Gemeinde nach Corona: Menschen zurückholen – aber wie?
Viele Menschen haben sich während der Corona-Pandemie aus ihren Gemeinden zurückgezogen. Autorin Debora Kuder hat sich umgehört, was sie wiederkommen lässt.
Zu unserem Gemeinde-Jubiläum hatten wir eine ganze Reihe Ehemaliger eingeladen. Wegbegleiter von früher, die jahrelang Teil unserer Gemeinde gewesen waren. Umzug, berufliche Verpflichtungen, persönliche Veränderung – das waren einige der Gründe, warum sie die Gemeinde verlassen hatten. Ich stand gerade an der Spülmaschine, als eine derjenigen dazukam, die jahrelang Teil des harten Kerns unserer Gemeinde gewesen waren. Engagiert, fröhlich, herzlich. „Komm, ich helfe dir!“, meinte sie und griff nach einem Geschirrtuch. Sie und ihre Familie hatten sich noch vor Corona aus unserer Gemeinde verabschiedet. Wie wir so an der Spülmaschine standen und quatschten – es fühlte sich an wie früher.
Die Kinder rannten herum, spielten Tischkicker, bauten auf dem angrenzenden Spielplatz Staudämme. Und wir erzählten uns, was wir in den letzten Jahren erlebt hatten, inklusive mancher epischen Tiefpunktmomente aus den Corona-Lockdowns. „Wie sieht es inzwischen bei euch aus?“, wollte ich wissen. „Habt ihr eine neue Gemeinde gefunden?“ Die Antwort war entwaffnend ehrlich: „Wir haben festgestellt, dass es uns eigentlich ohne Gemeinde ganz gut geht“, meinte sie. „Ich weiß immer noch nicht, ob ich das eigentlich okay finden darf oder nicht. Aber so ist es gerade.“
Corona fordert Gemeinden heraus
Gemeinde – ein komplexes Thema. Braut Christi, Ort der Lehre, Anbetung und Gemeinschaft, Kraftquelle, ein bisschen Himmel auf Erden. Zumindest ist das der Anspruch. Gemeinde in den letzten Jahren – ein noch komplexeres Thema. Die Corona-Jahre haben uns und unsere Gemeinden stark herausgefordert. Das, was früher selbstverständlich war – Veranstaltungen, Gemeinschaft, gemeinsames Singen – wurde plötzlich zum Risikofaktor.
Um trotzdem bestehen zu können, mussten sich viele Gemeinden von heute auf morgen neu erfinden. Währenddessen hat sich unsere Einstellung zum Thema Gemeinde verändert. Wie denken wir heute über Gemeinde? Welchen Herausforderungen ist Gemeinde momentan ausgesetzt? Welche Bedürfnisse sollte sie erfüllen und wie müsste sie sein, um in Zeiten wie diesen weiterhin Bestand zu haben?
Zunächst einmal finde ich es bemerkenswert, dass viele Gemeinden es geschafft haben, kreativ zu werden und ihr Angebot in kürzester Zeit an die verschiedenen Umstände der Pandemie anzupassen. Viele Gemeinden haben angefangen, ihre Gottesdienste zu streamen und Predigt-Podcasts anzubieten. Durch die Verlagerung ins Digitale haben sich auch neue missionarische Möglichkeiten aufgetan. „Bei uns hat sich die Gemeinde sehr positiv verändert“, meint Sylvia Barron. Sie und ihr Mann gehören zum „Haus der Hoffnung“ in Blaubeuren.
„Wir hatten schon vorher den Plan, einen Livestream und einen YouTube-Kanal aufzubauen. Das hat sich durch Corona beschleunigt. Wir haben es innerhalb von ein paar Wochen auf die Beine gestellt und seitdem immer weiter verbessert.“ Die digitalen Angebote sieht sie als Segen: „So ein Video kann man ganz easy seinen Arbeitskollegen schicken. Für uns ist das eine riesige Chance, die wir durch Corona bekommen haben: Uns weiterzuentwickeln, uns zu fokussieren und darauf zu schauen, wo wir als Gemeinde wirklich hinwollen.“
Zeitlich unabhängig Gottesdienst feiern
Auch andere Online-Formate haben sich als ziemlich praktisch erwiesen: Besprechungstermine am Abend zum Beispiel – gerade für Eltern von kleinen Kindern. Oder Online-Gebetstreffen – auch wenn es zugegebenermaßen nicht dasselbe ist, wie gemeinsam am selben Ort miteinander zu beten. Durch Anpassungen wie diese, die aus der Not der Corona-Auflagen geboren wurden, hat sich eine ganz neue Flexibilität ergeben.
Neulich erzählte mir eine Bekannte, dass sie als Familie den Sonntag zwischenzeitlich ganz anders gestaltet hatten – mit Ausflügen und Fahrradtouren und Gottesdienst-Schauen am Spätnachmittag. Mich hat das an unsere veränderte Mediennutzung erinnert: Während früher das Fernsehprogramm feste Zeiten vorgab, sind wir heute mit Streamingdiensten und Mediatheken zeitlich völlig unabhängig geworden.
Übervolle Terminkalender: „Wollen wir das wirklich?“
Jetzt, wo sich die Terminkalender langsam wieder so füllen wie früher, merken viele, dass sie gar nicht mehr so bereit dazu sind, zu diesem alten, vollen Leben zurückzukehren. Gerade weil Gemeindetermine bisher bei vielen von uns einen beachtlichen Teil unserer Freizeit ausgemacht hatten. Ein Bekannter von mir stellte neulich fest, dass er und seine Frau neben ihrem Engagement in der Gemeinde keine zeitlichen Kapazitäten mehr haben, sich noch anderswo einzubringen. Die Corona-Jahre haben uns die Möglichkeit geboten, einmal innezuhalten und zu fragen: Wollen wir das wirklich? Wie wollen wir unser Leben eigentlich gestalten?
Seit die allermeisten Gemeinden ihr digitales Angebot und ihren Social-Media-Outreach ausgebaut haben, haben wir rund um die Uhr Zugang zu christlichen Inhalten. Und spätestens in den Corona-Lockdowns stellten viele fest, wie gechillt ein Sonntagmorgen eigentlich auch sein kann. Wann sonst konnte man schon den Gottesdienst von der Couch aus verfolgen, womöglich noch im Schlafanzug.
Konsumgut Gemeinde
„Die Verbindlichkeit ist geringer geworden“, beobachtet Elena Schulte, Autorin und Speakerin beim Missions- und Bildungswerk Neues Leben. „Der Gottesdienst kam lange ins Wohnzimmer. Irgendwie ist das Verständnis von Gemeinde dadurch ein Stück weit mehr in eine Konsumhaltung übergegangen. Ich empfinde es so, dass viele nicht darüber nachdenken, dass sie ein Teil der Gemeinde sind. Dass Gemeinde nicht bedeutet, einen Gottesdienst abzurufen, der mir etwas bringt.“
Auch wenn inzwischen wieder Präsenzgottesdienste gefeiert werden, sind viele Christen nicht mehr in ihre Gemeinden zurückgekehrt. Dafür gibt es neben Vorsicht wegen gesundheitlicher Probleme sicherlich noch viele andere Gründe. Manche scheinen es schlicht nicht vermisst zu haben oder sehen in den Treffen vor Ort keinen Mehrwert.
Vielleicht haben es manche Gemeinden auch verpasst, nachzufragen, wie es ihnen seither ergangen ist. Und zwar wahrscheinlich deshalb, weil viele Gemeinden stark mit sich selbst beschäftigt sind. Gemeinde am Laufen zu halten, finanziell nicht abzustürzen und die Lücken in der Aufgabenliste für den Sonntag auszufüllen, ist in Zeiten wie diesen nicht selbstverständlich.
„Kein Online-Gottesdienst dieser Welt kann es ersetzen, vor Ort zu sein, gemeinsam in den Lobpreis einzutauchen und sich hinterher auszutauschen.“
Elena Schulte
„Was macht dieser Verlust an ehrenamtlichen Mitarbeitern mit unseren Gemeinden?“, fragt sich Evi Rodemann, Event-Managerin, Theologin und Gründerin des Vereins „LeadNow“: „Wenn die Arbeit jetzt auf wenigen Schultern lastet, müssen wir uns fragen, welche Aktivitäten wirklich notwendig sind. Wie viele Leute haben mir in der Corona-Zeit erzählt, dass sich trotz all ihres Engagements niemand für sie interessiert hat oder mal gefragt hat, wie es ihnen geht. Die Menschen haben es nicht vermisst, sich in der Gemeinde zu engagieren. Es ist dringend notwendig, dass wir wieder Menschen vor die Programme setzen und mehr miteinander das Leben teilen.“
Gemeinschaft ist für Evi Rodemann der Schlüssel für die Gemeinde der Zukunft: „Es wird immer große Gemeinden geben, aber ich glaube, die kleineren Gemeinden werden in Zukunft auf dem Vormarsch sein. Leute müssen sich auf Augenhöhe begegnen, sich spüren und sehen. Die Gemeinden, in denen ich Wachstum erlebe, leben genau diesen Gemeinschaftsaspekt und sind sehr missionarisch unterwegs. Es macht einen Riesenunterschied, wenn Menschen wirklich gesehen werden.“
„Gemeinde lebt von Beziehungen“, findet auch Fülke Wagner, Gemeindeleiterin der Vineyard Köln: „Ganz egal, wie gut Predigten sind, wie inspirierend Gottesdienste sind – wenn man nicht in Beziehungen eingeflochten ist, zieht Gemeinde nicht. Uns ist aufgefallen, dass nach Corona diejenigen zurückgekommen sind, mit denen wir schon vorher gut in Beziehung standen.
„Ganz egal, wie gut Predigten sind, wie inspirierend Gottesdienste sind – wenn man nicht in Beziehungen eingeflochten ist, zieht Gemeinde nicht.“
Fülke Wagner
Wir erleben aber auch, dass Menschen eine Sehnsucht nach echten, tragfähigen Beziehungen haben. Gemeinde sehe ich als einen tollen Entwurf Gottes, um in vielfältige Beziehungen zu kommen. Als einen Ort, an dem ich echt sein kann. Deshalb bin ich nach wie vor fest davon überzeugt, dass nicht Attraktivität im Sinne von guter Show und Musik, die wir abliefern, wichtig ist. Sondern Authentizität, Connection, miteinander sein.
Die letzten zwei Jahre waren sehr herausfordernd: Ehen stehen massiv auf der Kippe und die mentale Gesundheit ist angegriffen. Die Herausforderung für Gemeinde ist es, einerseits nach innen festzuhalten und einander zu tragen. Und gleichzeitig nicht zu vergessen, dass da draußen eine Welt ist, die Bedürfnisse hat, die wir erfüllen können. Ich empfinde es als einen Spagat, Gemeinde für unsere Umgebung zu sein, ohne uns kräftemäßig zu überfordern. Wie sollte die Gemeinde von morgen aussehen? Ich glaube, sie sollte in jedem Fall beziehungsorientiert bleiben.“
Nach Corona: Weicht Bequemlichkeit der Sehnsucht nach Gemeinschaft?
Dass die Suche nach Gemeinschaft trotz der gestiegenen Unverbindlichkeit gewachsen ist, findet auch Elena Schulte: „Ich erlebe, dass diejenigen, die in die Gemeinde kommen, Gemeinschaft umso mehr genießen: Kein Online-Gottesdienst dieser Welt kann es ersetzen, vor Ort zu sein, gemeinsam in den Lobpreis einzutauchen und sich hinterher auszutauschen. Für unser Gemeindesommerfest hatten wir 260 Anmeldungen – so viele wie noch nie. Jetzt habe ich das Gefühl, es passiert doch noch mal was. Die Bequemlichkeit nach Corona weicht vielleicht doch der Sehnsucht nach Gemeinschaft, die jetzt wieder möglich ist.“
Wie denken wir heute über Gemeinde und wie sollte sie sein? Gemeinde ist an vielen Orten flexibler und kreativer geworden, zum Glück. Wir haben das Abendmahl mit einzeln verpackten Oblaten und Trauben gefeiert. Es wurden neue Formate wie Outdoor- oder Autokino-Gottesdienste aus dem Boden gestampft und Streaming-Watchparties in Wohnzimmern organisiert. Und trotzdem ist Gemeinde kein Selbstläufer.
Noch ein langer Weg
Auch wenn wir nun seit Monaten wieder Präsenzgottesdienste feiern, mittlerweile auch ohne Maske oder Sicherheitsabstand zwischen den Sitzplätzen, sind wir an vielen Stellen noch nicht da, wo wir mal waren oder wo wir gern sein wollten. Unsicherheit und belastende Faktoren sind hinzugekommen. Beziehungen brauchen Zeit und die Absicht, sich aufeinander einzulassen. Und Gemeinde braucht die Bereitschaft, auch über die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse hinwegzusehen.
Mut macht mir, dass wir Gemeinde nicht selbst bauen, sondern dass Jesus selbst seine Gemeinde baut: „Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“, sagt Jesus zu Petrus. Und das ist doch in schwierigen Zeiten eine tröstliche Zusage.
Debora Kuder arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie in München.
Dieser Artikel ist in der Frauenzeitschrift JOYCE erschienen. JOYCE ist Teil des SCM Bundes-Verlags, zu dem auch Jesus.de gehört.
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December 6, 2022 at 02:38PM