Greift die Debatte um Handy-Verbote in Schulen zu kurz? “Technoferenz”: Wenn Eltern präsent sind – aber nicht wirklich

HAMBURG. Immer mehr Kultusminister beschließen ein Handy-Verbot für Schüler in Schulen – womöglich sind aber die Eltern das (mindestens ebenso große) Problem. Der Smartphone-Konsum scheint immer mehr Väter und Mütter so abzulenken, dass ihre Kinder darunter leiden. Ein Hamburger Schwimmbad bekam das in den vergangenen Tagen drastisch zu spüren. 

 

Papa? Illustration: Shutterstock

Zwei Kinder innerhalb von zwölf Tagen – beinahe ertrunken im selben Schwimmbad. Beide Male: keine ausreichende Aufsicht durch die Eltern. Beide Male: gerettet im letzten Moment – von Badegästen, nicht von den Müttern oder Vätern. Der Ort: das Schwimmbad Süderelbe in Hamburg. Der Grund: wahrscheinlich wieder einmal das Smartphone.

„Es war wie ein Schock für uns“, sagt der Sprecher von Bäderland, einem Schwimmbad-Betreiber in Hamburg. In einer Stadt, in der Eltern zunehmend mehr Zeit auf Bildschirme als auf ihre Kinder verwenden, greift die Bädergesellschaft nun durch. Eltern, die ihre Aufsichtspflicht vernachlässigen, weil sie auf ihr Handy starren, werden rausgeworfen – im Wortsinn. Mehrere Hausverbote sind bereits ausgesprochen worden.

Was zunächst nur wie eine Anekdote aus einem Freizeitbad klingt, spiegelt eine Entwicklung wider, die in Schulen und Kindergärten ebenso sichtbar ist – und die Debatte um Smartphone-Verbote für Kinder in ein neues Licht rückt. Denn möglicherweise liegt das Problem nicht (nur) in den Kinderzimmern und auf dem Schulhof, sondern beginnt in der Hosentasche der Eltern.

Kinder, deren Eltern häufig auf das Smartphone schauen, zeigen häufiger kognitive Verzögerungen, emotionale Auffälligkeiten und ein schwächeres Sozialverhalten

Die Forschung hat einen Namen für dieses Verhalten: Technoferenz. Der Begriff beschreibt die Störung der zwischenmenschlichen Interaktion durch digitale Geräte. Und die Folgen sind alarmierend. Eine internationale Meta-Studie der University of Wollongong in Australien analysierte Daten aus zehn Ländern mit fast 15.000 Eltern-Kind-Paaren. Das Ergebnis: Kinder, deren Eltern häufig auf das Smartphone schauen, zeigen häufiger kognitive Verzögerungen, emotionale Auffälligkeiten und ein schwächeres Sozialverhalten, wie die „tagesschau“ berichtet.

„Die Eltern sind zwar körperlich anwesend, aber emotional abwesend“, beschreibt die Medienpädagogin Prof. Paula Bleckmann von der Alanus Hochschule in dem Beitrag die zentrale Problematik. Für Kinder, insbesondere im Alter bis fünf Jahre, ist das fatal. Gerade in den ersten Lebensjahren basiert die Entwicklung des Gehirns maßgeblich auf emotionaler Bindung, Sprache und Interaktion.

Und das betrifft nicht nur das Krabbelalter. Eine kanadische Studie unter Leitung von Prof. Sheri Madigan (University of Calgary), veröffentlicht im Fachjournal JAMA Network Open, belegt: Auch bei Kindern zwischen 9 und 11 Jahren kann die elterliche Smartphone-Nutzung die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Symptome wie Angst, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit treten gehäuft auf. Während der Pubertät ist Technoferenz mit „höheren Konflikten zwischen Eltern und Kind und weniger emotionaler Unterstützung und Wärme der Eltern“ verbunden, stellte Madigans Team fest.

Und es beeinflusst das Nutzungsverhalten. Kinder, deren Eltern häufiger digital abgelenkt sind, hätten ein signifikant erhöhtes Risiko, digitale Medien selbst schon in jüngerem Alter und zeitlich ausgedehnter zu nutzen – bis hin zu einer späteren möglichen Sucht. „Dann fressen Bildschirme die Zeit, die Kinder für den direkten Weltkontakt mit allen Sinnen brauchen, der für ein gesundes Hirnwachstum unerlässlich ist. Das hat wiederum negative Folgen für die kognitive Entwicklung“, so Bleckmann.

Zwischen WhatsApp und Wasserbecken: Elternliches Totalversagen

Was passiert, wenn diese digitalen Störungen mit gefährlichen Alltagssituationen zusammenfallen, zeigen die Fälle aus Hamburg drastisch. Da ist die Mutter, die das Schwimmbad verlässt, um zu telefonieren – ihre Tochter wäre beinahe ertrunken. Oder der Vater, der so sehr aufs Display fixiert ist, dass er nicht merkt, wie sein Sohn im Wasser untergeht. Ohne das Eingreifen anderer Badegäste hätten beide Kinder nicht überlebt.

Der Bäderland-Sprecher spricht von einem „besorgniserregenden Trend“. Eltern würden in wachsendem Maß die Verantwortung an der Schwimmbadkasse abgeben – und sich dann lieber den Inhalten auf ihren Geräten widmen. Dass Kinder eine Zeit lang unbeobachtet bleiben, wäre auch vor 20 oder 30 Jahren vorgekommen. Aber nicht in dieser Häufung. Der Sprecher: „Früher waren es Zeitschriften – mit dem Unterschied, dass diese nicht so absorbierend wirkten. Heute sind Eltern oft minutenlang völlig auf die Screens fixiert und bekommen gar nicht mehr mit, was um sie herum geschieht.“

Die Konsequenzen gehen über körperliche Sicherheit hinaus. Wenn Eltern bei der Interaktion mit ihren Kindern regelmäßig unterbrochen werden – oder sie schlicht nicht mehr wahrnehmen –, verlieren Kinder nicht nur ein Gefühl der Geborgenheit. Sie lernen auch weniger. Die Sprachentwicklung verzögert sich, die emotionale Regulation leidet, die Konzentrationsfähigkeit sinkt. Und nicht zuletzt: Die Kinder übernehmen das Verhalten.

Die Schule kann’s kaum richten – wenn zu Hause die Präsenz fehlt

Im Bildungsbereich ist derzeit viel von „digitaler Balance“ die Rede. Lehrkräfte erleben die Folgen elterlicher Smartphone-Fixierung oft indirekt – in Form von Schüler:innen mit Aufmerksamkeitsproblemen, emotionaler Unreife oder sozialen Unsicherheiten. Wenn Kinder zu Hause in ihrer Beziehung zu den Eltern permanent gegen ein Gerät konkurrieren müssen, kommen sie mit einem Bindungsdefizit in die Schule.

Und genau das ist der Punkt: Smartphone-Verbote für Schüler:innen – wie sie in Bremen, Hessen, Brandenburg und anderen Ländern diskutiert oder bereits beschlossen wurden – greifen zu kurz, wenn die Vorbildrolle der Eltern nicht mitbedacht wird. Pädagog:innen können nicht ausgleichen, was in der Familie grundlegend schiefläuft. Und noch weniger können sie intervenieren, wenn etwa Grundschulkinder am Nachmittag mit dem elterlichen Smartphone allein gelassen werden – „zur Beschäftigung“, wie es oft heißt.

Was tun? Wege aus der digitalen Dauerablenkung

Die Forscher:innen sind sich einig: Es geht nicht darum, Smartphones zu verteufeln. Sondern darum, sich bewusst zu machen, wie oft, wie lange und in welchen Momenten man selbst am Gerät ist – insbesondere in Anwesenheit der eigenen Kinder. Marcelo Toledo-Vargas, Hauptautor der australischen Studie, formuliert es so: „Kleine, absichtliche Änderungen können einen bedeutenden Unterschied machen.“ Etwa beim Essen, beim Spielen oder beim Ins-Bett-Bringen: Handy stumm – und beiseite.

Prof. Paula Bleckmann betont: „Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern solche, die eigene und kindliche Bedürfnisse klug ausbalancieren.“ Auch sie warnt vor Überforderung. Aber sie warnt ebenso eindringlich davor, wie sehr digitale Ablenkung Kinder in ihrer Entwicklung prägen kann.

Zurück ins Schwimmbad Süderelbe, wo zwei Kinder nur knapp überlebten. Bäderland verteilt jetzt Info-Flyer und weist Eltern aktiv auf ihre Aufsichtspflicht hin – mehrfach, wenn nötig. Wer nicht reagiert, fliegt raus. Eine drastische Maßnahme. Aber offenbar notwendig. News4teachers 

“Eltern haben versagt”: Warum ein Handy-Verbot in Schulen (wie es in einem Bundesland jetzt kommt) tatsächlich nottut

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Date: May 30, 2025 at 10:23AM
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