Gymnasium stärken – Vertrauen erhalten
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) hat auf seiner Vertreterversammlung am 6. Mai einen Leitantrag zur Bildungspolitik verabschiedet.
10.05.2022
Pressemeldung
Deutscher Philologenverband (DPhV)
Das Gymnasium in Deutschland hat seinen Weg durch die Corona-Pandemie gefunden. Für ihre Leistung in der Krise haben die Lehrerinnen und Lehrer und die für die Schulleitung Verantwortlichen an Gymnasien genauso wie an den anderen Schularten Respekt und Anerkennung verdient und erfahren. Indessen hat die Corona-Pandemie bestehende Probleme und Versäumnisse der Vergangenheit im Bildungsbereich schonungslos offengelegt. Die Bildungspolitik hat dadurch in dieser Phase viel Vertrauen verspielt.
Mit der Bewältigung der unmittelbaren Bedrohung durch das Infektionsgeschehen werden diese Probleme nicht von selbst verschwinden. Die zentrale Aufgabe der Bildungspolitik der nächsten Jahre wird darin bestehen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Dazu muss die Bildungspolitik Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit korrigieren und ausgleichen und verlässliche Strukturen für die Zukunft schaffen. Der DPhV fordert dazu eine gemeinsame Kraftanstrengung der bildungspolitischen Akteure in Bund und Ländern. Ein starkes Gymnasium, das in guter Nachbarschaft mit den anderen Schularten den richtigen Platz im gegliederten Schulsystem einnimmt, ist einer jener verlässlichen Aktivposten, auf den die Bildungspolitik bei dieser Aufgabe zählen kann. Deshalb fordert der DPhV eine weitere Stärkung des Gymnasiums als richtige Konsequenz aus der Corona-Pandemie.
Corona hat gezeigt, wie wichtig es ist, auf die individuellen Lernvoraussetzungen, Neigungen und Interessen der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Dazu bedarf es eines differenzierten Bildungsbegriffs, der Unterschiede in der Auswahl und Gewichtung der Bildungsziele je nach Schulart und Altersgruppe fördert. Mehr denn je ist es nach Corona Aufgabe der Bildungspolitik, den verschiedenen Schularten die Möglichkeit zu eröffnen, nach den Erfordernissen ihres Bildungsauftrags, ihrer Schülerinnen und Schüler und ihrer Schulform unterschiedliche Bildungsbegriffe zu entwickeln und auszugestalten. Für das Gymnasium muss das heißen, am ganzheitlichen gymnasialen Bildungsverständnis festzuhalten und die Ziele der Wissenschaftspropädeutik, die stets eng an Erkenntnisse, Methoden und Fragestellungen der jeweiligen Bezugswissenschaft gebunden ist, der allgemeinen Studierfähigkeit und der vertieften Allgemeinbildung grundständig zu stärken.
Um differenzierte Bildungsangebote verlässlich und schülergerecht anbieten zu können, braucht das Schulsystem auch belastbare Strukturen. Daher fordert der DPhV eine Stärkung des gegliederten Schulsystems mit klar auf aussagekräftige Abschlüsse bezogenen Schularten, die optimale Voraussetzungen für individuelle Förderung bieten. Der DPhV tritt für eine Bildungspolitik ein, die die Vielfalt der Schularten stärkt, diese Schularten und Bildungsgänge in ihrem jeweiligen Profil schärft und die unterschiedlichen pädagogischen, didaktischen, organisatorischen und materiellen Bedürfnisse als Chance für ein zielgerichtetes und wirksames bildungspolitisches Handeln begreift.
Zu den belastbaren Strukturen gehört auch eine verlässliche Lehrerbildung. Schulen, Eltern und Schülerinnen und Schüler müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Lehrkräfte zielgerichtet auf ihre Aufgabe in ihrer jeweiligen Schulform ausgebildet sind. Die gravierenden Probleme der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und ihrer Ausbilderinnen und Ausbilder während Corona haben gezeigt, dass die vielerorts vorgenommene Vorverlagerung von Ausbildungsinhalten aus der zweiten in die erste Phase der Lehrerbildung und die damit begründete zeitliche Verkürzung ein Fehler war. Deswegen fordert der DPhV einen qualitativ überzeugend ausgestalteten, zweijährigen Vorbereitungsdienst für alle angehenden Lehrkräfte an Gymnasien.
Die Bildungspolitik ihrerseits muss neu lernen, mehr Vertrauen in bewährte Strukturen zu entwickeln. Das Gymnasium in Deutschland verdient dieses Vertrauen, auch weil es mit seinen Absolventinnen und Absolventen einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Sicherung des wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts in Deutschland leistet. Die Bildungspolitik muss daher das hohe Gewicht der Fachlichkeit am Gymnasium als wertvolle Ressource begreifen.
Um diese Fachlichkeit zu stärken, fordert der DPhV massive Investitionen von Bund und Ländern in den Ausbau von Instrumenten, die einen auf didaktisch kluge Weise digital unterstützten Unterricht möglich machen. Dazu gehört auch, auf eine kritische Bestandsaufnahme der Lernwirksamkeit und der Praktikabilität dieser Instrumente zurückgreifen zu können und die Frage nach deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte sehr hoch zu gewichten.
Die negative Seite digital unterstützten Unterrichts, nämlich die Möglichkeit zum Missbrauch und zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten, haben Lehrkräfte auch an Gymnasien während der Pandemie schmerzlich erfahren müssen. Der DPhV betrachtet die Unverletzlichkeit des Unterrichts als geschütztem Raum für die fachliche und persönliche Weiterentwicklung der Schülerinnen und Schüler als unverhandelbare Voraussetzung jeder politischen Steuerungsmaßnahme.
Der DPhV lehnt auch den Versuch ab, Fachlichkeit und Erziehung gegeneinander ausspielen zu wollen. Das Prinzip der Erziehung durch Fachunterricht muss am Gymnasium betont werden, ganz besonders bei der Aufarbeitung von Erscheinungen des politischen Extremismus, der Menschenverachtung, der Diskriminierung sowie der Missachtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die große Bedeutung, die die religiöse Erziehung und die Werteerziehung am Gymnasium einnehmen, hat sich in der Pandemie als großer Vorteil erwiesen. Deshalb fordert der DPhV die Einhaltung höchster Maßstäbe an Wissenschaftlichkeit und weltanschaulicher Unvoreingenommenheit bei der Ausbildung von Lehrkräften, bei der Ausgestaltung von Curricula und bei der konkreten Unterrichtstätigkeit ein. Dadurch wird sichergestellt, dass weltanschauliche Einseitigkeit und religiöse Intoleranz keinen Platz an Schulen finden.
Die Vertrauenskrise der Bildungspolitik während Corona war nicht zuletzt eine Krise der Entscheidungsstrukturen. Insbesondere die Kultusministerkonferenz braucht dringend eine Reform ihrer Arbeitsweise und ihrer Entscheidungsstrukturen. Der DPhV fordert, die Amtszeit der KMK-Präsidentschaft auf drei Jahre zu verlängern, um das nachhaltige Verfolgen bildungspolitischer Ziele zu ermöglichen. Weiterhin fordert der DPhV die Erarbeitung eines Bildungsstaatsvertrags, der die Zusammenarbeit der Länder in der Bildungspolitik auf eine verlässlichere Grundlage stellt und die Mängel der Ländervereinbarung, insbesondere unter gymnasialen Gesichtspunkten, behebt. In diesem Staatsvertrag müssen die Zuständigkeiten klar geregelt und effiziente Entscheidungsverfahren festgeschrieben werden.
Unsachgemäße Finanzstrukturen haben in der Pandemie zum Vertrauensverlust in die Bildungspolitik beigetragen. Gezielte Investitionen und planvolles, abgestimmtes Handeln der Politik werden durch rechtliche Vorgaben und bürokratische Hürden stark erschwert. Der DPhV tritt für eine Neugestaltung der Bildungsfinanzierung ein, die die zur Verfügung stehenden Mittel erhöht und die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen in diesem Bereich auf eine verlässliche Grundlage stellt. In Zukunft muss diese Zusammenarbeit dem Leitgedanken folgen, dass die im Grundgesetz verankerte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht mehr nur durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen, sondern zunehmend durch eine Verbesserung der Bildungs-Infrastruktur herbeigeführt werden kann.
Die schnell vorangetriebene Digitalisierung während der Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig klar gezogene Grenzen gegen durch wirtschaftliche Interessen geleitete Einflussnahmen externer Akteure auf Schulen und auf die Bildungspolitik selbst für eine vertrauenswürdige Bildungspolitik sind. Der DPhV fordert daher, unverzüglich Lobby-Register auf allen bildungspolitischen Steuerungsebenen anzulegen und durch regelmäßig veröffentliche Berichte über Zusammenarbeit mit externen Akteuren Transparenz herzustellen. Außerdem müssen eindeutige und praktikable Regeln für Werbung und Sponsoring an Schulen formuliert werden.
Das Herzstück einer vertrauensbildenden und vertrauenswürdigen Bildungspolitik bilden aussagekräftige Leistungsbewertungen und Schulabschlüsse, die verlässliche, leicht verständliche und nachvollziehbare Aussagen über das Wissen, das Können und die Kompetenzen der Schülerin bzw. des Schülers treffen. Der DPhV fordert von der Bildungspolitik alle Anstrengungen, um dem Abitur mehr Vergleichbarkeit auf insgesamt höherem Niveau zu verleihen. Es ist dafür zu sorgen, dass durch sachgerechte Kriterien zur Auswahl der zu belegenden Fächer und zur Einbringung der Kurshalbjahre in die Abiturqualifikation der Anspruch einer breiten Allgemeinbildung in der Qualifikationsphase der Oberstufe besser verwirklicht wird. Das vertiefte Arbeiten muss dadurch gefördert werden, dass mehr Wert auf den Aspekt der Wissenschaftspropädeutik in Curricula und Prüfungsanforderungen der Oberstufe gelegt wird.
Besonderer Wert ist an Gymnasien auf eine gute Balance von Fördern und Fordern im Unterricht zu legen. Der DPhV erwartet von der Bildungspolitik (weiterhin) massive Investitionen in den Ausgleich von Hemmnissen der persönlichen Lernentwicklung, die von der einzelnen Schülerin bzw. von dem einzelnen Schüler nicht zu vertreten sind. Gerade deshalb müssen die Anstrengungen darauf konzentriert werden, leistungsstarken Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten zu eröffnen, um ihre Grenzen zu erweitern und ihre Stärken auszuschöpfen.
Weiterhin fordert der DPhV, dass die Bildungspolitik die Bereitschaft zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kompetenzorientierung als Steuerungs- und Standardisierungsinstrument entwickelt. Der DPhV betont, dass Kompetenzen immer von konkretem Wissen und Können begleitet sein müssen. Die Bedeutung dieser Aspekte in curricularen Vorgaben für den Unterricht aller Fächer ebenso wie in allen Formen der Leistungsüberprüfung muss gestärkt werden. Ebenso muss dieser Aspekt in den Fokus des Bildungsmonitorings gerückt werden.
Besonders während der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass unrealistische Erwartungen an Schulen letztlich nur zu Enttäuschungen führen können. Der DPhV erwartet von der Bildungspolitik den Mut, die Funktion der Schulen als Bildungsorte in den Vordergrund ihres Handelns zu stellen und sachgerecht höher gegenüber anderen Funktionen wie z.B. die der Betreuung zu gewichten. Der DPhV tritt daher für praktikable Erwartungen an die Zusammenarbeit von Eltern und Schulen ein, die die jeweiligen Verantwortungsbereiche klar benennen und die unterschiedlichen Bedürfnisse ernst nehmen. Die politische Aufgabe liegt darin, die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche von Schulen und ihren Partnern (wie z.B. der Kinder- und Jugendhilfe, der Schulsozialarbeit, den medizinischen und sonstigen Unterstützungssystemen) sachgerecht auszugestalten und diese praktikabel voneinander abzugrenzen.
Bezogen auf die Gymnasien ist es besonders wichtig, die Aspekte der Selbstverantwortung der Schülerinnen und Schüler für ihren Lernprozess, der möglichst breiten Allgemeinbildung und der intensiven fachlichen Vertiefung, der Ausrichtung auf den Erfolg in einem wissenschaftlichen Studium und der Befähigung zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in der auf ein Studium folgenden Berufstätigkeit im Bildungsbegriff weiterhin fest zu verankern.
Daher tritt der DPhV für eine Stärkung der Rolle der Lehrkräfte bei der Schullaufbahnberatung und -entscheidung ein. Das Wissen und die Expertise der abgebenden Schule sollten schon beim Übertritt von der Grund- in die weiterführende Schule in seiner Bedeutung gestärkt werden. Der DPhV fordert schüler- und sachgerechte Übergangsverfahren in allen Bundesländern, die auf belastbaren Feststellungen über die Lernentwicklung der Schülerinnen und Schüler beruhen und gerade im Konfliktfall eine objektive Grundlage zur Verfügung stellen. In den späteren Phasen fordert der DPhV eine größtmögliche horizontale und vertikale Durchlässigkeit des Schulsystems, um besser auf die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können.
Die Corona-Pandemie hat wie im Zeitraffer Erwartungen und Probleme im Bildungsbereich beschleunigt und vergrößert. Die Bildungspolitik muss mittlerweile veraltete Denkmuster überwinden und aktiv das Vertrauen in ihre Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie muss dazu zukunftsfähige und vertrauenswürdige Lösungen erarbeiten. Die Leitgedanken einer solchen Bildungspolitik beschreibt dieser Antrag. Eine solche Bildungspolitik nennen wir: Bildungspolitik – weiter gedacht.
Schule
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May 10, 2022 at 01:16PM