Eine Ethik, die nicht nur fragt, was richtig, sondern auch was wichtig ist. Religionspädagogische Überlegungen zu den Zehn Geboten

Horst Heller
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Die zwei Tafeln des Dekalogs. Glücklicherweise aufbewahrtes Erinnerungsstück der alten Synagoge St. Ingbert, heute Religionspädagogisches Zentrum

Dem Religionsunterricht wird die Aufgabe zugeschrieben, die Werte zu vermitteln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Vor allem sind dabei solche Tugenden im Blick, die (angeblich) in der Vergangenheit Konsens waren, aber heute (ebenso angeblich) verloren gegangen sind. Welche Ethik brauchen wir? Eine Ethik des Friedens, der Freiheit, der Gerechtigkeit?
Dieser Blogbeitrag geht der Frage nach, welche Rolle die Zehn Gebote bei der angestrebten Konsensethik spielen können.

Die Zehn Gebote haben viel mit Freiheit zu tun

Die Zehn Gebote (fachsprachlich: Dekalog) sind eine Sammlung von Rechtsvorschriften, die sich ursprünglich an die jüdische Gemeinschaft nach ihrer Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft richtete. Die ersten Adressaten der Zehn Gebote waren erwachsene, freie und rechtsfähige Männer einer ländlichen oder kleinstädtischen antiken Kultur, die ein wenig Land und vielleicht ein einfaches Haus besaßen.

Das erste Gebot „Ich bin der Herr, der dich aus Ägypten herausgeführt hat …“ erinnerte sie an die Geschichte der Befreiung ihrer Vorfahren. Diese waren zu Sklavenarbeit gezwungen gewesen und verdankten ihre Befreiung dem Eingreifen Gottes. Nun leben ihre Nachkommen, wenn auch nicht in politischer Sicherheit, so doch in Freiheit und können ihre religiösen, sozialen und familiären Traditionen pflegen. Die gewonnene Autonomie aber muss aber geschützt werden. Dazu gehört die verpflichtende Verehrung des Gottes, dem sie ihre Befreiung verdanken, genauso wie die Beachtung von Regeln für das soziale Leben.

Diesem Fundament aus zwei Elementen, dem Schutz der Freiheit und der Verehrung des einen Gottes, entsprechen die beiden „Tafeln“ des Dekalogs. Die Gebote der ersten „Tafel“ formulieren Regeln für die Verehrung Gottes:
– Der Gott, der nicht bildlich dargestellt werden kann, darf nicht mit Hilfe eines Bildnisses verehrt werden.
– Gottes geheimnisvoller Name darf nicht für Nichtiges missbraucht werden.
– Die Verehrung der Götter eines anderen Volkes ist ausgeschlossen.

Die zweite „Tafel“ legt gesellschaftliche Regeln fest, die die gewonnene Freiheit schützen und dem Fortbestand der Gemeinschaft sicherstellen sollen. So werden der Mord, das Eindringen in eine bestehende Ehe, das Begehren fremden Eigentums und die Falschaussage vor Gericht sanktioniert.

Einen verbindenden Charakter zwischen beiden Tafeln nimmt das Gebot der Heiligung des Sabbats ein. Diese Vorschrift gehört sowohl in den Gottesdienst, verschafft aber zugleich den abhängig Beschäftigten, den Mägden, den Knechten und den Fremdarbeitern, ja sogar den Nutztieren, einen arbeitsfreien Tag.

Damals wie heute: Die Freiheit braucht Schutz

Diese Situation der jüdischen Gemeinschaft in vorchristlicher Zeit hat mit der unserer Lerngruppen erstmal nichts gemein. Männlich ist nur die Hälfte der Lernenden; erwachsen, rechtsfähig, verheiratet und besitzend noch viel weniger von ihnen. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit: Die Jungen verbindet mit den ersten Adressaten des Dekalog ihr Wille, die Freiheit zu verteidigen, die sie gerade im Begriff sind zu erlangen oder erlangt haben.

Welche Autorität haben die Zehn Gebote?

Es ist kompliziert: Für die historisch kritische Bibelforschung sind die Zehn Gebote das Ergebnis einer kollektiven Besinnung. Menschen gaben sich Regeln, die ihrer Gemeinschaft die Zukunft sicherte. Wie konnte gegenüber den Nachbarvölkern das Alleinstellungsmerkmal Israels unterstrichen werden? Durch Einhaltung des Sabbatgebotes. Was sicherte die Bewahrung des “Generationenvertrags” zwischen den Jungen und Alten? Die Verehrung und Versorgung der alten Eltern (Du sollst Vater und Mutter ehren!). Welche Haltung schützte das bescheidene Eigentum der Menschen? Es war die Beachtung des Gebots Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

Andererseits erzählt die Bibel, dass Gott den Dekalog selbst – in Steintafeln gemeißelt – seinem Propheten Mose übergab. So wurde er zum Kernstück der Tora und zu einem Dokument der göttlicher Offenbarung. In nachbiblischer Zeit wurden die Gebote wichtigster Teil einer Regelsammlung der Kirche und fanden Eingang in die Katechismen. So wurden sie zum Grundlagendokument einer christlichen und kirchlichen Ethik. Zumindest die zweite Tafel der Gebote beansprucht universelle Geltung.

Für die Wertebildung junger Menschen ist die Begegnung mit Geboten unverzichtbar, die universelle Geltung für sich beanspruchen

Erst im Unterricht wird deutlich, dass das kein Widerspruch ist. Denn ethisches Lernen ist keine Übernahme überkommener Werte, auch dann nicht, wenn sie im Gewand göttlicher Gebote daherkommen. Andererseits ist es falsch, den Dekalog nur als Anregung für eine humane Gestaltung der Gesellschaft zu empfehlen. Ohne die Konfrontation mit dem Anspruch der Gebote, von Gott selbst den Menschen aufgegeben zu sein, ist die Ausbildung eigener Werte und Normen kaum möglich. Ethische Bildung braucht diese Herausforderung. Wenn aber klar ist, dass der Dekalog als Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses dennoch eine göttliche Weisung sein will, kann ein vertiefter ethischer Diskurs beginnen, der sie nicht als zeitbedingte Regeln geringschätzt.

Nicht alles, was für das Zusammenleben der Menschen damals wichtig war. bedurfte einer schriftlichen Form. Die Autorität des Familienoberhaupts beispielsweise war selbstverständlich. In den Zehn Geboten sind deshalb nur solche Regeln festgehalten, deren Einhaltung in Frage standen und sichergestellt werden mussten. Mag es damals nur Weniges gewesen sein, was als Gesetz festgeschrieben werden musste, so ist es heute Vieles. Die Verpflichtung zum Frieden, die Verantwortung für die Armen, die Gastfreundschaft gegenüber Fremden und der Schutz der Kinder sind im Dekalog ebenso wenig thematisiert wie die Gleichwertigkeit der Geschlechter, die Toleranz gegenüber Minderheiten und der Schutz der Umwelt. Die Zehn Gebote bieten zwar in unüberbietbarer Weise Formulierungen für Grundwerte, die auch für gegenwärtige Kontexte relevant sind, sie decken aber nur einen Teil des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart ab. Wir brauchen weitere Gebote. Können die Grundentscheidungen des Dekalogs helfen, sie zu formulieren?

Wir brauchen eine Ethik, die nicht nur fragt, was richtig ist, sondern auch, was wichtig ist.

Schon Kinder können anfangen, darüber nachzudenken, was richtig und wichtig ist. Jugendliche und junge Erwachsene vertiefen diese Gedanken im Unterricht. Eine solche ethische Reflexion ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Werte leben, die sie selbst als hilfreich, gemeinschaftsdienlich und human erkennen. So kann der Religionsunterricht doch noch der Aufgabe gerecht werden, die die Gesellschaft von ihm erwartet: christliche Werte zu vermitteln.

Literatur:
Rudolf Englert: Posttraditionaler Umgang mit Tradition. Was soll das heißen?
Hans Mendl/Oliver Reis: Zwischen Ehtik und Moral
Hanns Illge: Der Dekalog in aktualisierenden Katechismusformeln rekonstruiert
alle in: Büttner, Mendl, Reis, Roose (Hg): Religion lernen, Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Band 4: Ethik
Friedrich Schweitzer: religiöse Bildung ohne Ethik? Zur ethischen Dimension des Religionsunterrichts, in: Englert/Kohler-Spiegel/Naurath/Schröder/Schweitzer: Ethisches Lernen. Jahrbund der Religionspädagogik, Band 31, 2015
Jürgen Ebach: Die Freiheit bewahren – der Dekalog, in: Zimmermann/Lenhard, Was tun? Ethische Fragestellungen im Religionsunterricht


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Title: Eine Ethik, die nicht nur fragt, was richtig, sondern auch was wichtig ist. Religionspädagogische Überlegungen zu den Zehn Geboten
URL: https://horstheller.wordpress.com/2025/03/08/zehn-gebote/
Source: Horst Heller
Source URL: https://horstheller.wordpress.com
Date: March 8, 2025 at 06:39AM
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