Ein Blick in die Bildungssysteme anderer Länder kann bereichernd sein. Alexander Brand hat sich deshalb nach seinem Lehramtsstudium fünf Monate in Estland, Finnland, Japan und Singapur aufgehalten, um die Schulsysteme der PISA-Siegerländer zu erkunden. Ein Gespräch über die Suche nach dem größtmöglichen gemeinsamen Nenner.
17.07.2023
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Wenn es in Deutschland um notwendige Veränderungen im Schulsystem geht, wird häufig nach Finnland geblickt, wo SchülerInnen bei internationalen PISA-Vergleichstests meist sehr gut abschneiden. Sie haben nicht nur Schulen in Finnland besucht, sondern zusätzlich auch noch ein Semester in Finnland studiert. Was hat Sie dort besonders beeindruckt?
In Finnland absolvieren Lehramtsstudierende kein Referendariat, sondern es gibt während des fünf Jahre dauernden Studiums Praxisphasen von anfangs wenigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten. In dieser Zeit unterrichten die Studierenden an einer von elf so genannten Übungsschulen im Land, die jeweils einer Universität zugeordnet sind. Sie übernehmen einen Großteil des normalen Unterrichts und werden von erfahrenen Lehrkräften eng betreut.
Alexander Brand nutzte sein Lehramtsstudium, um möglichst oft über den Tellerrand zu blicken: Er absolvierte zwei Auslandssemester und mehrere Praktika im In- und Ausland und begab sich anschliessend auf eine Reise zu den Bildungsweltmeistern, über die er in seinem Blog berichtete. Heute unterricht er Mathematik und Physik an einem Hamburger Gymnasium.
Diese unterrichten selbst nur circa fünf Stunden die Woche und sind neben der Lehrerausbildung auch verpflichtet, zur Bildungsforschung beizutragen. Sie kennen sich dadurch mit dem aktuellen Forschungsstand aus und behandeln selbst wissenschaftliche Fragen, die sich aus der pädagogischen Praxis ergeben, was wiederum Auswirkungen auf den Unterricht haben kann.Das zahlt sich sowohl für die Studierenden als auch für Lehrkräfte von anderen Schulen aus, die sich an den Übungsschulen fortbilden. In Finnland gilt es als selbstverständlich, dass Lehrerinnen und Lehrer in den Methoden der Bildungsforschung ausgebildet sind und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen.
Bedeutend ist außerdem die Betonung der Teamarbeit. Beim Auswahlverfahren für einen Studienplatz fürs Lehramt muss man nach einer schriftlichen Prüfung in einer zweiten Phase unter Beweis stellen, wie man sich bei einem Gruppeninterview einbringt und mit anderen diskutiert. Im Studium verlangen die allermeisten Kurse in irgendeiner Form Teamarbeit, Praxisphasen werden zum Teil im Tandem absolviert.
Teamarbeit spielt nach Ihren Beobachtungen auch im japanischen Schulsystem eine große Rolle.
Das stimmt. In Japan ist die Lesson Study als Methode der Unterrichtsreflexion weit verbreitet. Um es vereinfacht auszudrücken: Eine Lehrkraft unterrichtet und 20 Kolleginnen und Kollegen schauen zu. Für uns ist das wahrscheinlich ein kultureller Schock, denn wir verbinden aus dem Referendariat mit solchen Situationen Prüfungsstress und sind froh, wenn die Zeit der Unterrichtsbesuche vorbei ist. Japanische Lehrkräfte bereiten dagegen im Team zu einer bestimmten Fragestellung eine Unterrichtsstunde vor, die dann von einem Mitglied des Teams gehalten und von den anderen aufmerksam verfolgt wird.
Dabei liegt das Augenmerk der Lehrkräfte auf der gezielten Beobachtung der Schülerinnen und Schüler, um besser zu verstehen, wie deren Lernprozesse im Unterricht aussehen. Im Anschluss an die Stunde wird diese gemeinsam ausgewertet. Es wird viel über die Beobachtungen diskutiert und die Erkenntnisse werden dokumentiert mit dem Ziel, den Unterricht zu verbessern. Es gibt solche Lesson Study-Stunden intern für das Kollegium einer Schule als auch für Lehrkräfte, die von anderen Schulen kommen, um an einer öffentlichen Lesson Study teilzunehmen. Sie sind zentrales Element der Fortbildungen und werden viel genutzt.
Alexander Brand hat sich Schulen bei den PISA-Siegern Estland, Finnland, Japan und Singapur angeschaut und beim Gespräch mit Lehrkräften festgestellt, dass es eine große Bereitschaft zur Teamarbeit und Reflexion über den eigenen Unterricht gibt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, was im Interesse der Schülerinnen und Schüler verändert werden kann. Eine Rolle spielt dabei zum Beispiel in Japan die genaue Beobachtung der Kinder und Jugendlichen durch Kolleginnen und Kollegen, um besser zu verstehen, wie die Lernprozesse ablaufen.
Auch in Singapur haben Sie eine starke Zusammenarbeit von Lehrkräften sowie umfassende Fortbildungsmöglichkeiten festgestellt. Wie sehen die konkret aus?
In Singapur nehmen alle Lehrkräfte während ihrer Arbeitszeit an wöchentlichen professionellen Lerngemeinschaften teil. Manchmal sind sie nach Fächern, manchmal nach Klassenstufen organisiert. In Teams arbeiten sie zum Beispiel an einer didaktischen Idee und deren Umsetzung im Unterricht. Ich war beim 90-minütigen Treffen von sechs Mathematiklehrkräften aus der 9. Klasse dabei, die an einer Projekteinheit zum Thema exponentielles Wachstum arbeiteten, wofür SchülerInnen beobachten sollten, wie sich Schimmel über mehrere Wochen auf Toastbrot ausbreitet. Dazu sollten sie eine Funktion finden, die das Wachstum am besten beschreibt. Kontrovers diskutiert wurde, wie die Arbeitsaufträge genau formuliert werden sollten. Ich war von der hohen Qualität der didaktischen Diskussion überrascht.
Die Bedeutung der Fortbildung wird dadurch unterstrichen, dass Lehrkräfte Anspruch auf 100 Stunden Weiterbildung pro Jahr als bezahlte Arbeitszeit haben und es viele Gelegenheiten zur kollegialen Hospitation gibt. Ermöglicht wird dies dadurch, dass die Unterrichtsverpflichtung im Vergleich zu Deutschland um etwa ein Drittel geringer ist. Lehrkräfte, die eine so genannte didaktische Laufbahn (engl. „teaching track“) eingeschlagen haben, sind an den Schulen Ansprechpartner für Weiterbildungen und öffnen ihre Klassenzimmertüren für andere, um neue Lehrmethoden zu demonstrieren. Alle angehenden Schulleiterinnen und Schulleiter sind verpflichtet, das Bildungssystem eines anderen Landes zu besuchen.
Singapur ist im Vergleich mit Estland ein sehr reiches Land. Hat das Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen von estnischen Lehrkräften?
In Estland haben Lehrkräfte nur Anspruch auf den normalen Urlaub, Weiterbildungen finden in der unterrichtsfreien Zeit in den Ferien statt. Außerdem ist die Bezahlung so schlecht, dass viele Lehrkräfte mit einer vollen Stelle nicht auskommen und zusätzlich Unterricht erteilen. Gerade ältere Lehrerinnen und Lehrer haben ein hohes Arbeitsethos – sie fühlen sich oft verpflichtet, am Nachmittag in der Schule denjenigen Kindern und Jugendlichen zu helfen, die nicht gut im Unterricht mitkommen. Auffällig ist, dass die in Estland verbreitete Digitalisierung im Unterricht auch für ältere Lehrkräfte kein Problem ist – sie wurden umfassend fortgebildet.
Sie haben gerade Ihr Referendariat erfolgreich beendet und werden nun an einer Stadtteilschule in Hamburg Mathematik und Physik unterrichten. Gibt es Dinge, die Sie auf Ihrer Bildungsreise kennengelernt haben und die Sie künftig an Ihrer Schule anwenden werden?
Ich habe häufig beobachtet, dass Lehrkräfte im Ausland Methoden eingesetzt haben, die den Lernstand aller Schülerinnen und Schüler auf einmal sichtbar gemacht haben – und dann ihren Unterricht entsprechend angepasst haben. Dieser Ansatz wird in der Bildungsforschung als formatives Assessment bezeichnet. Digitale Medien sind dabei oft sehr hilfreich!
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: Klett Themendienst Nr. 116 (7+8/2023)
Title: Finnland, Singapur, Japan: Unterricht bei den PISA-Spitzenreitern
URL: https://bildungsklick.de//schule/detail/finnland-singapur-japan-unterricht-bei-den-pisa-spitzenreitern
Source: bildungsklick
Source URL: https://bildungsklick.de
Date: July 17, 2023 at 01:51PM
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