Der lange Weg von Golgatha bis zum Konzertsaal. Die fünf Stationen von der Hinrichtung Jesu zu Johann Sebastian Bachs Johannespassion

Horst Heller
Dieser Beitrag als PDF
Hier geht’s zum neusten Blogbeitrag

Turm der Nikolaikirche Leipzig

Johann Sebastian Bach schrieb die Johannespassion während seines ersten Jahres in Leipzig. Ende Mai 1723 hatte er dort seinen Dienst als Thomaskantor angetreten. Dreißig seiner unvergleichlichen Kantaten stammen aus dem Jahr 1723. Trotz dieses immensen Outputs gelang es ihm, in den Wochen der Passionszeit des Jahres 1724 ein weiteres zweistündiges Werk für den Karfreitag zu schaffen und einzuüben: die gesungene Passionsgeschichte Jesu nach den Worten des Johannesevangeliums. Uraufgeführt wurde die Johannespassion am 7. April 1724.

Wie war es möglich, dass die Erzählung von der Hinrichtung auf dem Hügel vor der Stadt Jerusalem für uns Heutige zu einem musikalischen Genuss und (für viele) zu einem Abend der religiösen Besinnung wurde? Das ist zu nur verstehen, wenn wir die fünf Stationen vom Hügel Golgatha vor der Stadt Jerusalem bis zum Konzertsaal nachvollziehen.

Station 1: Der Ausgangspunkt. Was geschah im Jahr 30 nach Christus?
Am Anfang dieses langen Weges steht Jesus von Nazareth, der jüdische Prediger aus Galiläa, der wandernd an den Ufern des Sees Genezareth predigte und Menschen in seinen Bann zog. Wie viele galiläische Juden pilgerte auch er regelmäßig zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem, um im Tempel zu beten und dort an den Feiern teilzunehmen. An einem Frühlingstag, vermutlich im Jahr 30, wurde er von der Tempelwache gefangengenommen. Die Priester-Aristokratie und die römische Verwaltung, die anlässlich des Pilgerfestes ihre Truppen aus den Kasernen in Cäsarea nach Jerusalem verlegt hatte, befürchteten Unruhen. Noch bevor die Pessach-Feiern begannen, wurde Jesus, der keinen politischen Umsturz plante, vom römischen Präfekten Pontius Pilatus verhört, verurteilt und auf seinen Befehl hingerichtet.

Station 2: Die christliche Gemeinde verehrt den Gekreuzigten.
Johannes schreibt sein Evangelium
Nach dieser Katastrophe entdeckte die junge christliche Gemeinde einen Sinn in seinem Leiden und Sterben. Entscheidend für diese Wendung waren die Visionen des Ostertages, die viele Menschen unabhängig voneinander erlebten. Der Tod Jesu war in diesem Licht nun keine Niederlage mehr, sondern ein Geschehen, das den Menschen zugutekam. Sie erkannten darin nun einen göttlichen Plan, ein Geschenk Gottes für die Welt. Deshalb verschwieg die Gemeinde das Kreuz Jesu nicht, sondern stellte es in den Mittelpunkt ihres Glaubens.
Als die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes Jahrzehnte später ihre Erzählungen vom Leiden und Sterben Jesu schrieben, wollten sie nicht vor allem berichten, was geschehen war. Das war ihren Lesern längst bekannt. Sie wollten darstellen, welche Bedeutung der Tod Jesu für ihre Gemeinde hatte. Der Evangelist Johannes setzte dabei eigene Akzente: Für ihn war Jesus der Gottessohn, der schon während der Verhöre und seiner Kreuzigung in die Sphäre Gottes zurückkehrte.
Pontius Pilatus verurteilt den Gefangenen zwar zum Tod am Kreuz und befiehlt seine Hinrichtung. Doch lässt er eine Tafel am Kreuz befestigen, auf die er schreiben lässt, hier sei der König der Juden hingerichtet worden. Für den Evangelisten Johannes ist dieses Detail eine Huldigung.

Station 3: Martin Luther und die deutsche Übersetzung der Bibel
Mit der Reformation bekam die Bibel einen neuen Stellenwert. Im Mittelpunkt des lutherischen Gottesdienstes stand nun die Schriftlesung und die Predigt. Wer evangelische Kirchenmusik scheiben wollte, hatte keine lateinischen Messtexte zu vertonen, sondern einzig die Bibelerzählung in deutscher Sprache.

Station 4: Johann Sebastian Bach, der „fünfte Evangelist“ gibt dem Evangelium nach Johannes eine musikalische Gestalt
In dieser Tradition stand auch der Lutheraner Bach und sein Arbeitgeber, der Rat der Stadt Leipzig. Als er die Passionsgeschichte des Johannesevangeliums vertonte, stellte er deshalb den biblischen Text in den Mittelpunkt. Dieser wurde vom Solo-Tenor vorgetragen, den die Tradition deshalb schlicht den Evangelisten nennt. Selbstverständlich durfte dabei kein Wort der Heiligen Schrift ausgelassen werden.
Die Aufführungen der Johannespassion fanden zu Lebzeiten Bachs in einem gottesdienstlichen Rahmen statt, in der Regel im Gottesdienst am Karfreitag. Dem Chor gab Bach dabei eine doppelte Aufgabe. Er musste die Choräle vortragen, in die die anwesende Gemeinde einstimmte. Genauso wichtig aber waren die sog. Turba-Chöre, die die Texte sang, in denen der Evangelist die Menge (lat. turba) oder kleine Gruppen zu Wort kommen ließ.

Station 5: Die Johannespassion als Konzerterlebnis
Spätestens seit Felix Mendelssohn wird die Kirchenmusik Bachs auch in Konzerthäusern aufgeführt. Das Publikum erfreut sich nun auch ohne einen gottesdienstlichen Rahmen an den Chören, Rezitativen, Arien und Chorälen der Johannespassion des Thomaskantors. Wer offen dafür ist, der wird aber auch religiöse Ergriffenheit spüren und die spirituelle Dimension der Musik wahrnehmen.

Blogbeiträge auf www.horstheller.de
01.05.2022: „Dass man seine Weibsnatur jeden Tag von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekommt…“ Vor 175 Jahren starb die Komponistin Fanny Hensel.
07.05.2023: „Bachs gibt es hier viele.“ Der lange Weg zu Johann Sebastian Bachs Ehrengrab in der Thomaskirche
21.07.2023: Vom Aschenputtel zum Weltstar. Wer war Jenny Lind, die schwedische Nachtigall?
17.09.2023: „In Kirchheimbolanden spazieren gehen.“ Als Wolfgang Amadeus Mozart in die Pfalz reiste
31.03.2024: War das Grab Jesu am Ostermorgen leer? Und ist das überhaupt wichtig?
12.02.2025: Geschichten, die uns nicht „gehören“. Grundfragen des Bibelerzählens in der Grundschule. Sechs Anregungen und sechs Beispiele


Title: Der lange Weg von Golgatha bis zum Konzertsaal. Die fünf Stationen von der Hinrichtung Jesu zu Johann Sebastian Bachs Johannespassion
URL: https://horstheller.wordpress.com/2025/04/05/bach-johannespassion/
Source: Horst Heller
Source URL: https://horstheller.wordpress.com
Date: April 5, 2025 at 06:12AM
Feedly Board(s): Religion