DOMRADIO.DE: Seit der Zeit Napoleons hatte kein Papst Italien verlassen. Und jetzt wählte Paul VI. als sein erstes Reiseziel überhaupt das Land der Bibel. Was für ein Zeichen war das – zunächst einmal innerkirchlich gedacht?
Jörg Ernesti (Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte Universität Augsburg): Paul VI. hat diese Reise im Dezember 1963 den Bischöfen, die aus aller Welt zum Zweiten Vatikanischen Konzil nach Rom gekommen waren, angekündigt. Die Überraschung der Konzilsväter war sehr groß und auch die der Weltöffentlichkeit. Denn seit den Tagen der Apostel war tatsächlich kein Nachfolger Petri in das Land Jesu zurückgekehrt.
Kein Papst hatte je nach seiner Wahl ein Flugzeug bestiegen. Und kein Papst hatte nach 1929 den Staat der Vatikanstadt verlassen, um ins Ausland zu reisen. Paul VI. hat den Konzilsvätern zugleich erklärt, was es mit diesem Plan auf sich hatte. In den Beratungen des Konzils wollte er die Blicke auf die Ursprünge des Glaubens, auf den Anfang der Kirche lenken. Das war ihm persönlich sehr wichtig.
Wir verbinden ja im Allgemeinen die Reisetätigkeit der Päpste mit Papst Johannes Paul II. Doch es war tatsächlich Paul VI., der damit begonnen und sogar alle fünf Kontinente bereist hat. Wichtig scheint mir dabei, dass er eine ganz eigene Theologie der päpstlichen Reisen entwickelt hat, die er Apostolische Reisen nannte.
"Da wurde nichts dem Zufall überlassen."
DOMRADIO.DE: Bei seinen Reiseplänen 1963/64 hatte Paul VI. zunächst die Ökumene im Sinn. Was schwebte ihm da vor?
Ernesti: Paul VI. ist am 21. Juni 1963 wohl vor allem auch deshalb zum Papst gewählt worden, weil man von ihm erwartete, dass er das von Johannes XXIII. begonnene Konzil fortführt und zu Ende bringt. Für Johannes XXIII. war ein wichtiges Ziel des Konzils, die Einheit der Kirche voranzubringen, und diese Vorgabe hat Paul VI. loyal aufgenommen.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) war die bislang letzte beschlussfassende Versammlung aller Bischöfe der katholischen Weltkirche. Rund 2.800 Konzilsväter debattierten im Petersdom darüber, wie die Kirche ihre Botschaft unter den Bedingungen der modernen Welt und von weltanschaulichem Pluralismus verkünden kann. Weitere Themen waren eine Reform von Liturgie und Priesterausbildung, die Einheit der Christen und die Aussöhnung von Kirche und Judentum.
Mit der Reise ins Heilige Land und der Begegnung mit dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras wollte er ein ganz starkes ökumenisches Zeichen setzen. Dieses Treffen war von beiden Kirchenführern im Vorfeld sorgfältig geplant. Da wurde nichts dem Zufall überlassen. Dazu gehörte auch, dass man sich auf Jerusalem als Ort des Treffens verständigte.
Das hängt damit zusammen, dass die beiden Führer der orthodoxen Kirche und der katholischen Kirche 1439 zum letzten Mal auf dem Konzil von Florenz zusammengekommen waren. Damals waren die Orthodoxen nicht ganz freiwillig gekommen, sondern weil sie sich gegen die Türken militärische Hilfe aus dem Abendland erwarteten.
Bei den Planungen wollte man jetzt also sehr sorgfältig vorgehen, um keine Seite zu demütigen, damit beide Seiten sich auf Augenhöhe begegnen konnten. Jerusalem war da als Ort sehr klug gewählt. Erinnert die Stadt doch an das, was beiden Kirchen als Erbe gemeinsam ist, an ihre gemeinsamen Ursprünge im Glauben.
DOMRADIO.DE: Paul VI. hat vor seiner Reise immer wieder betont, er komme als „bescheidener Pilger“ ins Heilige Land. Warum war das gerade auch mit Blick auf die gewünschte ökumenische Annäherung mit den Orthodoxen wichtig?
"Paul VI. war es wichtig, dass sich hier zwei Schwesterkirchen auf Augenhöhe und gleichwertig begegnen."
Ernesti: Da möchte ich auf ein Detail hinweisen. Paul VI. war als ehemals engster Mitarbeiter, als rechte Hand von Pius XII. sehr penibles Arbeiten gewöhnt und hat immer sehr auf gründliche Vorbereitung gesetzt. So hat er auch vorher den Ort des Treffens mit Athenagoras inspiziert und dabei Anstoß daran genommen, dass der Sessel des Papstes auf einem kleinen Podest stand, der Sessel des Patriarchen dagegen nicht.
Hätte man das Podest nicht abgeräumt, hätte der Papst von seinem erhöhten Sitz immer auf den Patriarchen herabgeblickt. Stattdessen, so wollte es Paul VI., sollten die Fotografen die beiden Kirchenmänner stehend zeigen, wie sie einander umarmen, wie sie sich wirklich auf Augenhöhe begegnen. Paul VI. war es wichtig, dass sich hier zwei Schwesterkirchen, verkörpert durch ihre jeweils höchsten Vertreter, auf Augenhöhe und gleichwertig begegnen.
DOMRADIO.DE: Paul VI. hat also schon im Vorfeld des Treffens große Sensibilität bewiesen. Wie lief die Begegnung mit dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras dann tatsächlich ab – beziehungsweise die Begegnungen, denn die beiden sind mehrfach zusammengetroffen.
Ernesti: Ja, die beiden sind später noch einmal in Istanbul zusammengetroffen… Da hat Paula VI. ihn besucht und Athenagoras war auch selbst in Rom. Bei dem Treffen in Jerusalem ist es zunächst zu dieser historischen Umarmung gekommen, die auch mehrfach für die Fotografen wiederholt wurde. Dann haben die beiden Kirchenführer gemeinsam das Vaterunser gebetet.
Sie haben Geschenke ausgetauscht. Paul VI. hatte einen Kelch mitgebracht, auch um zum Ausdruck zu bringen, dass wir das Abendmahl, die Eucharistie, bei den Orthodoxen als gültig anerkennen. Er selbst hat eine Stola bekommen mit den beiden Apostelfürsten, die dort eingestickt waren: Andreas für den Osten, Paulus für den Westen.
Und später haben sie dann das 17. Kapitel des Johannes-Evangeliums gemeinsam gelesen, auf Lateinisch und auf Griechisch – also das hohepriesterliche Gebet, das Jesus am Abend vor seinem Tod betet und mit dem er um die Einheit seiner Jünger bittet.
Ein Kollege hat mich vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass nach dem Treffen eine kleine Panne passiert ist. Die Fernsehkameras waren bereits ausgeschaltet und man hat gedacht, die Mikrofone des italienischen Fernsehens seien ebenfalls aus.
Tatsächlich sind die Mikrofone aber weitergelaufen und haben die folgende Unterhaltung zwischen Athenagoras und Paul aufgezeichnet: Die beiden waren wirklich wie im siebten Himmel, also ganz begeistert. Sie waren sich bewusst, dass sie in diesem Moment Geschichte geschrieben haben und haben das auch so zum Ausdruck gebracht. Das war ein berührender Moment, nicht nur das Offizielle, sondern auch das, was im Nachklang noch passiert ist.
DOMRADIO.DE: Auf jeden Fall ein sehr wichtiger Moment für die Ökumene…
Ernesti: Auf jeden Fall. Und die Begegnung hatte ja auch noch eine Nachgeschichte im Konzil selbst. Denn am Ende des Konzils wurde die Exkommunikation der Protagonisten von 1054 aufgehoben, die zur Trennung der beiden Kirchen geführt hatte. Das war zwar noch nicht die Wiederherstellung der Einheit der Kirchen, aber wird allgemein als wichtiger Schritt dahin angesehen.
"Er hat also deutlich gemacht, dass der Bund Gottes mit den Juden, die göttliche Erwählung, auch weiterhin gilt."
DOMRADIO.DE: Neben dieser Ökumene-Mission ging es dem Papst bei seiner Reise ins Heilige Land natürlich auch darum, die historisch belasteten Beziehungen zum Judentum zu verbessern. Warum war das eine außerordentlich heikle Angelegenheit?
Ernesti: Die Beziehungen der katholischen Kirche zum Judentum waren historisch belastet durch einen Jahrhunderte alten christlichen Antijudaismus. Das war Paul VI. bewusst, denn er hatte im Zweiten Weltkrieg die Hilfsmaßnahmen für die italienischen Juden koordiniert.
Er wusste auch, dass Pius XII. den Staat Israel 1948 bei seiner Gründung bewusst nicht anerkannt hatte; Pius XII. hatte damals eine Internationalisierung Jerusalems und der heiligen Stätten gefordert. Das hängt damit zusammen, dass der Vatikan immer auch die Interessen der Araber im Blick hatte, von denen ja nicht wenige Christen sind, lateinische Christen, aber auch mit Rom unierte Christen.
Daran hat man in Israel stets Anstoß genommen und auch daran, dass der Vatikan längst mit einem Dutzend arabischer Staaten diplomatische Beziehungen aufgenommen hatte, während die diplomatischen Beziehungen mit Israel erst 1993 zustande gekommen sind.
DOMRADIO.DE: Paul VI. wollte bei seiner Reise auf jeden Fall neutral bleiben in den Fragen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern. Vielleicht sagen Sie noch mal ganz kurz: Was war zum Zeitpunkt seiner Reise der Ist-Zustand des Konflikts, also drei Jahre vor dem Sechstagekrieg von 1967?
Ernesti: Das Westjordanland und damit die heiligen Stätten in Jerusalem und Bethlehem gehörten damals noch zu Jordanien. Paul VI. musste also seinen Besuch im Heiligen Land in Jordanien beginnen und wurde vom jordanischen König Hussein auf dem Flughafen in Amman begrüßt. Und Paul VI. hat seinen Besuch im Heiligen Land dann auch in Jordanien beendet.
Bemerkenswert, das geht manchmal ein bisschen unter, wenn man über diesen Besuch spricht, war dann auch die Feier des Festes Epiphanie, Heilige Drei Könige, in der Geburtskirche in Bethlehem, der Paul VI. vorgestanden hat, am 6. Januar 1964.
DOMRADIO.DE: Die Reise war auf jeden Fall ein diplomatischer Drahtseilakt: Wie ist dieser Paul VI. am Ende gelungen?
Ernesti: Die vatikanische Diplomatie hatte der israelischen Regierung vorab kommuniziert, dass der Papst keinen Staatsbesuch vorhabe und dass er auch nicht direkt oder indirekt den Staat Israel anerkennen werde. Dass er in rein religiöser Mission kommen werde als „einfacher Pilger“, wie er das genannt hat.
Das ist in der Knesset, im israelischen Parlament, diskutiert und dann auch von den Parlamentariern akzeptiert worden. Paul VI. hat sich auch mit der israelischen Staatsführung getroffen. Man hatte sich vorher verständigt, dass dieses Treffen nicht in Jerusalem stattfindet, auch nicht in Tel Aviv, sondern in Megiddo. Das ist immerhin ein symbolisch aufgeladener Ort, ein Ort, der für den jüdischen Selbstbehauptungswillen gegen die damals römischen Eroberer steht.
DOMRADIO.DE: Welche Folgen hatte diese erste Papstreise der Moderne dann für die Beziehungen zwischen dem Vatikan und Israel?
Ernesti: Es ist noch nicht direkt zur Anerkennung des Staates Israel gekommen. Aber durch die Formulierungen, die Paul VI. in seinen Ansprachen und Predigten gewählt hat, hat er den Konzilserklärungen über das Judentum den Boden bereitet. Ganz wichtig ist, dass er die Juden als „Söhne des Gottesvolkes“ bezeichnet und an den Bund erinnert hat, den Gott mit den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob geschlossen hat.
Er hat also deutlich gemacht, dass der Bund Gottes mit den Juden, die göttliche Erwählung, auch weiterhin gilt. Das muss man sich vergegenwärtigen, denn es ist ja damals noch an jedem Karfreitag um die Bekehrung der Juden zu Christus gebetet worden. Also Paul VI. hat einer weiteren Entwicklung schon durch seine Ansprachen und Predigten den Boden bereitet.
DOMRADIO.DE: Der 60. Jahrestag dieser bedeutsamen Papstreise fällt nun in einen Moment höchster Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern, es herrscht wieder Krieg im Heiligen Land. Zuletzt hat Ihr Kollege, der Kirchenhistoriker Hubert Wolf, Franziskus vorgeworfen, sich „diplomatisch unklug“ in diesem Konflikt zu verhalten, indem er etwa das Attentat der Hamas nicht als Auslöser benannt und auch nicht das Selbstverteidigungsrecht Israels anerkannt habe. Sehen Sie das auch so?
Ernesti: Wenn man die vatikanischen Erklärungen nach diesem schrecklichen Attentat liest, dann fehlt es da meines Erachtens nicht an der nötigen Deutlichkeit. Der Papst hat mehrfach diese Gewalt gegen Juden verurteilt. Dennoch wurde der vatikanische Geschäftsträger aus Protest ins israelische Außenministerium bestellt. Man hatte sich offenkundig daran gestoßen, dass der Papst auch an die zivilen Opfer unter den Palästinensern erinnert hat.
Im Grunde genommen bewegt sich diese vatikanische Haltung ganz auf derselben Linie wie noch in der Zeit nach 1948. Man weiß sich im Vatikan angesichts der dunklen Geschichte des christlichen Antijudaismus natürlich den Israelis verpflichtet. Das steht nicht zur Debatte. Man verliert aber auch die Rechte der Palästinenser nicht aus dem Blick. Übrigens hat es solche Verstimmungen in der israelischen Politik auch schon früher gegeben.
Etwa als Paul VI. nach dem Münchner Olympia-Attentat gefragt hat: ‚Wo kommt eigentlich dieser Hass der Palästinenser auf die Juden her?‘ Das hat man damals in Israel auch nicht verstanden, dass Paul sich so geäußert hat. Im Grunde genommen gibt es diese Missverständnisse zwischen Israel und dem Vatikan also auch schon länger.
"Diese Reise war der Auftakt der päpstlichen Reisetätigkeit."
DOMRADIO.DE: Ein körperlich angeschlagener Papst auf Friedensmission 2024 im Heiligen Land, das könnte ein starkes Zeichen sein. Halten Sie das für denkbar, dass Franziskus jetzt noch einmal ins Heilige Land reisen könnte?
Ernesti: Ja! Zutrauen würde ich es ihm schon, da er immer wieder gut für eine Überraschung gut ist. Ob ihm sein Gesundheitszustand das erlauben würde, kann ich nicht beurteilen. Ich fürchte nur, zum jetzigen Zeitpunkt wäre sein Besuch bei der israelischen Regierung nicht besonders willkommen.
DOMRADIO.DE: Ganz zum Schluss noch einmal Ihr Fazit zur Bedeutung der Papstreise vor 60 Jahren: Warum war sie wirklich ein Meilenstein?
Ernesti: Diese Reise war der Auftakt der päpstlichen Reisetätigkeit. Die Auftaktveranstaltung für etwas, was heute nicht mehr wegzudenken ist aus der Geschichte des Papsttums. Diese Reise war zweitens bedeutsam für die Ökumene, für unser Verhältnis zur Orthodoxie. Und drittens war diese Reise auch ein Eisbrecher für das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum. Damit ist der Weg bereitet worden für etwas Neues, was dann große Folgen haben sollte bis in die Gegenwart.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.
Title: „Ein Eisbrecher fürs Verhältnis zum Judentum“ / Historischer Papstbesuch im Heiligen Land vor 60 Jahren
URL: https://www.domradio.de/artikel/historischer-papstbesuch-im-heiligen-land-vor-60-jahren
Source: DOMRADIO.DE – Der gute Draht nach oben
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Date: January 4, 2024 at 07:11AM
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