Dietrich Bonhoeffer – oder: der Abschied von der Zwei-Regimenter-Lehre. Wann wird Widerstand zur Pflicht?

Horst Heller
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Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) verbrachte die letzten zwei Jahre seines Lebens in Gefängnissen. Er gehörte zum Kreis der Verschwörer des 20. Juli. Die unmittelbar Beteiligten wurden sofort hingerichtet. Die Suche nach den Unterstützern der Attentäter kam jedoch zunächst nur schleppend voran. Aber im September 1944 wurden im brandenburgischen Zossen Akten beschlagnahmt, aus denen die Gestapo die Namen der Verschwörer ermittelte.

Dietrich Bonhoeffer wurde nur 39 Jahre alt. Er starb durch das Urteil eines SS-Standgerichts am 9. April, vier Wochen vor dem Ende des Kriegs. Zusammen mit den Verschwörern verdient er für seine Haltung und seinen Mut den größten Respekt. Dabei kannte die Theologie, der er sich verpflichtet fühlte, eigentlich kein Recht auf gewaltsamen Widerstand.

In der vorchristlichen Antike war die Legitimität eines Tyrannenmords breit diskutiert worden. Ein Konsens, der von der Mehrheit der philosophischen Richtungen mitgetragen wurde, hielt die Tötung eines Tyrannen ausnahmsweise für legitim, vorausgesetzt, alle friedlichen Mittel waren zuvor ausgeschöpft worden.

Darf ein Christ einen Diktator töten?

Bonhoeffer sah einerseits die moralische Pflicht, gegen das verbrecherische Regime vorzugehen. Die Tötung des Diktators war für ihn andererseits ein Verstoß gegen das Gebot „Du sollst nicht töten.“ Er dachte aus diesem Grund auch darüber nach, ob er – ein Gelingen des Anschlags vorausgesetzt – nach dem Krieg noch als Pfarrer tätig werden könne. Dazu kam, dass Bonhoeffer überzeugter Pazifist war. Ihm stand das Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium vor Augen: „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“ (Mt 26,52). Tragischerweise bestätigt ausgerechnet sein eigener Tod diese Voraussage aus dem Matthäusevangelium.

Auch in der Bibel konnte Bonhoeffer keine Anleitung zum Ungehorsam finden. Die Autoren der neutestamentlichen Bücher waren sich einig, dass die Gemeinden die staatliche Ordnung zu respektieren hatten. So erklären sich die biblischen Weisungen: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ (Mt 22,21) und „Jedermann sei untertan der Obrigkeit” (Röm 13,1).

Bonhoeffer stand zudem in der Tradition der Sozialethik Martin Luthers. Der hatte den Landesherren die Aufgabe übertragen, das große reformatorische Werk abzusichern. Ein Ausdruck seines Vertrauens in die staatliche Autorität war seine Zwei-Regimenter-Lehre. Sie besagte, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Fürsten im Auftrag Gottes handelten. Wer konnte da gegen den Staat rebellieren?

Was motivierte Bonhoeffer, sich dem Widerstand anzuschließen?

Dass ein lutherischer Theologe wie Bonhoeffer Mitglied einer Widerstandsgruppe wurde, lag also nicht nahe. Er, der die Tötung Hitlers für eine Sünde hielt, sah sich zugleich in der moralischen Verantwortung, den Opfern zu helfen, denen der Staat Unrecht zugefügte. Ein Attentat blieb dabei ein schwerer Verstoß gegen alles, was ihm heilig war. Aber Nichtstun war keine Option, denn es wäre ebenfalls eine Sünde gewesen. In diesem Dilemma entschied er sich für die Verschwörung, wohl wissend, dass ihm die Bekennende Kirche in dieser Frage nicht folgen würde.

Kein ethisches Konzept – so fand Bonhoeffer – konnte ihm sagen, wie er angemessen auf das Unrecht reagieren sollte, das in seiner Bosheit ohne Beispiel war und ist. Die Mächtigen führten ein ganzes Land in den Abgrund, ermordeten systematisch Juden und Angehörige andere Minderheiten, schickten Kinder in den Krieg. Im Blick auf die Opfer des Regimes schien ihm ein einfacher Gebotsgehorsam unangemessen. Er entwickelte deshalb eine Verantwortungsethik, die es erlaubte (und ihn zugleich nötigte), allein der Stimme seines Gewissens zu folgen.

Das Ende der Zwei-Regimenter-Lehre

Es ist Zeit, von der Zwei-Regimenter-Lehre Abschied zu nehmen. Sie hatte ihr Recht, solange es keine säkularen Staaten gab. Luther hatte sich nicht vorstellen können, dass eine Obrigkeit nicht im Auftrag Gottes das Böse bestrafte und das Gute belohnte. Die Diktaturen des 20. Jahrhundert, aber auch die Autokratien und populistischen Regierungen des 21. Jahrhunderts haben uns eines Besseren belehrt. Wir kennen Staaten und ihre Organe, die das Illegitime legitimieren. Aber nicht nur Regierungen haben sich seit dem 16. Jahrhundert gewandelt, auch die Regierten. Sie sind nicht länger Untertanen, sondern Staatsbürger und als solche mitverantwortlich für den Schutz des Gemeinwesens. Es ist Bonhoeffers Verdienst, dass er Christinnen, Christen und ihrer Kirche ins Stammbuch geschrieben hat, dass ihre Verantwortung für das Gemeinwesen nicht länger an die Mächtigen delegiert werden kann.

Wo sind die Grenzen?

Im Grundgesetz ist festgelegt, dass deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unter bestimmten Bedingungen das Recht zum Widerstand haben.

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. (Artikel 20, Absatz 4)

Was mit „dieser Ordnung“ gemeint ist, wird einige Sätze zuvor ausgeführt. Es sind die Verfassung, der Vorrang des Rechts und eine demokratische, soziale und föderalistische Staatsform. Gegen die, die diese Werte zerstören wollen, ist Widerstand erlaubt. Zunächst aber müssen die gesetzeskonformen Mittel ausgeschöpft sein. Und es muss sichergestellt sein, dass die Regierenden die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht nur verletzen, sondern auch beseitigen wollen.

Bonhoeffer hätte dem zugestimmt. Im April 1933 hatte er den Auftrag und die Grenzen eines christlich motivierten Widerstands so beschrieben:

„Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“
Quelle

Damit aber geht Bonhoeffer über die Regelung des Grundgesetzes hinaus, welches ein Recht des Staatsbürgers auf Widerstand gegen die Feinde der Demokratie kennt. „Dem Rad in die Speichen zu fallen“ ist aber mehr als das, für Bonhoeffer ist es eine christliche Pflicht. Er hat recht: Demokratie und Rechtsstaat können sich nicht selbst schützen. Sie müssen von mutigen Bürgerinnen und Bürgern verteidigt werden.

Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage (April 1933):https://jochenteuffel.com/2018/12/17/dietrich-bonhoeffer-die-kirche-vor-der-judenfrage-april-1933-nicht-nur-die-opfer-unter-dem-rad-zu-verbinden-sondern-dem-rad-selbst-in-die-speichen-zu-fallen/
Wolfgang Huber
, Dem Rad in die Speichen fallen“. Dietrich Bonhoeffers Weg in den Widerstand https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/april/dem-rad-in-die-speichen-fallen

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Title: Dietrich Bonhoeffer – oder: der Abschied von der Zwei-Regimenter-Lehre. Wann wird Widerstand zur Pflicht?
URL: https://horstheller.wordpress.com/2025/04/08/dietrich-bonhoeffer-2/
Source: Horst Heller
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Date: April 8, 2025 at 07:09PM
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