BERLIN. In der kommenden Woche treffen sich die Kultusministerinnen und Kultusminister der Länder zur „Bildungsministerkonferenz“ (so der neue Titel der bislang als KMK bekannten Veranstaltung) – um auch über das Thema Künstliche Intelligenz (KI) zu sprechen. Dazu hatte die KMK unlängst Handlungsempfehlungen für Schulen herausgegeben (News4teachers berichtete). Prof. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands, ist mit dem vermeintlich zukunftsweisenden Papier wenig zufrieden. Warum, darüber sprachen wir mit ihr.
News4teachers: Nutzen Sie persönlich KI im professionellen Kontext?
Susanne Lin-Klitzing: Ich nutze die KI vor allem als Inspiration für Vorträge oder Grußworte, aber im Ergebnis bleiben davon vielleicht drei wohlformulierte Sätze übrig. Der Rest stammt original von mir. Für andere „reproduktive“ Tätigkeiten nutze ich sie effizienter: So habe ich mithilfe einer KI den Vorentwurf der KMK-KI-Handlungsempfehlung mit dem Endentwurf verglichen. Das war zeitsparend – das inhaltliche Ergebnis allerdings enttäuschend: Es bestätigt, was wir ohnehin vermutet haben. Die Unterschiede zwischen dem Vorentwurf, den dann ja viele Menschen mühevoll mit ihren Erfahrungen und Perspektiven anreichern und der KMK zur Überarbeitung schicken, und der Endfassung sind marginal. Es hat sich vielleicht einiges an den Überschriften verändert, aber das war’s dann auch schon.
News4teachers: Ihre Einschätzung zum Ergebnis?
Lin-Klitzing: Eigentlich sind die KI-Handlungsempfehlungen eher als Aufforderung der Länder an sich selbst zu verstehen. Und ich muss sagen, das Ergebnis ist recht mager ausgefallen, denn die Voraussetzung für all die Maßnahmen, die darin beschrieben werden, steht als allerletzter Punkt auf der allerletzten Seite: „Darüber hinaus zielen die Bemühungen der Länder darauf ab, ein hoheitlich betriebenes, datenschutzkonformes, für pädagogische Zwecke trainiertes und damit didaktisch besonders zielführendes LLM für den schulischen Bildungsbereich bereitzustellen.“ (LLM steht für Large Language Model, ein KI-Programm, das neben anderen Aufgaben auch Text erkennen und generieren kann, d. Red.) Eben darum müsste es konzeptionell von Anfang an gehen: Wir sollten uns bestehender KI nicht „ausliefern“. Vielmehr sollte es darum gehen, dass Länder und Bund mit bereichsspezifischer Bildungs-KI eine sinnvolle Rolle in der schulischen Bildung gestalten. Davon findet sich im Papier der KMK jedoch wenig. Diese Unverbindlichkeit nährt meine Enttäuschung über dieses Papier.
“Ich würde mir wünschen, dass man sich auf den Gedanken konzentriert, Schülerinnen und Schüler bei Verstehensprozessen zu unterstützen – das ist doch eigentlich unser Bildungsauftrag in der Schule”
Denn der eigentliche Sinn, warum wir uns überhaupt Gedanken über den Umgang mit KI machen, ist doch die zentrale Frage, wie sich dies auf unsere Schülerinnen und Schüler auswirkt. Was machen sie damit? Was machen wir mit ihnen damit? Und vor allem: Wie kann KI im besten Fall beim Lehren und Lernen helfen? Dieser zentrale Aspekt ist meiner Meinung nach sehr schwach ausgearbeitet. Ich würde mir wünschen, dass man sich auf den Gedanken konzentriert, Schülerinnen und Schüler bei Verstehensprozessen zu unterstützen – das ist doch eigentlich unser Bildungsauftrag in der Schule.
Stattdessen finden sich überwiegend Vorschläge und Voraussetzungen, die sich die Länder selbst auferlegen wollen, ohne zu berücksichtigen, dass einzelne Länder von ihnen bereits viel weiter als andere sind. Manche haben bereits erheblich in Fortbildungstools wie fobizz investiert, während andere dafür noch gar kein Budget aufwenden.
Um meinen Gedanken für die Lehr-Lern-Nutzung von KI noch einmal aufzugreifen: Die KI müsste, um die Verstehensprozesse der Schülerinnen und Schüler besser zu unterstützen und ein echtes Verständnis zu fördern, entsprechend geformt werden. Dazu müssten datenschutzkonform umfangreiche schülerbezogene Daten gesammelt werden, um die typischen Verständnisfehler zu identifizieren und daraus echte Hilfen abzuleiten. Andernfalls könnte KI – und das sage ich jetzt etwas provokant – als eine Art neuer „Nürnberger Trichter“ missverstanden werden. Wenn wir nicht bei den Verstehensprozessen der Schülerinnen und Schüler ansetzen, geht es letztlich nur darum, Lerninhalte möglichst effizient herunterzubrechen.
News4teachers: Es gibt Aussagen zur Rolle der Lehrkräfte, die durchaus Aufmerksamkeit erregen, weil sie recht konkret sind. Zum Beispiel wird angedeutet, dass sich der Beruf der Lehrkraft insgesamt verändern könnte, da Korrekturen künftig stark automatisiert ablaufen könnten. Teilen Sie diese Einschätzung? Ist das eine Perspektive, die Sie befürworten?
Susanne Lin-Klitzing: Ich glaube, dass sich die Rolle der Lehrkraft in gewisser Weise verändern wird, aber es wird meiner Ansicht nach keine revolutionäre Umwälzung geben. Das hängt auch davon ab, welchen Sinn man Schule und Lehrkräften zuschreibt. Was jedoch meiner Meinung nach stärker im Vordergrund stehen wird als je zuvor, ist die Rolle der Lehrkraft, die zusammen mit den Schülern das, was die KI liefert, kritisch bewertet. KI gibt ja oft nur Mehrheitsmeinungen wieder, was bedeutet, dass die vorherrschende Meinung als „Wahrheit“ erscheint – aber Mehrheit ist nicht zwangsläufig Wahrheit. Ich denke, dass der kritisch-konstruktive Umgang mit KI darin besteht, das von der KI Gelieferte zu prüfen und zu reflektieren. Und diese Aufgabe sollte eben nicht nur die Lehrkraft übernehmen, sondern sie sollte idealerweise gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern angegangen werden.
Außerdem glaube ich, dass die Rolle der Lehrkraft als Erklärer ebenfalls eine Renaissance erfahren wird. Wenn ich zum Beispiel frage, wie das Bohrsche Atommodell aussieht, erklärt die KI möglicherweise, dass es einen kleinen Kern gibt und Elektronen auf bestimmten Bahnen um diesen Kern kreisen. Schüler könnten dann glauben, dass Atome tatsächlich genau so aussehen. Dabei war das Bohrsche Modell nur ein Versuch, die innere Struktur eines Atoms zu veranschaulichen – basierend auf einer Analogie zur Umlaufbahn von Planeten um die Sonne. Ein Atom sieht natürlich nicht wirklich so aus. Dieses Missverständnis, das Modell für die Realität zu halten, tritt oft schon im herkömmlichen Unterricht auf. Ich glaube jedoch, dass es umso häufiger vorkommen wird, wenn solche Modelle lediglich durch KI präsentiert und „geschluckt“ werden, ohne zusätzliche Erklärung und Einordnung durch die Lehrkraft.
News4teachers: Gerade im gymnasialen Bereich nehmen Korrekturen einen Großteil der Arbeitszeit in Anspruch. Ist es für Sie keine verlockende Vorstellung, dass Lehrkräfte in Zukunft Klassenarbeiten einfach einscannen und automatisiert auswerten lassen könnten? Die KI könnte dann Berichte aufbereiten, die zeigen, was in den Arbeiten steht, wo Fehler, Schwächen und Stärken liegen, und die Lehrkraft müsste nur noch die Note daruntersetzen. Ist das für Sie eine Horrorvision oder eher etwas Positives?
Susanne Lin-Klitzing: Grundsätzlich bleibt die Bewertung nach wie vor die hoheitliche Aufgabe der Lehrkräfte – das bestätigt auch die KMK. Ein weiterer Aspekt ist: Was macht die KI in Bezug auf Rechtschreibung eigentlich so viel besser als die Fehlerkorrektur, die wir schon in Word haben? Ja, sie könnte das mithilfe der eingescannten Materialien übernehmen – vorausgesetzt die Kultusministerkonferenz oder die einzelnen Länder stellen sicher, dass dies datenschutzkonform geschieht. Sicherlich würde es dadurch graduelle Veränderungen und Erleichterungen in den Vorprüfverfahren geben, also in der Phase vor der eigentlichen Bewertung.
Allerdings finde ich die Schlussfolgerung, dass Lehrkräfte dadurch umfassend entlastet würden, naiv. Die Überlastung der Lehrkräfte ergibt sich ja nicht nur aus den Korrekturen. Was wir seit Langem wissen, ist, dass Lehrkräfte viel zu wenig Zeit für ihren eigentlichen Unterricht, für das Diagnostizieren, das Prüfen und Bewerten der Leistungen ihrer Schüler haben, da sie ständig mit zusätzlichen Aufgaben belastet werden. Wenn man Lehrkräfte wirklich entlasten wollte, müsste man zuerst viele dieser Zusatzaufgaben streichen, die nichts mit dem Unterricht selbst zu tun haben.
Ein Bereich, den ich zudem für wichtiger halte, ist die gezielte Förderung der Schülerinnen und Schüler. Das ist das eigentliche Ziel, das im Fokus stehen sollte. Es erstaunt mich, dass die KMK in diesem Punkt in ihrer KI-Handlungsempfehlung so wenig Engagement zeigt.
News4teachers: Also wird KI den Lehrkräftemangel aus Ihrer Sicht nicht beseitigen?
Susanne Lin-Klitzing: Ich glaube nicht daran, dass KI Lehrkräfte ersetzen kann, und das hat viel mit der Zielsetzung von Bildung zu tun. Schule soll ja nicht zu einer Art maschineller KI-Wissensvermittlungsinstanz verkommen. Dies würde die grundlegende Rolle der Schule verkennen. Mein Standpunkt ist, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität auf der Basis von Fachwissen und in der Auseinandersetzung mit zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen befähigt werden sollen, und das idealerweise in einem geschützten schulischen Entwicklungsraum, in dem Lehrkräfte mit ihren Schülerinnen und Schülern sowie die Schülerinnen und Schüler untereinander vertrauensvoll miteinander interagieren können. Da ist eine angemessene Senkung des Unterrichtsdeputats und die Entlastung von nicht-professionsspezifischen Aufgaben hilfreicher. Dies machte den Beruf durch bessere Arbeitsbedingungen attraktiver.
“Die Leistungsbewertung sollte in der Hand der Lehrkräfte bleiben, die Schule ihre Allokationsfunktion behalten”
Ich bin zudem überzeugt davon, dass Erziehungs- und Bildungsaufgaben wie die, dass Schülerinnen und Schüler sich in diesem geschützten Entwicklungs- und Interaktionsraum Schule entfalten, ihre Sprache entwickeln und Texte selber lesen, um ihre Fantasie zu fördern, nicht an eine KI delegiert werden können.
Die KI kann jedoch Schülerinnen und Schüler adaptiver fördern als dies eine Lehrkraft für alle ihre Schülerinnen und Schüler in einer Klasse im selben Zeitraum kann. Dies ist eine hilfreiche Unterstützung, aber keine umfassende Entlastung.
News4teachers: Wie müssen sich denn die Prüfungsformen verändern?
Susanne Lin-Klitzing: Meiner Meinung nach sollte der Fokus auf einer Veränderung der Förderungskultur liegen, weniger auf der Prüfungskultur. Das Thema Förderung wird in den Handlungsempfehlungen der KMK kaum berücksichtigt, einzig unter dem Punkt „Lernen und Didaktik“ findet es noch kurz Erwähnung.
Doch zurück zu Ihrer Frage: Die Leistungsbewertung sollte in der Hand der Lehrkräfte bleiben, die Schule ihre Allokationsfunktion behalten. Die KMK fordert diesbezüglich zwar eine Anpassung der Prüfungsformate, um Kompetenzen im Umgang mit KI zu berücksichtigen und die Leistungsbewertung transparenter und fairer zu gestalten. Wenn ich die Ausführungen dazu lese, frage ich mich allerdings, ob es wirklich darum geht, die Leistung „transparent und fair“ zu bewerten, oder eher nur darum, festzustellen, wie viel KI die Schülerinnen und Schüler genutzt haben.
Diesen Zugang sehe ich kritisch. Natürlich soll KI angemessen in Lernprozesse integriert werden und die Fähigkeit zur reflektierten Nutzung gehört definitiv dazu. Aber die Fokussierung auf Prüfungsformate und die entsprechenden Formulierungen dazu in der KMK-Handlungsempfehlung lassen vermuten, dass Prüfungen zu einer Art „detektivischem Aufdeckungsprozess“ werden, bei dem überprüft wird, welche Antworten von der KI stammen und welche vom Schüler selbst. Das Ziel von Prüfungen kann nicht sein, lediglich festzustellen, wie eine Leistung erbracht wurde. Wenn es nur darum ginge, könnte man ja auch einfach auf viel mehr Klausuren unter Aufsicht und mündliche Prüfungen ohne Hilfsmittel ausweichen und auf „KI-gefährdete“ Prüfungsformate wie Portfolios, Referate und Ausarbeitungen verzichten.
Ich bin hingegen sehr offen für neue Formen der Diagnose und der Leistungsmessung, gerade auch in Verbindung mit bereichsspezifischer, datenschutzkonformer KI. Denn der Kernpunkt, um den es bei Diagnose und Leistungsmessung und -bewertung in der Schule gehen muss, ist doch, dass mit und für die Schülerinnen und Schüler im Lernprozess das Ziel verfolgt wird, den eigenen Wissensstand zu erweitern, Inhalte wirklich zu verstehen und sie kritisch zu hinterfragen und eben nicht darum, Aufgaben nur umfassender und effizienter abarbeiten zu können.
Ein Ansatz, den ich also für sinnvoller halte, wäre festzustellen, was die Schülerinnen und Schüler vor der Nutzung der KI über ein Thema wissen und wie sich ihr Verständnis durch die KI-Nutzung verändert. Das wäre meiner Ansicht nach fairer und würde den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler besser abbilden, um sie dann gezielt fördern zu können. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek führte das Interview.
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Title: “Die Rolle der Lehrkraft als Erklärer wird eine Renaissance erfahren”: Philologen-Chefin Lin-Klitzing über KI in der Schule
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Date: December 10, 2024 at 02:58PM
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