„Ich bin nicht neutral!“

Markus Gloe: Nein, ich rate davon ab, mit dem Finger auf diese Jugendlichen zu zeigen. Die AfD wird von allen Altersklassen gewählt. Aber wir dürfen dieses Problem auch nicht verharmlosen. Viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht und leisten gute Demokratiebildung. Aber das ist kein Sprint, sondern ein Marathon, der Ausdauer erfordert. Natürlich haben wir Defizite. Zum Beispiel ist es nicht förderlich, politische Bildung in der Grundschule im Sachunterricht umzusetzen, an weiterführenden Schulen aber erst wieder ab Klasse 8 oder 10 mit Fachunterricht einzusetzen. Es sollte keine Jahrgangsstufe ohne Politikunterricht geben. Auch bei fächerübergreifenden Ansätzen und der Schulkultur gibt es Potenzial nach oben. Und bestimmte Phänomene haben die Schulverantwortlichen bislang zu wenig im Blick.

Vor allem den Einfluss der sozialen Medien. Für Kinder und Jugendliche sind sie ein Teil ihres Alltags, sie lernen dabei unbewusst und nebenbei. Lehrkräfte müssen mit Schülerinnen und Schülern über das informelle Lernen in sozialen Medien reflektieren und ihnen bewusst machen, welchen Einflüssen sie dort ausgesetzt sind. Auch die Ambiguitätstoleranz wird an Schulen vernachlässigt – also die Fähigkeit, uneindeutige Antworten und Situationen auszuhalten. Wer keine Ambiguitätstoleranz erlernt hat, ist immer auf der Suche nach einfachen klaren Antworten. Die sozialen Medien bieten einfache Botschaften, die bei den jungen Menschen hängenbleiben. Die Welt und die Lösungen für Probleme sind aber komplex.

Markus Gloe ist Professor für Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der LMU München und bildet angehende Politiklehrkräfte aus. Er hat die digitale Lernplattform Plebs entworfen, die Lehrkräfte befähigt, Demokratiebildung an Schulen zu integrieren. Für die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik DeGeDe ist er als Vorstand tätig.

Neben der Vermittlung von Ambiguitätstoleranz – Welche Qualitätsmerkmale sollte Demokratiebildung an Schulen aufweisen?

Die Lehrerinnen und Lehrer müssen dafür ausgebildet sein. Je besser diese fachwissenschaftliche Ausbildung, umso besser ist der Unterricht, das zeigen Studien deutlich. Ein weiteres Merkmal ist die Förderung der Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen, sich nicht mit eindeutigen Antworten zufrieden zu geben und im besten Sinne unbequem zu sein. Außerdem müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, eigene fundierte politische Urteile zu fällen. Dafür müssen sich die Schulen öffnen und Teil von demokratischen Bildungslandschaften werden, damit sich die Welten von Schule und Alltag verbinden.

Wie meinen Sie das?

Wir dürfen Schule nicht als einen isolierten Ort sehen, sondern eingebettet in das gesellschaftliche Umfeld, also mit Vereinen, Eltern und außerschulischen Orten. In einer Studie habe ich zusammen mit Silvia-Iris Beutel und Sören Torrau für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung untersucht, was für junge Menschen Aspekte von gelungenen Demokratiebildungsprojekten sind. Das Ergebnis: Schülerinnen und Schüler wollen Anerkennung und Wertschätzung – in der Schule selbst, aber auch durch außerschulische Beteiligte und vor allem durch Gleichaltrige. Die Studie zeigt auch: Schule gewinnt dann an Bedeutung für die Schüler:innen, wenn das Lernen mit persönlichen Interessen und Lebenssituationen verknüpft wird und Mitbestimmung bietet. Das meinte der Pädagoge John Dewey, als er Demokratie als Lebensform bezeichnete.

Wie kann eine solche Partizipation aussehen?

Sie darf vor allem keine Scheinpartizipation sein und sich nicht beispielsweise nicht nur auf die Frage nach der nächsten Klassenlektüre beziehen. Andererseits müssen die Schülerinnen und Schüler in bestimmten Situationen auch an die Hand genommen werden. Ich habe das in einem demokratischen Schulversuch an einer Grundschule erlebt: Ein neu eingeführter Klassenrat kam zusammen, der Lehrer hat sich zurückgezogen in der Absicht, der Klasse damit Eigenständigkeit zu ermöglichen. Aber die Grundschülerinnen und -schüler haben sich allein gelassen gefühlt und hätten den Lehrer bei manchen Punkten um Rat fragen wollen. Schülerinnen und Schüler brauchen bei der Einübung von Demokratie auch Halt, bevor sie sicher allein laufen können und demokratisch lernen und leben.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hat im Juli Empfehlungen für die Demokratiebildung veröffentlicht, etwa ländergemeinsame Kompetenzziele und ein durchgängiges eigenes Schulfach. Was halten Sie davon?

Ich teile die Empfehlungen uneingeschränkt, auch wenn die Darstellung und die Entstehung problematisch sind. Ein Großteil der wissenschaftlichen Community sieht die SWK-Stellungnahme auch deshalb kritisch, weil sie sich stark auf Politikwissenschaft konzentrieren und andere für die Demokratiebildung wichtige Bereiche ausblendet, wie die Bildung für nachhaltige Entwicklung. Zudem haben wir in den letzten Jahren viele solcher Papiere gesehen. Die Frage ist: Welche Maßnahmen kommen im Schulalltag an? Die Lehrkräfte sind dafür nicht ausgebildet und es gibt zu wenig Fortbildungsangebote.

Eine Empfehlung der SWK lautet, die demokratische Schulkultur durch gezielte Schulentwicklung und Partizipation zu stärken. Wie können Schulen das schaffen?

Es beginnt mit der demokratischen Haltung der Schulleitung und der Lehrerinnen und Lehrer. Zu dieser Haltung gehören Wertschätzung, Respekt und eine konstruktive Feedbackkultur zwischen Lehrenden und Lernenden in beide Richtungen. Diese Haltung lässt sich dann über verschiedene Formen der Partizipation weiterentwickeln, zum Beispiel über einen Klassenrat, aber auch im Unterricht selbst. Alle Schulen sollten mit einer Bestandsaufnahme starten, was es an der jeweiligen Schule schon gibt und wo Entwicklungspotential besteht. Jede Schule startet an einem anderen Punkt ihren demokratischen Schulentwicklungsprozess. Aber manche Lehrkräfte tun sich damit sehr schwer.

Weil sie Kontrollverlust befürchten?

Ja, Schülerinnen und Schülern Mitbestimmung bei den Inhalten und der Gestaltung des Unterrichts zu geben, erfordert viel Offenheit und Flexibilität. Im Idealfall fragt die Lehrkraft die Klasse: Was brennt euch momentan unter den Nägeln? Dann können sie an die Lebenswelt und das Interesse der Schülerinnen und Schüler andocken. Dafür müssen sie sich auch von der Vorstellung verabschieden, „sklavisch“ den Lehrplan abzuarbeiten. Welchen Einfluss hat dieser Inhalt heute auf das Leben meiner Schüler:innen? Wenn ich als Lehrkraft zu der Antwort komme, dass es keinen Einfluss hat, dann muss ich meine Unterrichtsplanung ändern. Partizipation ist auch manchmal anstrengend und unangenehm, aber notwendig und lohnenswert.

Welche Möglichkeiten der Partizipation auf Schulebene gibt es noch?

Die Mitbestimmung durch das Gremium der SV/SMV, aber nur wenn Schulen die SV/SMV nicht als Organisationstrottel für das Sommerfest sieht, sondern ihr echte Mitbestimmung ermöglicht. Schulforen oder Schulkonferenzen sind auch gute Möglichkeiten. Bei all diesen Formaten gilt: Die jungen Menschen müssen dafür empowert, also befähigt werden. Sie müssen wissen, was ihre Möglichkeiten sind, und darin geschult werden, ihre Meinungen einzubringen. Wenn ich Schülerinnen und Schüler frage, wer sie in ihrem Schulforum vertritt, haben manche keine Ahnung, dass es dieses Gremium überhaupt gibt und was dessen Aufgaben sind.

Wie würde Mitbestimmung im Unterricht konkret aussehen?

Die Schülerinnen und Schüler bestimmen selbst, wann sie was lernen – auf dieses Konzept setzt zum Beispiel die Universitätsschule Dresden. Die Lernenden haben ein Aufgabenportfolio, das sie bearbeiten – teils in Einzelarbeit, teils im Team. Die Lehrkräfte sind Lernbegleiter und unterstützen bei Bedarf. Ansonsten eignen die Lernenden sich die Dinge selbstständig, im eigenen Tempo und ohne Notendruck an. Lernen funktioniert am besten, wenn es freiwillig passiert. Natürlich ist es auch vom Alter der Schülerinnen und Schüler abhängig, wie viel Freiheiten man ihnen gibt. Grundschulkinder brauchen manchmal noch mehr Unterstützung und wachsen aber schnell in die Selbstverantwortung hinein.

In der Öffentlichkeit gab es zuletzt immer wieder Diskussionen über das politische Neutralitätsgebot der Lehrkräfte. Wie ist Ihre Meinung dazu? 

An meiner Tür hängt ein Schild: „Ich bin nicht neutral!“. Es gibt kein allgemeines Neutralitätsgebot, sondern nur ein parteipolitisches Neutralitätsgebot. Das Grundgesetz ist der Leitfaden. Lehrkräfte dürfen in der Schule keine Werbung für eine Partei machen. Aber wir sind alle politische Menschen, Schule ist kein politikfreier Raum. Lehrkräfte dürfen den jungen Menschen erklären, wie sie zu bestimmten inhaltlichen Sachfragen stehen – die Schülerinnen und Schüler fordern das auch ein. Sich aus Bequemlichkeit oder Unsicherheit herauszuhalten, ist falsch.


Dieses Interview ist zuerst im didacta Magazin Ausgabe 1/2025, S. 7-9 erschienen: https://avr-emags.de/emags/didacta/didacta_1_2025/#0


Title: „Ich bin nicht neutral!“
URL: https://bildungsklick.de/schule/detail/ich-bin-nicht-neutral
Source: bildungsklick
Source URL: https://bildungsklick.de
Date: April 14, 2025 at 10:41AM
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