Immer wieder das 1000jährige Reich
Es war im Jahr 1939. Meine Mutter war damals mit mir guter Hoffnung. Wien, in dem ich am Ende des Jahres in Döbling geboren werden sollte, war schon dem Deutschen Reich einverleibt. (Viel zu) viele hatten am Heldenplatz gejubelt.
Das tausendjährige NS-Reich
Einen Steinwurf weiter hatte mein Vater DI Josef Zulehner am Kohlmarkt im Österreichischen Patentamt (ÖPA) seinen Arbeitsplatz. Er leitete zuletzt die elektrotechnische Abteilung. Viele Akten des Patentamts aus der NS-Zeit liegen im Berliner Bundesarchiv (BArch), samt Personalakt meines Vaters. In diesem ist ein Schreiben der Gauleitung Wien der NSDAP über meinen Vater aus dem Jahr 1939, in dem es heißt: „dass Zulehner alles hassen würde, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhänge. Er gehe dabei soweit, dass er ‚seinen Kindern den Gebrauch des Hitlergrusses verbieten‘ würde“.[1]
Mein Vater war ein gläubiger Christ. Er kannte die Bibel gut und die messianische Ankündigung eines tausendjährigen Reichs am Ende aller Zeiten (Offb 20,1-6). So konnte er mit der politischen Allmachtsphantasie der Nationalsozialisten vom „1000jährigen Reich schon jetzt“ wahrlich nichts anfangen. Aus der Phantasie des GRÖFAZ (größten Feldherrn aller Zeiten) wurde ein Angriffskrieg, der sich zum Zweiten Weltkrieg auswuchs. Der Psychiater Ernst Kretschmar (1888-1964) sagte damals über die Psychopathen: „In guten Zeiten therapieren wir sie, in schlechten beherrschen sie uns“. Er sagte dies mit Blick auf Hitler. Dieser verseuchte mit seinem nationalistischen Größenwahn weithin leider auch den Großteil der Bevölkerung. Ausnahmen, wie mein Vater eben, blieben zumeist öffentlich unsichtbar, wurden aber von den aufmerksamen Behörden sehr wohl wahrgenommen und beobachtet.
Russki Mir
Und wieder will ein Politiker eine Art „ewiges Reich“. Als vier Oblasts der Ukraine völkerrechtswidrig annektiert wurden, hieß es, sie gehörten von nun an „ewig“ zur „russischen Welt“. Beim Chefideologen Alexandr Dugin kann man lesen, dass dieses „Reich“ namens „русский мир“ (russki mir) von Lissabon bis Wladiwostok reichen werde. „мир“ (mir) ist doppeldeutig und heißt übersetzt ebenso Welt wie Friede. „Russki mir“ erinnert daher zunächst an das endzeitlich verheißene messianische Friedensreich. Von Krieg und Annexion ist keine Rede.
Auch im heutigen Russland ist es wie im Dritten Reich der Nazis: Die nationalistische Propagandamaschinerie ist höchst erfolgreich. Der Nationalstolz, der leicht in Natinalismus kippen kann, erreicht in Umfragen über Russlands Kultur einen mit manch anderen Regionen Europas vergleichsweise[2] hohen Wert – der „Nationalstolz“ in Nordamerika toppt das russische Ergebnis allerdings. Die Allmachtsphantasie der „russki mir“ wird von vielen erschreckend vielen Russ:innen mitgetragen: auch jetzt im Krieg. Was Ernst Kretschmar über psychopathische Personen gesagt hat, lässt sich analog auf psychopathische Unkulturen übertragen
Gotteskomplex
Diese nationalistischen Gefühle treten oftmals – so Studie[3] – religiös überhöht und legitimiert auf; sie arten zu einer Art allmachtsphantastischen „Gotteskomplex“ (Horst Eberhard Richter) aus. Am Beispiel Russland heute: Dort bedeutet „orthodox“ nur für rund 4% den Empfang von Beichte und Kommunion, für die übrigen eher, dass sie gute Russen sind. „Orthodox“ ist kaum ein kirchlicher, sondern weit mehr ein kulturell/nationaler Begriff, der nahtlos ins Nationalistische übergeht. Tragisch ist, dass der Patriarch in Moskau diesen Missbrauch des kirchlichen Begriffs „orthodox“ mit dem Evangelium des wahren Friedens im Herzen und in der Hand nicht stoppt, sondern faktisch fördert.
Das macht Patriarch Kirill I. zudem – auch das ist korrupt – in kirchlichem Interesse. Denn der Nationalismus und mit ihm der Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt seiner expansiven Kirchenpolitik entgegen. Durch den Zerfall der Sowjetunion hat die Russisch Orthodoxe Kirche das Ursprungsgebiet samt dem Ursprungskloster verloren: Kiew und sein berühmtes Höhlenkloster. Es kommt dem Patriarchen daher sehr gelegen, wenn der russische Machthaber und seine ideologischen Einflüsterer die Eigenstaatlichkeit der Ukraine geschichtswidrig schlichtweg leugnen, weil nach dem Ende deer Ukraine als eignere Staat das gesamte Gebiet der Ukraine wieder kanonisches Territorium der Russisch-Orthodoxen Kirche wäre. Die in der Ukraine wirkenden Metropoliten der ROC scheinen diese Haltung des Pariarchen Kirill I. zu unterstützen. Das hat die ukrainische Regierung offenbar hellhörig gemacht; drei mit Russland kollaborierende Metropoliten der ROC in der Ukraine verloren dieser Tage ihr Amt; einer war durch seine Flucht nach Russland den Folgen der Absetzung zuvorgekommen.
Kaum mutiger Widerstand
Es gibt sowohl in Russland wie in der Russisch-Orthodoxen Kirche eine unbekannte Zahl von Menschen, denen beides nicht gefällt: weder die kriegsfördernde Idee der „russki mir“, die bisher nicht Frieden, sondern die Welt an den Rand eines Dritten Weltkriegs brachte, noch die Kooperation der ROC mit dem politischen Aggressor mit dem Ziel, das kanonische Territorium aus der Zeit vor Michail Gorbatschow durch die Vernichtung der Ukraine wiederherzustellen..
Aber solcher Widerstand ist weithin unsichtbar und wird durch die autokratische Diktatur nach innen brutal unterdrückt. Vereinzelte Erfahrungen lassen mich aber vermuten, dass es diesen stillen Widerstand sehr wohl gibt. Ich erhielt nach einer Online-Tagung in der Geistlichen Akademie des Patriarchats von einer Teilnehmerin einen Ausschnitt aus dem Roman über den braven Soldaten Schweijk zugeschickt, wo es heißt: „Der Kaiser (damals der österreichische) weiß nur noch nicht, dass er den Krieg schon verloren hat.“ Das ist Widerstand mit feinem Florett.
Wieviel Mut braucht es für Menschen in Russland, die in dieser repressiven Lage anders denken und den Dissens auch öffentlich zu machen? Sie müssen dabei fürchten, dass in geheimen Dossiers ähnliche Sätze auftauchen, wie jener im Schreiben der NSDAP über meinen Vater, nur dass es jetzt der KGB wäre, der das Dossier erstellt: Dass diese Person „alles hassen würde, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhänge. Er gehe dabei soweit, dass er ‚seinen Kindern den Gebrauch des Hitlergrusses verbieten‘ würde“. Diesen Satz vermag jeder für sich auf die heutige Zeit updaten.
[1] Diese Information verdanke ich Univ. Doz. Dr. Alexander Pinwinkler und seiner Kollegin Dr. Maria Wirth, welche zusammen die Geschichte des Österreichischen Patentamtes (ÖPA) aufarbeiten.
Nordeuropa | 49% |
Westeuropa | 42% |
Südeuropa | 51% |
Osteuropa | 41% |
Russland | 50% |
Türkei | 67% |
Nordamerika | 70% |
More than once a week | 56% |
Once a week | 50% |
Once a month | 46% |
Christmas/Easter days/on special holy days | 46% |
Other specific holy days | 33% |
Once a year | 44% |
Less often | 43% |
Never practically never | 42% |
Alle | 46% |
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November 25, 2022 at 05:31PM