Gemeinde legt Sabbatjahr ein

Kirche im Pausenmodus: In der Kapellengemeinde in Heidelberg äußerten die Mitarbeiter ihre Unzufriedenheit über die hohe Arbeitsbelastung. Die Gemeindeleitung entschied sich für einen radikalen Schritt: ein Sabbatjahr.

Die evangelische Kapellengemeinde in Heidelberg entschied sich im Reformationsjahr 2017, einen anderen Weg zu gehen und plante ein „Sabbatjahr“: ein Jahr lang keine besonderen Veranstaltungen, Reduktion von Festen, keine „Highlight-Gottesdienste“, keine Erscheinung in der Öffentlichkeit, stattdessen Konzentration auf das Kerngeschäft. Also: Bauhaus statt Barock. Schlichtheit statt Feuerwerk. Konzentration statt Verzettelung. Diese Entscheidung brachte nachhaltige Konsequenzen sowohl für die Organisation der Gemeinde also auch für die in der Gemeinde lebenden und mitwirkenden Personen, eine Veränderung der Organisationskultur.

Die Kapellengemeinde ist eine Profilkirche, sie ist die „Diakonie-Kirche für Heidelberg“. Und sie ist zwischen 2005 und 2015 sogar gegen den allgemeinen Trend gewachsen: an Mitgliedern, an Gottesdienstbesuchern, an Veranstaltungen und an Umsatz. Trotz oder wegen dieser Entwicklungen gab es eine latente Unzufriedenheit in der Gemeinde: Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Feste zu gewinnen wurde schwieriger, sie setzten selbstbewusst Grenzen, wie viel und wann sie sich engagieren können; Gemeindemitglieder, die in ihrem Alltag beruflich und außerberuflich eingespannt sind, äußerten den Wunsch, dass Kirche für den Sonntag und die Entspannung sorgen und nicht die schon bestehende Anspannung noch weiter verschärfen sollte.

Warum ein Sabbatjahr?

Im Ältestenkreis, dem Leitungsgremium der Diakoniekirche, sitzen Vertreterinnen und Vertreter von Diakonie und Kirche. Hier wurde wahrgenommen, dass sowohl in Diakonie als auch in Kirche immer mehr „gerannt“ wird: ob bei zahlreichen Veranstaltungen im Rahmen des Reformationsjahres, auf der Station eines Krankenhauses oder in einer Suchtberatung: Rennen gehört in Diakonie und Kirche häufig zum Alltag. Der Ältestenkreis setzte dem theologisch entgegen, dass die Kirche das wandernde Gottesvolk sei, aber nicht das rennende Gottesvolk und dass Kirche und Diakonie doch mehr als Rennen und das Erreichen von Zielen sein müsse.

Die Kapelle versteht sich auch als Werkstattkirche, die bereit ist, Neues auszuprobieren. Bei einer Rüste des Ältestenkreises und einer weiteren Sitzung wurde das Thema „Rennen in Diakonie und Kirche“ grundsätzlich diskutiert und am Ende stand der Beschluss, dass die Kapelle im Sabbatjahr keine neuen Projekte initiiert, sondern dass es für die Kapelle als Werkstattkirche von Diakonie und Kirche dran ist, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen und eine Pause zu machen. Einstimmig beschloss der Ältestenkreis der Kapellengemeinde im Herbst 2016 ein „Sabbatjahr“, das am 1. Januar 2017 begann.

Beschlossen wurde, dass die Kapelle sich in ihrem Sabbatjahr auf ihr Pflichtprogramm konzentriert: dazu gehören Gottesdienste (allerdings ohne „Highlight-Gottesdienste“), der tägliche Treff „manna“ für Menschen in Armut, Religionsunterricht, Kasualien, Seelsorge und KiTa-Pädagogik. Es ging darum, die Kür in der Pflicht zu suchen und zu finden. Drei Voraussetzungen für ein Sabbatjahr wurden im Ältestenkreis festgestellt:

1. Wir glauben an die heilsame Wirkkraft des Sabbats als Geschenk Gottes.

2. Wir glauben, dass Kirche mehr ist als ihre besonderen Veranstaltungen.

3. Wir glauben, dass es innere Überwindung braucht, um aufzuräumen, dass beim Aufräumen auch Dinge und Fragen zutage treten können, die man sich nicht wünscht und dass Aufräumen grundsätzlich hilft.

Die Idee gut kommunizieren

Der Gemeindepfarrer ging nach der Entscheidung in die Gemeindegruppen, informierte über das Vorhaben und lud die Gruppen dazu ein, sich selbstständig und freiwillig dem Sabbatjahr anzuschließen. Den Gruppen wurde überlassen, selbst zu bestimmen, ob sie mitmachen, beziehungsweise wie viel sie im Sabbatjahr loslassen wollen. In der Kommunikation wurde darauf geachtet, dass von „Sabbat“ und „Pausen“ gesprochen wurde. Nicht verwendet wurde beim Wording „beenden“ oder ähnlich radikale Begriffe.

Im Winter wurde in zwei Predigten das bevorstehende Sabbatjahr theologisch reflektiert und Mitte Januar 2017 zu einer Gemeindeversammlung eingeladen. Da das Thema „Sabbatjahr“ inzwischen gut kommuniziert war, wurde der Beschluss des Sabbatjahres in der Gemeindeversammlung einhellig begrüßt. Im Gemeindebrief, der im Februar 2017 erschien, wurde das Sabbatjahr weiter kommuniziert. Weiter wurde das Sabbatjahr im wöchentlichen „Dienstgespräch“ immer wieder reflektiert, in dem sich die haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter der Kapellengemeinde treffen. Außerdem ging der Ältestenkreis im März auf eine zweitägige Rüste, um das Thema „Unterbrechung“ zu diskutieren. Im Herbst 2017 wurde das Sabbatjahr dann in einer weiteren Gemeindeversammlung ausgewertet. Welche Reduktionen beinhaltete das Sabbatjahr?

  • Keine „Highlight-Gottesdienste“, sondern Kirchenjahr
  • Keine Konzerte externer Musiker
  • Kein „manna-Fest“ am 1. Mai
  • Kein zweitägiger Gemeinde-Bazar im Herbst
  • Kein Weihnachtsessen mit Festkonzert am 1. Weihnachtstag
  • Kein Osterfrühstück
  • Keine sozialpolitische Podiumsdiskussion
  • Keine Herbst-Ausstellung einschließlich Vernissage
  • Nur zwei statt sonst vier Gemeindebriefe. Diese widmeten sich dem Sabbatjahr: Der erste thematisierte das Sabbatjahr für die Organisation, im zweiten schilderten Gemeindemitglieder und Mitarbeiter ihre persönlichen Erfahrungen mit Unterbrechung, Sonntag und dem Sabbatjahr.
  • Fast keine Presse: Nur am Anfang des Jahres berichtet die lokale Presse über das Vorhaben des Sabbatjahres
  • Nichts Neues anfangen: keine neuen Ideen

Mit dem Kopf ganz da

Die haupt- und nebenamtlichen Mitarbeiter stellten im Sabbatjahr fest, dass die Arbeit sich quantitativ nicht veränderte, niemand reduzierte seine Arbeitszeit. Qualitativ veränderte sich die Arbeit aber wesentlich. Der Küster formulierte es dem Pfarrer gegenüber so: „Vor dem Sabbatjahr waren Sie und die Kirchenältesten in Gottesdiensten und Veranstaltungen zwar physisch da, aber ich hatte den Eindruck, dass Sie im Kopf schon bei der nächsten Veranstaltung waren. Wenn ich Sie jetzt im Sabbatjahr im Gottesdienst erlebe, habe ich den Eindruck, dass Sie und die Kirchenältesten auch mit Ihrem Kopf im Gottesdienst sind.“

Weil weniger Veranstaltungen organisiert werden mussten, veränderte sich die Arbeit: Der Aufwand für Organisation und Management ging zurück, es gab zum Beispiel mehr Zeit, um den Religionsunterricht und den Gottesdienst vorzubereiten. Ohne die sonstige Hektik weitete sich der Blick für Dinge in der Organisation, die in Ordnung gebracht werden müssen. In der Kapellengemeinde begann im Sabbatjahr das große Aufräumen:

  • Räume: Aufgeräumt wurden das Büro des Pfarrers, das Pfarramt, das Büro der manna-Leitung, die Tee-Küche, die Sakristei, Wandschränke, Keller und verschlossene Schränke. Staub wurde ausgekehrt, ein neues, wärmeres Licht wurde an den Decken angebracht.
  • Die EDV-Ablage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde neu sortiert, dadurch wurden Zuständigkeiten und Verantwortung geklärt.
  • Im Pfarramt wurden die Leitz-Ordner um 75 Prozent reduziert. Das Aufräumen schuf neuen Raum und neue Ordnungssysteme. Das wirkte sich langfristig zeitsparend aus und sorgte für ein besseres Arbeitsklima.
  • Ehrenamt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fanden heraus, dass ihr Herz für andere Tätigkeiten schlägt. Eine Mitarbeiterin der Festorganisation begann zum Beispiel eine Ausbildung zur Notfallseelsorgerin und ist mit dem neuen Arbeitsfeld zufriedener als mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit vor dem Sabbatjahr.
  • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten das Outlook-Posteingangsfach leer. Eingehende Mails wurden nun sofort bearbeitet bzw. delegiert oder gelöscht. Dies ersparte in Folge viel Zeit, da Mails nicht mehrfach geöffnet werden, keine Entschuldigungen mehr geschrieben werden müssen, warum man sich erst jetzt darum kümmere.
  • Es entstand eine neue Fehlerkultur: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlten sich auch selbst bei der Arbeit „aufgeräumt“ und engagierten sich beim Finden von Fehlern und unaufgeräumten Bereichen.
  • Finanzen: Beim Aufräumen der Finanzen wurde Einsparpotential im vierstelligen Bereich gefunden.

Raus aus der Leistungsorientierung

1. „Wir glauben an die heilsame Wirkkraft des Sabbats und dass er ein Geschenk Gottes ist.“ Der Sabbat wird in der Bibel als Ziel der Schöpfung in sieben Tagen in 1. Mose 1 geschildert: Nach sechs Tagen, in denen Gott die Welt erschuf, ruhte er aus. Nichts zu tun wird als eigener Wert erkannt. Diesen Wert greift das Grundgesetz auf, wenn es den Sonntag als Tag zur „seelischen Erhebung“ kennzeichnet.

2. „Wir glauben, dass die Kirche mehr ist als ihre Veranstaltungen.“ Hier steht nicht mehr ein Leistungsdogma im Vordergrund, der Druck, immer wieder hervorragende Leistungen zu erbringen, sondern Kirche und Gemeinde wird erkannt als organische Organisation mit Kultur, Werten und Komplexität.

Leistung und Leistungskontrolle, auch die Überprüfung von Qualität, haben ihre Berechtigung. Nur: Wann und wie oft und wie differenziert dieser Weg einzuschlagen sei, welche Kriterien man ansetzt, zum Beispiel qualitative oder rein quantitative, wer über diese Kriterien abstimmen darf und so weiter – bedarf einer Reflexion.

3. „Wir glauben, dass es innere Überwindung braucht, um aufzuräumen, dass beim Aufräumen auch Dinge und Fragen zutage treten können, die man sich nicht wünscht und dass Aufräumen grundsätzlich hilft.“ Vielleicht hat die Kapellengemeinde in ihrem Sabbatjahr beim Aufräumen ihrer Gemeinde grundsätzliche Fragen einer leistungsorientierten Gesellschaft aufgedeckt? Die Evangelische Kirche befindet sich wohl zurzeit in einer Identitätskrise: Kirchenaustritte, Reduktion von Gebäuden, Fragen nach ihrem Sinn in einer säkularen Gesellschaft.

Identitätskrisen bei Personen (zum Beispiel Pubertät, Midlife-Crisis …) sind nicht per se schlecht – es kommt nur darauf an, wie man hindurchkommt. Sie können auch eine Entwicklung bedeuten. Wenn Kirche derzeit eine Identitätskrise hat, dann war das Sabbatjahr der Kapellengemeinde vielleicht auch ein Loslassjahr, ein Trauerprozess zur Verabschiedung eines alten Bildes von Kirchengemeinde im Sinne eines bunten Bauchladens, der allen alles bieten soll und kann.

Florian Barth ist Pfarrer der Kapellengemeinde, der Diakoniekirche für Heidelberg. Er ist stellv. Dekan der Evang. Kirche in Heidelberg, Organisationsberater und Supervisor der Evang. Landeskirche in Baden. Zusammen mit Annemarie Bauer hat er einen umfangreichen Beitrag zum Thema „Eine Gemeinde macht ein Sabbatjahr. Sich erden müssen als Folge einer Überbietungskultur?“ (In: Diakoniewissenschaft in Forschung und Lehre, 46. Jahrgang, 2018) veröffentlicht.


Ausgabe 2/23

Dieser Artikel ist im Kirchenmagazin 3E erschienen. 3E ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.

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Title: Gemeinde legt Sabbatjahr ein
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Date: May 17, 2023 at 11:02AM
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