DÜSSELDORF. Überrascht haben sie ihn nicht, die schlechten PISA-Ergebnisse Deutschlands, sagt PISA-Koordinator und OECD-Direktor Professor Andreas Schleicher. Bei der anstehenden Aufarbeitung wünscht sich der Bildungsexperte allerdings einen anderen Fokus – mehr lösungsorientiert statt problemzentriert – und empfiehlt dafür einen Blick über die eigenen Schulmauern hinaus, in andere Schulen und andere Länder. Teil 2 des Interviews mit dem PISA-Chef.
Hier geht es zurück zu Teil 1 des Interviews.

News4teachers: Ist das das eigentlich ein Appell für ein Privatschulsystem à la Niederlande?
Andreas Schleicher: Privatschulen sind ein Weg, ein Modell. Die Daten zeigen, dass die Privatschulen während der Pandemie – auch nach Berücksichtigung des sozialen Hintergrunds – oft besser aufgestellt waren. Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass sie Privatschulen sind, sondern dass sie im Grunde ein klares Selbstverständnis haben. Die wissen, warum sie da sind. Das hält eine Schule auch zusammen. Und Privatschulen haben häufig eine Elternschaft, die im Grunde hinter der gemeinsamen pädagogischen Idee steht. Das schafft eine andere Grundlage, miteinander zu kommunizieren. Damit will ich nicht sagen, dass Privatschulen die Lösungen sind. Der PISA-Vergleich zeigt, dass nach Berücksichtigung des sozialen Hintergrundes das Leistungsniveau von Privatschulen nicht besser ist. Aber was Privatschulen uns vormachen, ist, dass eine Schule ein Selbstverständnis braucht. Und das können auch öffentliche Schulen von Privatschulen lernen.
News4teachers: Sie sagen also, dass Schule mehr zu einem Lebensraum werden muss, wo sich Menschen auch begegnen?
Schleicher: Absolut. Ich glaube, das wird heute von Bildungseinrichtungen zu Recht erwartet. Der wirkliche Erfolg von Schule ist doch nicht, Abschlüsse zu verteilen, sondern Kinder auf ihr Leben vorzubereiten, damit sie jeden Tag bereit sind, sich weiterzuentwickeln. Das ist das Ziel von Bildung: Upskilling, Reskilling, wie man auch immer dazu sagt. Es geht darum, dass die Leute motiviert sind, sich jeden Tag zu verändern. Und das sollten sie in der Schule lernen, dieses selbstverantwortliche Lernen, das Lernen im Team, projektorientierte Arbeit. All diese Dinge, die im Grunde mehr Verantwortung schaffen.
„Auch hier ist die Versuchung, einfach noch nur ein Schulfach draufzusetzen, leider groß.“
News4teachers: Stichwort Demokratiebildung. Auch das ist ein Thema für Schulen. Die Demokratie wird weltweit zurückgedrängt. In Deutschland ist politische Bildung ein Problemfeld, wie unlängst durch eine Bertelsmanns-Studie wieder offenbart wurde. Wie geht das zusammen, also einerseits die fachlichen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern zu verbessern und andererseits eben auch politische Bildung zu gewährleisten – immer mit Blick auf die Belastung der Lehrkräfte.
Schleicher: Auch hier ist die Versuchung, einfach noch nur ein Schulfach draufzusetzen, leider groß. Dabei braucht es kein neues Fach, denn es geht ja bei politischer Bildung im Grunde nicht um Wissen, sondern um Verhalten. Und das kann ich jeden Tag, in jedem Schulfach vorleben und lehren. Wie treffen wir unsere Entscheidungen in der Klasse?
In Portugal hat man eine interessante Reform umgesetzt. Da hat man gesagt: Okay, wir geben jeder Schule einen Euro für jeden Schüler und jede Schülerin, aber diesen Euro dürfen die Schüler selbst verwalten. Und das tut mehr für Demokratiebildung als jedes Schulfach, weil da muss ich mich plötzlich damit auseinandersetzen, wie Entscheidungen getroffen werden. Da geht es dann darum, wie wir Interessen ausgleichen und miteinander zurechtkommen. Das ist das, was die Schule uns mitgeben kann. Aber dafür brauchen wir andere Lernumgebungen, andere Lernorganisationen, andere Arbeitsformen. Und das ist, glaube ich, das, woran es fehlt. Ich würde mir wünschen, dass diese Idee der demokratischen Bildung, das ganze Bildungsumfeld begreift. Denn dabei geht es um die großen Fragen unserer Zeit: Kann ich mit mir selbst leben? Kann ich mit Menschen leben, die anders sind als ich? Kann ich mit dem Planeten leben? Und das müssen wir im Gesamtschulbetrieb sehen, nicht als noch ein neues Schulfach.
News4teachers: Ich würde gerne noch einmal auf die aktuelle PISA-Studie eingehen. Haben die Ergebnisse Sie überrascht? Oder haben Sie damit gerechnet?
Schleicher: Es ist so, dass wir die PISA-Berichte schreiben, ohne den Namen des Landes zu kennen, zu dem die jeweiligen Daten gehören. Wir wissen also nicht, über welches Land wir schreiben bis kurz vor Veröffentlichung. Und dann fragen wir uns im Team, was wir von welchem Land erwarten. Und da liegen die meisten Kolleginnen und Kollegen ziemlich nah an der Realität. Meistens gibt es keine großen Überraschungen, denn wir können schon viel aus vergangenen Entwicklungen oder den Anstrengungen, die die Länder unternommen haben, ablesen. Wenn wir uns sozusagen die Angebotsseite anschauen, wissen wir alle, dass nicht besonders viel passiert ist in der Bildungspolitik Deutschlands. Dann sieht man die zusätzlichen Einflussfaktoren und wenig Aktivität auf der Habenseite und kann sich an drei Fingern abzählen, dass die Resultate wahrscheinlich nicht besser geworden sind. Insofern haben mich die Ergebnisse für Deutschland nicht überrascht. Positiv überrascht haben mich die Resultate einiger Länder, die wirklich weitergekommen sind, auch in den letzten schwierigen vier Jahren. Das sind im Grunde die Länder, auf die wir jetzt unseren Fokus richten, um einfach mal zu sehen, wie bekommen die das hin.
News4teachers: Finden Sie es anstrengend, dass in den Medien dann wieder von einem PISA-Schock geredet wird? Hätten Sie auch in der Öffentlichkeit gerne mal einen anderen Fokus?
Schleicher: Ja, ich denke, die interessanten Diskussionen entstehen immer dann, wenn wir uns die Schulen anschauen, die trotz ungünstiger Voraussetzungen erfolgreich sind. Davon können wir etwas lernen, dort sollten wir ansetzen. Gute Ideen kommen selten von oben. (lacht) Gute Ideen entstehen meistens irgendwo im Klassenzimmer. Und diese Ideen müssen wir finden, fördern, verbreiten und weiterentwickeln. Das macht ein gutes Bildungssystem aus. Und insofern denke ich, das ist das, was in der Medienberichterstattung auch oft fehlt, da geht es meistens um das, was schiefläuft.
Und das würde ich hier auch direkt wieder auf Lehrkräfte, Schulleitungen und alle übertragen. Es gibt in den Schulen so viele Menschen, die jeden Tag fantastische Arbeit leisten. Und für die wird nichts getan. Die Leute, die vor Ort jeden Tag gute Arbeit machen, die haben keine schnellere Karriere, die bekommen nicht mehr Unterstützung und die haben auch kein größeres Ansehen. Das ist, denke ich, ein großes Defizit. Wenn wir uns darüber beschweren, dass der Lehrerberuf in Deutschland nicht anerkannt wird, liegt das bestimmt auch an der öffentlichen Debatte. Anerkennung entsteht genau daraus, dass ich auch zeige, was an guter Arbeit gemacht wird. Und da muss ich sagen, da tun sich die Lehrerverbände auch selbst keinen besonders großen Gefallen, wenn sie sich jeden Tag über das schlechte Ansehen und die schlechten Arbeitsbedingungen beklagen. Dadurch wird das Ansehen des Berufsfeldes auch nicht steigen.
„Ressourcenmäßig ist das Bildungssystem in Deutschland relativ gut ausgestattet.“
News4teachers: Jetzt müssen wir doch noch einmal auf den Anfang unseres Gesprächs gucken. Sie sagen, dass Lehrkräfte mehr Anerkennung brauchen. Gleichzeitig sind Sie es, der vor kurzem den Berufsstand der Lehrer kritisiert hat, als intellektuell nicht so anspruchsvoll. Da haben Sie ja quasi in dieselbe Kerbe geschlagen.
Schleicher: Ich hatte in dem besagten Interview das gesagt, was ich auch hier jetzt sage: Ich glaube, wir sollten mehr dafür tun, dass die gute Arbeit, die jeden Tag an Schulen geleistet wird, differenziert anerkannt wird. Und ich glaube, immer von ‚den Lehrkräften“ zu sprechen, da fängt das Problem an.
News4teachers: Wenn Sie Bildungsminister von Deutschland wären, es keinen Föderalismus gäbe und Sie genügend Ressourcen zur Verfügung hätten, was wären dann die Handlungen, die Sie am ersten Tag vornehmen würden?
Schleicher: So viel mehr Ressourcen braucht man ja gar nicht. Ich glaube, ressourcenmäßig ist das Bildungssystem in Deutschland relativ gut ausgestattet. Deshalb würde ich mich als allererstes darum kümmern, zu sehen, wo die beste Arbeit gemacht wird und mich fragen, wie wir diese leistungsfähigen Schulen verknüpfen können mit Schulen, wo es noch nicht so gut läuft. Ich würde außerdem den Leuten, die das Bildungssystem voranbringen, auf welcher Ebene auch immer, mehr Freiraum geben, mehr Unterstützung geben, mehr Wertschätzung geben. Und dann darauf setzen, dass diese Menschen das Bildungssystem verändern werden. Ich denke, man kann viel verändern, wenn man nicht so stark in vertikalen Strukturen denkt und sich für neue Ideen öffnet. News4teachers / Laura Millmann und Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führten das Interview.
Hier geht es zum ersten Teil des Interviews mit Professor Andreas Schleicher:
Title: „Gute Ideen kommen selten von oben“ – 2. Teil des News4teachers-Interviews mit PISA-Chef Schleicher
URL: https://www.news4teachers.de/2024/03/gute-ideen-kommen-selten-von-oben-2-teil-des-news4teachers-interviews-mit-pisa-chef-schleicher/
Source: News4teachers
Source URL: https://www.news4teachers.de
Date: March 5, 2024 at 12:31PM
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