, sondern für die Kinder. Sie werden die Zukunft Deutschlands prägen. Auch wenn es schwierig ist, muss jemand den Mut haben, auf eine Änderung des deutschen Schulsystems zu drängen. Es muss allen Schülerinnen und Schülern die Chance geben, ihre Leistungen zu verbessern, nicht nur einem Bruchteil. Ich schaue von außen drauf und sage: Deutschland wird es sonst niemals an die Spitze der PISA-Charts schaffen.“

„Wenn Kinder nach Leistung und oft auch nach sozialer Herkunft aufgeteilt werden, bleiben sie unter sich“

Hattie plädiert für ein längeres gemeinsames Lernen und verweist auf Länder wie Polen, die durch solche Reformen ihre PISA-Ergebnisse deutlich gesteigert haben. „In Polen hat die Reform des gegliederten Systems dazu geführt, dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler signifikant verbessert haben“, erklärt Hattie. „Das zeigt doch, dass Veränderung möglich ist.“

Hattie betont, dass es ihm nicht allein um schulische Leistungen gehe. „Die frühzeitige Trennung von Kindern ist auch nicht gut für die Gesellschaft“, warnt er. Diese verhindere, dass Kinder über das gesamte gesellschaftliche Spektrum hinweg kommunizieren könnten. Wenn Kinder in jungen Jahren nicht nur nach Leistung, sondern de facto auch nach sozialer Herkunft getrennt würden, fehle ihnen die Möglichkeit, andere Perspektiven zu verstehen und sich auf eine vielfältige Gesellschaft vorzubereiten.

Besonders kritisch sieht Hattie die sozialen Konsequenzen dieser Trennung. „Wenn Kinder nach Leistung und oft auch nach sozialer Herkunft aufgeteilt werden, bleiben sie unter sich“, sagt er. Dies verhindere wichtige Erfahrungen im Umgang mit Menschen aus verschiedenen sozialen Hintergründen und bereite nicht auf die Realität der Gesellschaft vor. Hattie fordert Lehrkräfte auf, Heterogenität als Normalität zu akzeptieren. „Schulen, die Vielfalt und Integration erfolgreich meistern, sollten als Vorbilder dienen“, betont er. „In den allermeisten Schulen der Welt ist eine starke Heterogenität völlig normal, ebenso wie in der Gesellschaft.“

Im Wortlaut: „Die Frage ist doch, wie Schulen mit Diversität umgehen. Betrachten Lehrkräfte bestimmte Kinder als Herausforderung oder als Problem? Sehen sie den Fehler beim Kind? Ich höre von Lehrkräften häufig, wie furchtbar es sei, so viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, so viele migrantische Kinder mit Sprachdefiziten oder so viele aggressive Kinder in der Klasse zu haben. Warum lässt man diese Kritik überhaupt zu? In den allermeisten Schulen der Welt ist eine starke Heterogenität völlig normal, ebenso wie in der Gesellschaft.“

Und weiter: „Ich verstehe nicht, warum Deutschland seit Jahrzehnten Kinder mit Behinderung separiert und sich bis heute nicht grundsätzlich davon verabschiedet hat. Ein anderes Beispiel: Deutschland hat vergleichsweise viele zugewanderte Kinder in kurzer Zeit aufgenommen. Ich verstehe, dass es eine große Aufgabe ist, all diese Kinder sprachlich zu fördern. Schulen benötigen hier Unterstützung. Aber wenn die Kinder möglichst schnell Deutsch lernen, können sie im Schnitt genauso gut lernen wie alle anderen. Das sind eure Fachkräfte von morgen. Einigen Schulen gelingt die Integration weniger, anderen hingegen sehr gut. Diese Schulen müssen wir wertschätzen und von ihnen lernen.“

Ein weit verbreitetes Missverständnis, das Hattie aufklärt, betrifft die Bedeutung der Klassengröße – ihm wird unterstellt, er würde behaupten, die hätte keinen Einfluss. Er betont nun: „Ich weiß nicht, wer sich ausgedacht hat, dass in einer Klasse 30 Schüler sitzen sollen. Das war keine gute Idee.“ Kleinere Klassen könnten sich sehr wohl positiv auswirken – aber nur dann, wenn Lehrkräfte die zusätzlichen Möglichkeiten effektiv nutzen. „Wenn einzelne Kinder mehr Redeanteil bekommen, hat das einen großen Effekt. Doch oft bleibt der Unterricht unverändert“, erklärt er. Und dann sei die Wirkung nahe null, trotz eines immensen Investitionsbedarfs, der sich durch eine flächendeckende Verkleinerung der Klassen ergebe. Statt genereller Verkleinerungen spricht er sich deshalb für gezielte Fördermaßnahmen aus.

„Die optimale Klassengröße gibt es nicht. Es ist doch bemerkenswert, dass einige Lehrer auch mit 30 Schülern sehr erfolgreich sind“

Hattie: „Die optimale Klassengröße liegt aus Sicht der Lehrkräfte meist bei fünf Kindern unter dem Istzustand. In Wahrheit hat dabei jede Lehrkraft fünf bestimmte Kinder im Blick. Wir kennen diese Kinder alle, sie stören den Unterricht und fordern sehr viel Aufmerksamkeit. Beim Thema Klassengröße geht es in Wahrheit also sehr oft um diese fünf Kinder. Aber jemand muss diese fünf Kinder nehmen. Die optimale Klassengröße gibt es nicht. Es ist doch bemerkenswert, dass einige Lehrer auch mit 30 Schülern sehr erfolgreich sind.“

Zentral für erfolgreichen Unterricht sei laut Hattie die Wirkung der Lehrkräfte auf die Lernbiografie ihrer Schülerinnen und Schüler. Gute Lehrkräfte, so Hattie, erzielten eine hohe Wirkung, indem sie ihre Schüler motivierten und deren Leistungen steigerten. „Der Fehler in der Debatte ist, dass oft gesagt wird, gute Lehrkräfte handelten so oder so, sie gäben Feedback, sie definierten das Lernziel, sie hätten eine gute Beziehung zu ihren Schülern und so weiter. Wir müssen stattdessen sagen: Gute Lehrkräfte erzielen eine hohe Wirkung.“

Und wie geht das? „Ich meine nicht, dass gute Lehrkräfte lauter leistungsstarke Schüler haben. Mir geht es um den Einfluss, den sie auf das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler haben, ob sie sie zum Lernen motivieren können, wie sehr sie ihre Leistung steigern, wie viel Leidenschaft sie fürs Lernen aufbringen. Es geht auch darum, ob sie sich in der Schule zugehörig fühlen.“

So sei Selbstvertrauen ein zentraler Faktor für Lernerfolg. Hattie: „Leider gibt es viele intelligente Schüler, die Angst vor dem Versagen haben. Deshalb machen sie am liebsten das, was sie schon können. Aber Lernen bedeutet, das zu tun, was man noch nicht kann. Das wird oft vergessen. Ein Ziel von Lehrkräften muss deshalb sein, starkes Vertrauen und eine sichere Umgebung zu schaffen. Sie müssen ihren Schülern Aufgaben stellen, die sie in angemessener Weise herausfordern, und ihnen das nötige Selbstvertrauen vermitteln, um sich auf unbekanntes Terrain einzulassen.“

Auch Feedback sei wichtig. Allerdings komme es auf die Art der Rückmeldung an. „Viele Lehrkräfte geben sehr viel Feedback, aber die Schülerinnen und Schüler erfahren bei dieser Art von Feedback nur, ob sie etwas gut oder schlecht gemacht haben – und nicht, wie sie sich verbessern können.“

Von Lehrkräften erwartet Hattie mehr Reflektion des eigenen Tuns. Er betont: „Einige Lehrkräfte suchen ständig den Beweis dafür, dass sie gute Arbeit leisten. Sie machen sich Sorgen wegen der Lehrpläne, der Tests, sie sorgen sich, ob die Schüler gut vorbereitet sind. Aber sie fragen nicht, ob es vielleicht an ihrem Unterricht liegen könnte, wenn Schülerinnen und Schüler scheitern. Das wäre aber der erste Schritt, um sich als Lehrkraft zu verbessern.“ News4teachers

Hier geht es zum vollständigen Interview.

15 Jahre Hattie-Studie: Warum Sitzenbleiben mehr schadet als nützt (aber bis heute in Deutschland vielen als unverzichtbar gilt)

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Date: December 26, 2024 at 05:49PM
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