Die andere Kirche

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Offene Türen und offene Herzen für „jedermensch“: Die Gastkirche in der Fußgängerzone von Recklinghausen
Daniel Pilar

Bärbel Baucks hatte gepredigt. Obwohl es ein Sonntag war und ein katholischer Gottesdienst gefeiert wurde? Oder gerade weil es so war? Weder noch. Denn was richtig ist, weil es gut ist, das entscheidet nicht ein Papst, ein Bischof oder irgendeine andere Obrigkeit. Jedenfalls nicht hier, nicht an diesem Ort.

Gastkirche nennt sich der schlichte Saalbau, der vor mehr als 600 Jahren als „des hilligen Gestes capellen“ an dieser Stelle mit dem Geld frommer Bürger errichtet wurde. So alt ist kaum ein Gebäude in Recklinghausen, obwohl die 120.000-Einwohner-Stadt am Übergang vom Ruhrgebiet in das Münsterland noch manchen Rest ihres einstigen Charmes bewahrt hat. Als die einfache Glocke unter dem schlichten Dachreiter zum ersten Mal erklang, duckte sich hinter dem Kirchlein schon ein Gasthaus der besonderen Art: das „hilligen Gestes huse“, um Armen und Bedürftigen ein Dach über dem Kopf zu schenken, Brot für jeden Tag und eine helfende Hand. Und immer noch und immer wieder gibt es hier Menschen, die Gastkirche und Gasthaus in diesem Sinn mit Leben erfüllen. Ob Mitglied einer Kirche oder nicht, das hat nichts zu bedeuten. Für das, was sie schenken und wie sie es tun, brauchen sie keine Kirche, die ihnen sagt, was gut und richtig ist. Sie wissen es, weil sie tun, was sie glauben.

Gregor etwa ist der Vorsitzende des Gasthausrates und an diesem nasskalten Mittwochmorgen der Erste, der die Gäste begrüßt, die zum wärmenden Frühstück in dem einladenden Haus hinter der unscheinbaren, in einer Häuserzeile der Fußgängerzone gelegenen Kirche kommen. Beate und Hiltrud heißen die beiden Köchinnen, die an dem großen Herd des ehemaligen Altenheims das Mittagessen für das Gasthaus zubereiten. Am späten Vormittag wird eine Mitarbeiterin der Drogenberatung einen randvollen Topf mit einer stärkenden Mahlzeit für die Rauschgiftkranken auf der Platte hinter dem Hauptbahnhof abholen. Karsten, der Sozialarbeiter, gibt die Berechtigungskarten für die Recklinghäuser Tafel aus, die vom Gasthaus und dem Sozialdienst katholischer Frauen getragen wird. Es gibt eine Beratung von Flüchtlingen und anderen Menschen, die ihren Alltag zwischen Tafel, Jobcenter und Ausländerbehörde ohne sachkundige Hilfe nicht bewältigen könnten. Und am nächsten Mittwoch wird auch Walter wieder da sein, der Arzt, der für die da ist, die keine Krankenversicherung haben.

Bärbel Baucks
Daniel Pilar

Aber heute ist Rainer da, ein früherer Pfarrer. Er ist für ein Gespräch mit jedem und jeder bereit, der oder die ein offenes Ohr sucht. Mittags sieht man Ludger Ernsting, den katholischen Pfarrer am Gasthaus und an der Gastkirche, am Ende des Gottesdiensts in der Kirche den Segen sprechen, nachmittags, während im Parterre Kaffee und die gespendeten Kuchen auf den Holztischen stehen, richtet Dorothee, Theologin, Sozialarbeiterin und einst Ansprechpartnerin für Betroffene von sexueller Gewalt, den Raum unter dem Dach her, in dem sich am Abend eine der vielen Trauergruppen treffen wird und vielleicht eine der beiden Ordensschwestern Judith und Franziska oder der beiden Canisianerbrüder Bernhard und Reinhard des Nachts, wenn die Klingel geht und wieder einmal eines der fünf Zimmer im Parterre gefragt ist, die für Menschen in akuten Krisensituationen gedacht sind. Oder auf den Fluren Ma­tratzen ausgelegt werden, damit niemand erfriert, dessen Heimat die Straße ist.

„Der Ort, wo man lebt, bestimmt einen“, sagt Pfarrer Ernsting. Als junger Theologiestudent hatte er während eines Praktikums im Bergbau im Gasthaus bei Pfarrer Bernhard Lübbering Quartier bekommen. Seit 2009 ist dieses Zuhause sein Ort – aber nicht nur seiner.

Wie er, so ist auch Ingo Teil der Biographie vieler Menschen am Rand des Ruhrgebietes geworden. Seine Unterschrift fand sich auf den Grußkarten, die den Päckchen beilag, die an einen jungen Mann in der Justizvollzugsanstalt Essen gerichtet waren, dem sonst niemand mehr etwas schickte. Zu heroinabhängig, zu kriminell. Aber Ingo, zwei Ordensschwestern in Tracht und die Leute der Gefängnisgruppe der Gastkirche besuchten all die, von denen kaum jemand etwas wissen wollte. Und sie waren da, als Bernadetto 2006 nach einer langen Haftstrafe entlassen wurde. Im Gasthaus fand er seine erste Bleibe in der Freiheit, er hatte bald eine Adresse und ein Konto. Und heute? „Seit ich sauber bin und mein Leben auf die Kette krieg, komme ich halt immer weniger hierhin, weil die Leute mich halt auch belasten. Ich kann die verstehen, ich war selbst einer davon.“

Zu Gast
Daniel Pilar

Gasthaus und Gastkirche, Friedensforum und Glaubensforum, Genderforum und Pilgerforum, der Weltladen in der Altstadt und der Second-Hand-Laden an einer Ausfallstraße, nicht zu vergessen die Gasthaus-Stiftung, die seit Jahrhunderten alle Zäsuren überstanden hat, das sind in der Summe 300 Ehrenamtliche, kaum eine Handvoll Mitarbeiter, von denen niemand aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird, sondern ausschließlich aus Spenden und Kirchensteuern.

„Suchet der Stadt Bestes“ – unter dieses Wort des Propheten Jeremia hatte Bärbel Baucks ihre Predigt gestellt. Sie habe ihren Zuhörern so sehr aus dem Herzen gesprochen, hieß es noch Tage danach im Gasthaus. Predigen hatte sie gelernt und im benachbarten Marl auch lange so gelebt, wie Pfarrerinnen leben. Aber die Kanzel und das Pfarrhaus sind längst nicht mehr die Orte, an denen ihr sich zeigt, wie und was Kirche sein kann. Berufskolleg nennt sich das außen wie innen einladende Gebäude auf dem Recklinghäuser Kuniberg, in dem Bärbel Baucks etwas unterrichtet, von dem es auf dem Plan für die erste Stunde heißt, es sei evangelische Religion. Da macht es einerseits nichts, dass Anastasia russisch-orthodox ist, Nevra eine sunnitische Muslima, Michael katholisch getauft wurde und Abdul ebenfalls ein Muslim ist. Andererseits ist es genau das, was zählt. Denn Bärbel Baucks bringt die Jugendlichen, die sich auf einen Realschulabschluss vorbereiten, selbst am frühen Morgen zum Sprechen. Sie ermuntert sie, von den religiösen Überzeugungen und Praktiken in ihren Familien zu erzählen, weckt anhand von Szenen aus dem Alltag ihre Neugier für die Spuren von christlichem Brauchtum in ihrer deutschen Heimat, übersetzt ihren eigenen Glauben in die Lebenswelt von Jugendlichen.

Mit dieser Haltung ist sie an der Schule nicht allein, sondern weiß die ganze Fachkonferenz Religion wie auch die Schulleitung um die Direktorin Michaela Korte hinter sich. Bewährungsproben gibt es für die Religionslehrer genug. Gemeinsam waren sie zur Stelle, als die vielen muslimischen Jugendlichen sich nach den von islamistischen Terroristen verübten Anschlägen in Paris vor der Reaktion ihrer Mitschüler fürchteten, gemeinsam nutzten sie den jährlichen Auschwitz-Gedenktag als Antidot gegen Antisemitismus. Der Einsatz lohnt sich: Die Abmeldequote ist gering, die Beteiligung an den Tagen religiöser Orientierung hoch.

Bernadetto Epiphamias
Daniel Pilar

Nicht weit war Bärbel Baucks, als es während der Corona-Pandemie um Einsamkeit ging und an der Schule um Leben und Tod, und sei es nur im Unterricht. So wie in der zweiten Stunde an jenem Vormittag, in der sie mit angehenden Polizeischülern darüber spricht, was auf die jungen Frauen und Männer zukommen wird, wenn sie zu einem tödlichen Unfall gerufen werden oder Angehörigen eine Schreckensnachricht überbringen müssen. Baucks ist früher selbst oft in solchen Si­tuationen gewesen, nun kann sie ihre Erfahrungen mit Menschen teilen, denen nichts ferner liegt, als einen kirchlichen Beruf zu wählen. „Eine Buntheit, wie ich sie liebe“, sagt die Pfarrerin.

Aber diese Liebe gibt es nur, weil es schon immer zu wenige evangelische Religionslehrer im Schuldienst gab und ihre Landeskirche sie für diesen Dienst freigestellt hat. Was aber, wenn es in einigen Jahren noch weniger Religionslehrer gibt und noch weniger junge Menschen, die sich für den Pfarrberuf entscheiden?

Darüber weiß Gunhild Vestner viel, wie Bärbel Baucks eine Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit zwanzig Jahren wird sie von ihrer Kirche für die Leitung einer Einrichtung bezahlt, die es wie die Gastkirche ohne das Engagement einer kleinen Gruppe von hoch qualifizierten Fachleuten hinter den Hunderten hoch motivierten Freiwilligen so nicht gäbe: Telefonseelsorge.

Gunhild Vestner
Daniel Pilar

Wie die Gastkirche wurde sie Ende der Siebzigerjahre ins Leben gerufen, allerdings von katholischen und evangelischen Christen gemeinsam. Und bis heute zahlen Stadt und Kreis keinen Cent dafür, dass Männer und Frauen 365 Tage im Jahr Tag und Nacht wach sind, um beizustehen, wenn andere nicht wissen wohin mit ihren Sorgen.

Gunhild Vestner und ihre Mitarbeiter hatten als Erste in Deutschland Telefonseelsorge per Mail und Chat erprobt. Das Ergebnis war erschreckend und ermutigend zugleich: Am Telefon waren und sind die Ratsuchenden in der Mehrzahl zwischen 50 und 60 Jahre alt, zu gut zwei Dritteln weiblich, zu fast zwei Dritteln allein lebend und oft nicht mehr berufstätig. Viel öfter als um körperliche Beschwerden geht es um psychische Erkrankungen und um das Leiden an der Einsamkeit. Und in jedem zehnten Gespräch um Suizid.

Im Chat hingegen suchen überwiegend jüngere Menschen Hilfe. Fast zwei Drittel sind jünger als dreißig Jahre. Die Themen lassen erschaudern: In fast jedem zweiten Kontakt wird eine psychische Erkrankung thematisiert, in annähernd jedem dritten geht es um suizidale Gedanken, oft um Einsamkeit und in nicht wenigen um sexuelle Gewalterfahrungen; so die Auswertung der 13.500 Anrufe und gut 1100 Chats im Noch-Corona-Jahr 2022.

Ludger Ernsting
Daniel Pilar

Doch die Zeit bleibt nicht stehen, nicht bei den Krisen, von denen sich im Privaten wie im Persönlichen immer mehr überlagern, und nicht bei den technischen Entwicklungen. Auf ihrem Mobiltelefon hat Gunhild Vestner eine App installiert, in deren Programm die Erfahrungen der Telefonseelsorge eingeflossen sind. Sie sei „ein Notfallkoffer für Menschen“, sagt die Pfarrerin über den „KrisenKompass“, könne die App doch helfen, „schnell mit den eigenen Kraftquellen in Verbindung zu kommen“.

Wie Telefonseelsorge ein Seismograph persönlicher, manchmal aber auch mit Veränderungen in der Gesellschaft einhergehender Notlagen ist, so erschöpft sich deren Bedeutung nicht in individueller Zuwendung. Die Haltungen und die kommunikativen Fähigkeiten, die über die Jahre Hunderte Telefonseelsorger allein in Recklinghausen erlernt und eingeübt haben, sind ein Schatz für die gesamte Gesellschaft, den es ohne die Kirchen nicht oder zumindest so nicht gäbe. „Recklinghausen braucht nicht nur unser hörendes Herz. Recklinghausen braucht auch unsere hörbare Stimme in einer eher orientierungslosen Welt. Ohne den Hintergedanken, dass das für unser Ansehen toll ist. Nur mit dem Blick auf das, was wir unseren Mitmenschen schuldig sind“, so hatte Bärbel Baucks es in ihrer Predigt formuliert. Wenn Kirche nur immer so wäre – denn Recklinghausen ist überall.

via F.A.Z.

April 9, 2023 at 08:05AM