Frieden | Ist es schon tabu, die Kriegslogik zu hinterfragen?
Wer den Meinungskorridor zum Krieg verlässt, erntet Spott und Hass. Das ist verhängnisvoll
Alle Ethik lebt vom Argument, also vom Willen, einander verstehen zu wollen. Dies gilt insbesondere für die Friedensethik. Nach Jahrhunderten der Kriegserfahrung war sich ein Großteil ihrer Vertreterinnen und Vertreter in einem wesentlichen Punkt einig: Wer militärische Konflikte verhindern möchte, muss auf die Herrschaft des Rechts vertrauen. Kein anderer Gedanke stand hinter der Gründung supranationaler Institutionengefüge wie der UNO oder der EU. Verfochten wurde die Idee dahinter mitunter von Immanuel Kant, dessen Ideal für eine weltumspannende Ordnung in einem Völkerbund bestand. Oder von Staatsmännern vom Schlage eines Otto von Bismarck, der früh das Bonum einer föderalen Struktur erkannte.
Doch wie stark wirken solche auf Dialog und gegenseitiger Abhängigkeit basierenden Gebilde, wenn ihnen die Vollzugskraft fehlt? Wladimir Putins Feldzug zeigt uns schmerzlich, dass es keine Weltpolizei gibt und die abendländische Geschichte des Völkerrechts an ihr Ende gekommen zu sein scheint. Desillusioniert sieht sich der Westen in der Rolle, dem Aggressor mit dessen eigenen Mitteln zu begegnen. Die Wehretats werden aufgestockt, schweres Geschütz zuhauf eingesetzt. Flankiert wird diese reaktive Politik durch eine diskursive Verengung. Die Hauptfragen lauten nur noch: Wer liefert wann wie viele Haubitzen, Panzer und Raketen? Alles andere tritt in den Hintergrund – mit der durchaus plausiblen Begründung, dass jeder in seiner Souveränität gefährdete Staat sich verteidigen können muss.
Was in der Diskussion zu kurz kommt, ist die Einsicht, dass mit der Aufrüstung der demokratischen Nationen schon eine Strategie Putins aufgegangen ist, fußt doch dessen Weltbild vor allem auf maskulinem Kräftemessen. Der Antidiplomat kennt nur das Prinzip der Balance, der Aufteilung des Planeten in Einflusssphären, des Gleichstandes der abschreckenden Mittel. Indem der Westen in die Spirale des Wettrüstens einsteigt, folgt auch er Putins Imperativ: Lasst die Gewalt die Sache regeln!
Diese Militarisierung in der Öffentlichkeit zumindest mit Skepsis zu betrachten, ist inzwischen fast tabu. Intellektuelle wie Ulrike Guérot oder Richard David Precht haben in massiven Shit-Gewittern erfahren, wie ethische Optionen jenseits des geltenden Meinungskorridors zum Konflikt diffamiert werden. Dabei erweisen sich deren Überlegungen weder als naiv noch privilegiert.
Erstere hatte zuletzt in Tweets gefragt, warum die Verabsolutierung des Lebens zulasten der Freiheit in der Corona-Pandemie nun umgekehrt werden konnte, zumal es im militärischen Konflikt mit Russland einzig und allein um ein Freiheitsnarrativ geht. Der Philosoph dachte hingegen schon früh in seinem Podcast mit Markus Lanz darüber nach, ob eine Kapitulation der Ukraine nicht ohnehin unausweichlich sei und zumindest viele Leben retten würde. Er steht mit seiner unpopulären Überlegung nicht allein auf weiter Flur. Große Ethiker haben schon in früheren Zeiten ähnlich argumentiert. So etwa der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, der in einem Essay so klar wie radikal einfach konstatiert: „Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen. Das Grundprinzip der Ethik ist also Ehrfurcht vor dem Leben.“
Wir werden zu Getriebenen
Diese Positionen auf eine binäre Logik à la pro oder contra Ukraine zu reduzieren, zeugt nicht nur von einer banalen Kommunikationskultur. Sie lässt sich vielmehr als Tod des Ethischen deuten und ist überdies Ausweis einer fehlenden Werteorientierung des Westens, der sich indessen allein in der Rolle der Mitverantwortung sieht, ohne über eine Selbstverantwortung zu verfügen. Er hat, um es zugespitzt zu sagen, das Vertrauen in seine eigene intellektuelle Standhaftigkeit verloren, indem er ein zumindest nicht unproblematisches Narrativ der abstrakten Demokratieverteidigung auf Kosten vieler Existenzen gebraucht. Jeder Tag Krieg mit mehr Waffen und Gegenwehr beraubt eben auch Kinder, Frauen und Männer ihrer Chancen auf Zukunft. Müssen wir demnach nicht viel mehr über die Bedeutung der Unversehrtheit des Einzelnen reden, anstatt unsere Aufmerksamkeit vor allem auf den Systemwettbewerb zwischen Demokratie und Autokratie zu richten?
Sicher ist: Selbst in der gebotenen Unterstützung der Ukrainer bedarf es einer neuen Offenheit für ethische Abwägungen und Zukunftsdebatten. Wir sollten jetzt darüber sprechen, warum eine Rechtsarchitektur diesen Krieg nicht verhindern konnte und wie eine wirksame Prävention zur Eindämmung von morgigen Konflikten aussehen müsste. Andernfalls drohen wir zu Getriebenen zu werden. Man muss sich nur Friedrich Schillers zeitlosen Wallenstein vergegenwärtigen, um die Folgen einer rein reaktiven Politik zu studieren. Gewahr werden wir darin dem titelgebenden Feldherrn auf dem Gipfel seiner Kraft. Zerrissen zwischen der Kaisertreue und einem potenziellen Ausbau der eigenen Macht verharrt der Herzog in seiner Unentschlossenheit. Und zwar so lange, bis er vom Schicksal eingeholt und von seinen engsten Vertrauten gemeuchelt wird. Dass der Held untergeht, hängt zum einen mit mangelndem inneren Überzeugungswillen, zum anderen mit seinen Scheuklappen gegenüber allen äußeren Warnungen zusammen. Neudeutsch würde man sagen, er sei in seiner Bubble gefangen. Das Trauerspiel versteht sich somit schlussendlich als ein Lehrstück für eine selbstsichere und antizipative Kunst der Staatslenkung.
Doch eine an der Wehrhaftigkeit orientierte Ethik muss nicht zuallererst bei der Art des Regierens ansetzen, sie kann sich auch auf der Ebene individuellen Ungehorsams manifestieren. Viele Friedensphilosophen und -philosophinnen, deren Stimmen im chorischen Ruf nach mehr Waffengewalt derzeit kaum Gehör finden, propagierten den passiven Widerstand. Und dies häufig mit Erfolg. Man denke nur an Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Desmond Tutu oder Nelson Mandela. Gewaltlos bedienten sie sich diverser Formen des Protests – und konnten die Dominanz machtiger Okkupanten und Usurpatoren brechen.
Auch solcherlei Protest erweist sich als zielführend, bekundet er doch, dass eine geografische Inbesitznahme längst noch keine stabilen Verhältnisse für Invasoren verspricht. Ihr wirksamstes Mittel: das der Überraschung. Sei es der indische Salzmarsch gegen die britische Kolonialmacht 1930, sei es der Boykott öffentlicher Busse durch People of Color nach der Festnahme von Rosa Parks 1955 in Alabama, die einem weißen Mitbürger den Sitzplatz verwehrte. Oder seien es die vielen individuellen Kleinrevolten wie die eines Henry David Thoreau: Um seinen Unmut über den Rassismus kundzutun, zahlte er schlicht keine Steuern mehr. Dass er dafür 1846 im Gefängnis landete, dürfte zumindest für den sich noch weiter entwickelnden Pazifismus ein Gewinn gewesen sein, entstand doch während dieser Zeit seine wegbereitende Schrift Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.
Viele derartige Beispiele weist die Geschichte des letztlich bis in die Antike zurückreichenden zivilen Ungehorsams auf. Wohl waren die vielfältigen Aktionen deswegen so erfolgreich, weil sie die Aggressoren und Tyrannen mit ihnen unbekannten Instrumenten unter Druck zu setzen wussten. Operierten diese nämlich zumeist allein mit dem Schwert, setzten die rebellischen Geister auf Kreativität. Dadurch ließen sich Kriegsstrategien unterwandern und Solidarisierungsbewegungen hervorrufen. Truppen- und Waffenstärke galten dann nicht mehr als die ausschlaggebenden Argumente für die Beantwortung der Frage nach Sieg oder Niederlage.
Es versteht sich von selbst, den Ukrainerinnen und Ukrainern keine Ratschläge aus einer privilegierten Position heraus zu erteilen. Doch um in diesem Krieg gegenüber allen beteiligten Parteien angemessen zu agieren, sollte man zuvorderst selbst eine ehrliche und profunde Haltung entwickeln, als Westen, als Deutschland. Dafür scheint eine neue Bereitschaft zur ethischen Auseinandersetzung geboten, die Friedenstheoretikerinnen und -theoretiker einbezieht. Alles andere liefe letztlich auf eine Politik der Angst hinaus, die sich verzweifelt um eine (brüchige) Stabilität bemüht. Denn wie schrieb doch der große Theologe Dietrich Bonhoeffer einst: „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden.“ Mut sollten wir daher nicht nur den anderen zusprechen, wir sollten ihn von uns selbst einfordern.
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June 29, 2022 at 04:14AM