Horst Heller
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Was Kinder in der Grundschule brauchen, ist etwas anderes als was multireligiöse Lerngruppen im berufsbildenden Schulwesen von ihrem Religionsunterricht erwarten. Religionsunterricht ist vielgestaltig. Er wird von erfahren Studienrätinnen, von LAA’s, von Lehrerinnen, Pfarrern und von pädagogischen Fachkräften erteilt. Er ist manchmal das Lieblingsfach der Lernenden, andere diskreditieren ihn als Laberfach. Er ist didaktisch anspruchsvoll, macht mal Freude, verursacht mal Stress. Religionsunterricht bietet Raum für Sternstunden und kann gründlich schiefgehen. Religionsunterricht gibt der Lehrperson relative Freiheit bei der Unterrichtsgestaltung, aber sie ist für das Lernen in diesem Fach unendlich wichtig. Denn eines ist Religionsunterricht immer: Er ist religiöse Bildung in der Schule MIT GESICHT.
C wie Christlich: RU MIT GESICHT (1)
Der Religionsunterricht geht auf die Suche nach dem Christlichen.
Dieser Satz ist zunächst eine Binsenweisheit. Wonach, wenn nicht nach dem Christlichen, sollte der Religionsunterricht suchen? Doch was das Christliche ist, ist nicht mehr allen klar. Lernenden, ihren Eltern und zunehmend auch Lehrenden fällt es gar nicht leicht, Auskunft zu geben: Was ist eigentlich der Kern des christlichen Glaubens? Ist es Jesus Christus – oder Gott? Ist es die Nächstenliebe? Oder sind es Werte wie Toleranz und Respekt gegenüber dem Fremden? Bei Licht betrachtet ist es für die religiöse Bildung gar nicht schlimm, dass es keine normative Definition des Christlichen (mehr) gibt. Was christlicher Glaube ist, will selbst herausgefunden und vielleicht auch selbst erprobt werden.
S wie selber: RU MIT GESICHT (2)
Der Religionsunterricht fördert die religiöse Selbstsozialisation
Wer hat seinen Kindern je erklärt, wie Instagram geht? Wohl kaum jemand. Für die Nutzung des Digitalen brauchen Lernende keine Anleitung durch Erwachsene. (Was nicht bedeutet, dass sie Digital Natives sind, die Medienethik und Medienkompetenz nicht erst lernen müssten.) Wie die Sozialisation in der Welt der Digitalität ist auch die religiöse Sozialisation Selbstsozialisation. Welchen Stellenwert der Glaube im Leben eines Menschen einnimmt, ist eine höchstpersönliche Entscheidung, die auf einem langen und individuellen Weg reift. Die Aufgabe der Schule ist es, diesen Prozess zu fördern und zu begleiten. Religiöse Bildung versetzt Schülerinnen und Schüler erst in die Lage, sich zu entscheiden.
E wie Experiment: RU MIT GESICHT (3)
Der Religionsunterricht ermöglicht eine Begegnung mit Religion.
Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler hat außerhalb des Religionsunterrichts keinen Zugang zu religiösen Ritualen, die sie bereichern können. Zugleich ist die Offenheit für erlebnisorientierte und affektive Zugänge zu Religion groß. Schülerinnen und Schüler können über den christlichen Glauben und seine spirituelle Dimension nicht reflektieren, wenn ihnen keine Räume für ein experimentelles Probehandeln eröffnet werden. Um Religion und Glaube gegebenenfalls „in Gebrauch nehmen“ zu können, muss der Religionsunterricht Religion auch zeigen. Spiritualität eingeschlossen. (Hier liegt übrigens der didaktische Grund für Schulgottesdienste!)
T wie Theologie: RU MIT GESICHT (4)
T wie Theologie: Der Religionsunterricht sucht eine neue theologische Sprache.
Sünde, Erlösung, eingeborener Sohn, Himmelfahrt, Mission … Was haben diese Worte gemeinsam? Sie sind theologische Fachbegriffe, die viele unserer Zeitgenossen, vielleicht auch uns selbst stolpern lassen. Der Religionsunterricht stellt täglich fest, dass sie nicht mehr verstanden werden. Was Schülerinnen und Schüler nicht verstehen, hat für ihr Leben keine Relevanz.
Was ist zu tun? Ist Religionsunterricht religiöse Alfabetisierung? Ja und nein! Religionslehrpersonen können gut erklären. Das haben sie gelernt. Aber für viele theologischen Fachausdrücke brauchen wir neue Worte. Im Idealfall finden die Lernenden im Sinne einer Kinder- und Jugendtheologie eine eigene theologische Sprache und werden höchst individuell religiös sprachfähig. Religiöse Bildung geschieht in Kontinuität und Diskontinuität zur klassischen theologischen Sprache.
H wie Hören: RU MIT GESICHT (5)
Der Religionsunterricht entdeckt den Wert der Narration neu.
„Es ging ein Sämann aus, zu säen.“ Wenn Jesus von Gott sprach, erzählte er Gleichnisse. Aber nicht nur für ihn waren Geschichten das Mittel der Wahl. Seit alters her erzählte das Volk Israel Väter- und Müttergeschichten, die heute im Alten Testament nachzulesen sind. Bis zum heutigen Tag werden Bibelgeschichten erzählt. Erzählen im Religionsunterricht setzt diese Tradition fort. Die Grundschule erzählt. Doch auch der Religionsunterricht der Sekundarstufe tut gut daran, die narrative Didaktik nicht zu unterschätzen. Wer Bibelgeschichten und Lebensgeschichten gut zu erzählen weiß, der sichert sich die Aufmerksamkeit der auch Schülerinnen und Schüler in der letzten Bankreihe.
Werden Lernende auf diese Weise zu Konsumenten? Nicht, wenn aus Hörenden Erzählende werden. Wenn Schülerinnen und Schüler üben, selbst biblische Geschichten zu erzählen, eignen sie sie sich an. Selbst erzählen ist eine Lernchance in allen Schularten.
T wie Teilnahme: RU MIT GESICHT (6)
Der Religionsunterricht ist offen auch für religionskritische Schülerinnen und Schüler.
Agnostische und atheistische Schülerinnen und Schüler dürfen im Religionsunterricht mitarbeiten. Eine Untersuchung in Rheinland-Pfalz hat kürzlich erwiesen, dass sie es oft auch mit Gewinn tun. Aber das Angebot, teilzunehmen reicht nicht. Sie dürfen auch ihre Fragen und Anfragen einbringen und den Unterrichtsgang mitbestimmen. Der Religionsunterricht pflegt eine Willkommenskultur für Nicht-Glaubende.
G wie Gestalten: RU MIT GESICHT (7)
Der Religionsunterricht kommt ins Handeln.
Es reicht nicht aus, das Gute zu kennen. Es will auch getan werden. Der Religionsunterricht bahnt deshalb die Gestaltungskompetenz an. Es kann ein Projekt der nachhaltigen Entwicklung oder ein Einsatz für die soziale Gerechtigkeit am Schulort sein. Vielleicht will eine Lerngruppe einen Teil des Schulhofs ökologisch umgestalten oder einen Spendenlauf organisieren. Einmal in ihrer Schulzeit sollte sie die Welt ein bisschen besser gemacht haben (Paradising). Auch Jugendliche können das. Es stärkt ihre Selbstwirksamkeit.
I wie Identität: RU MIT GESICHT (8)
Religionslehrpersonen verstehen sich als Community.
Religionslehrpersonen sind keine Einzelkämpfer. Wo immer möglich, vernetzen sie sich. Kirchliche Fortbildungsarbeit will auch dazu beitragen, dass Religionslehrpersonen einander stärken. Wo Teamarbeit im Lehrerzimmer nicht möglich ist, nutzen sie die Angebote digitaler Netzwerke.
M wie Mitglied: RU MIT GESICHT (9)
Religionslehrpersonen stehen in kritischer Solidarität zur verfassten Kirche.
Ein komplexes Thema. Religionslehrpersonen verorten sich in erster Linie als Kollegin oder Kollegin in der Schule. Zugleich verstehen sich die meisten von ihnen als Teil der großen kirchlichen Gemeinschaft. Die gottesdienstlichen Angebote der Kirchengemeinde nehmen sie dennoch eher selten wahr. Woran das liegt, kann hier nicht erörtert werden. Für mich steht aber fest: Für die Kirche sind Religionspädagoginnen und Religionspädagogen unverzichtbare und bevollmächtige Übersetzerinnen und Übersetzer des Christlichen im Raum der Schule. Wie denken sie über ihre Kirche? Ich erlebe unter Religionslehrpersonen die gleiche Vielfalt wie in der Gesellschaft: Desinteresse, Kopfschütteln, Unverständnis, Sympathie, kritische Loyalität, Identifikation und engagierte Mitarbeit. Für ihre Arbeit erwarten sie Unterstützung und Rückenstärkung, die sie auch verdient haben. Kirchliche Angebote der Fortbildung und der Fachberatung stehen deshalb für sie in guter Qualität bereit. Schade, wenn sie sie nicht oft nutzen.
I wie Influencer: RU MIT GESICHT (10)
Religionslehrpersonen sind Influencer religiöser Bildung.
Nur noch selten ist die Religionslehrperson Instruktorin oder Lernbegleiter. Guter Religionsunterricht sieht zwar immer noch instruktive Phasen vor, in denen der Wissens- und Erfahrungsvorsprung der Lehrperson zum Tragen kommt. Je jünger die Schülerinnen und Schüler sind, desto öfter wird das so sein. Es wird auch immer Unterrichtsstunden geben, in denen die Lehrperson das selbstorganisierte Lernen der Schülerinnen und Schülern „nur“ moderiert und begleitet. Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, desto häufiger wird das möglich sein.
Angesichts der Vielfalt der Weltanschauungen in der Schule ist die Religionslehrperson heute in der Schule als Mensch mit Haltung gefragt. Im Lehrerzimmer und im Unterrichtsgespräch ist sie als Glaubende herausgefordert. Was bringt sie dazu, in einem säkularen Umfeld zu glauben? Religionslehrpersonen wissen nicht nur viel. Sie können auch sagen, was sie beseelt. Wie Influencer stehen sie mit ihrer Person für ihre Sache ein. „Seit allzeit bereit, über eure Hoffnung zu reden.“ (nach 1 Petrus 3,15).
Als Influencerinnen religiöser Bildung unterscheiden sie sich aber von den kommerziellen Influencern im digitalen Raum. Ihnen kommt es nicht auf eine möglichst große Zahl von Followern an, sie haben kein finanzielles Interesse. Und sie führen niemanden hinters Licht. Wofür sie stehen und was sie antreibt, ist kein Geheimnis. Intransparenz und Schleichwerbung sind ihre Sache nicht.
Blogbeiträge auf http://www.horstheller.de
15.08.2021: „Nicht nur ethische Themen, bitte!“ Vier Megatrends und zwölf Zukunftsaufgaben des nachpandemischen Religionsunterrichts
20.02.2022: „Der christliche Glaube bewährt sich in gelebtem, erzähltem und erzählbarem Leben – oder er bewährt sich nicht.“ Wo bitte geht es zu einem mutigen, uneigennützigen und lebensnahen Religionsunterricht?
06.11.2022: Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe
12.02.2023: Religionsunterricht: Reicht da nicht eine Wochenstunde? Sechs Fragen und fünf Antworten zur religiösen Bildung in der Schule
26.02.2023: „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ Aspekte einer zeitgemäßen Schöpfungsdidaktik
04.06.2023: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Platons Höhlengleichnis und Gedanken zu Bildung
01.01.2024: I wie Influencer. Oder: Was ist Religionsunterricht mit Gesicht? Zehn Thesen
Title: I wie Influencer, oder: Was ist Religionsunterricht mit Gesicht? Zehn Thesen
URL: https://horstheller.wordpress.com/2023/12/30/i-wie-influencer/
Source: Horst Heller
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Date: January 7, 2024 at 07:40PM
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