Inklusion: Die verborgenen Stereotypen angehender Lehrerinnen und Lehrer

LEIPZIG. Leipziger Wissenschaftler haben untersucht, welche Stereotypen angehende Lehrkräfte mit förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern verbinden.

Im Zuge der Inklusion unterrichten Lehrerinnen und Lehrer verstärkt besonders förderbedürftige Schülerinnen und Schüler. Inklusion bedeutet auch dabei, Stereotypen zu überwinden. Doch noch immer haben viele Menschen Vorurteile gegen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Auch Lehrerinnen und Lehrer haben solche Vorurteile. Welchen spezifischen Stereotypen sie dabei unterliegen, ist bislang noch wenig bekannt. Dabei können stereotype Annahmen über diese Kinder und Jugendlichen erheblich beeinflussen, wie die Lehrerinnen und Lehrer mit ihnen umgehen.

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Kompetent und warmherzig? Lehrerinnen und Lehrer sollten sich ihrer Vorurteile zumindest bewusst sein. Foto: Shutterstock

Wissenschaftlerinnen des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, sind nun der Frage nachgegangen, welche Stereotypen angehende Lehrerinnen und Lehrer mit autistischen Schülerinnen und Schülern verbinden, mit Schülerinnen und Schülern mit Downsyndrom und mit denjenigen, die von Lese-Rechtschreib-Störungen betroffen sind. Unter den angehenden Lehrkräften zeigten sich dabei ausgeprägte Stereotype – unter anderem bezogen darauf, wie kompetent und warmherzig die einzelnen Gruppen sind.

Das Forschungsteam um die Leipziger Bildungswissenschaftlerin Charlotte Schell arbeitete für seine Untersuchung mit Lehramtsstudierenden zusammen, die sich in unterschiedlichen Phasen des Studiums befanden, verschiedene Fächer belegt hatten und für verschiedene Schulformen studierten. In einer Vorstudie führten die Wissenschaftlerinnen zunächst Interviews mit 13 Studentinnen und Studenten, in denen diese unter anderem Stereotype nennen sollten, die sie mit den genannten Gruppen verbinden. Dabei fand sich ein breites Spektrum von Zuschreibungen – etwa impulsiv, unintelligent, aber auch offen oder inselbegabt.

Die Ergebnisse der ersten Studie arbeiteten die Forscherinnen in einen standardisierten Fragebogen ein, um die empirische Ausprägung der Stereotype im Zusammenhang mit den drei Gruppen von Schülerinnen und Schülern zu erfassen. Diesen Fragebogen füllten in einer zweiten Studie insgesamt 213 Studierende aus. Die Stärke der einzelnen Zuschreibungen wurde anschließend statistisch aufbereitet und übergreifenden Kategorien zugeordnet.

Im Ergebnis zeigte sich, dass etwa autistische Schülerinnen und Schüler als besonders kompetent und wenig warmherzig wahrgenommen wurden, Schülerinnen und Schüler mit Downsyndrom als besonders warmherzig und wenig kompetent und Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Störung als wenig kompetent und auch relativ wenig warmherzig.

Im Vergleich wurden autistische Schülerinnen und Schüler am kompetentesten und am wenigsten warmherzig empfunden, Kinder mit Down-Syndrom als am warmherzigsten und am wenigsten kompetent. Kinder und Jugendliche mit Lese-Rechtschreib-Störung lagen im Vergleich jeweils in der Mitte.

In die übergreifenden Kategorien „kompetent“ und „warmherzig“ seien dabei systematisch zahlreiche Einzelstereotypen eingeflossen, erinnern die Wissenschaftlerinnen. Einige dieser vielfältigen Zuschreibungen waren besonders verbreitet. „Stark ausgeprägt war es unter den angehenden Lehrkräften beispielsweise autistische Schülerinnen und Schüler als hochbegabt und introvertiert, Schülerinnen und Schüler mit Downsyndrom als gutmütig und unbeholfen und Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Störung als faul und leistungsschwach einzuschätzen“, erläutert Charlotte Schell.

Auch wenn solche Stereotypen bei einzelnen Personen zutreffend sein können, seien sie zu verallgemeinert und ignorierten individuelle Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern, wie die Wissenschaftlerin betont. Es greife zu kurz, alle Kinder und Jugendlichen in die gleiche Schublade zu stecken. „Sie haben spezifisch ausgeprägte Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die sich stark voneinander unterscheiden. Sie brauchen daher eine individuelle Förderung“, so Schell. Schätzten Lehrkräfte etwa ein Kind aufgrund einer Autismus-Diagnose von vornherein als sehr intelligent oder gar hochbegabt ein, könnten sie eventuell dessen Förderbedarf übersehen und es nicht genug unterstützen. Schließlich seien viele autistische Schülerinnen und Schüler nicht hochbegabt. Würde wiederum ein Kind mit Lese-Rechtschreib-Störung auf Basis von Stereotypen als faul angesehen, könnten die Lehrkräfte es auffordern, sich mehr anzustrengen, anstatt es gezielt gemäß seinem Bedarf zu fördern.

Um solchen Verallgemeinerungen entgegenzuwirken, will das DIPF weitere Bildungsangebote entwickeln, zum Beispiel Seminare, die das Wissen über die Förderbedarfe der einzelnen Gruppen und die Diagnostikkompetenzen vertiefen. Für zukünftige Studien haben die Forscherinnen überdies ein Modell erarbeitet, wie sich einzelne stereotype Zuschreibungen besser strukturieren lassen. Auf Basis ihrer Untersuchungen empfehlen sie eine Einordnung in die Kategorien „Akademische Kompetenz“, „Wärme“, „Soziale Fähigkeiten“ und „Verhaltensauffälligkeiten“. Charlotte Schell unterstreicht, dass weitere Forschung zu dem Thema sinnvoll erscheint: „Wir haben die Stereotype ja nur bei angehenden Lehrkräften und nur für drei der besonders förderbedürftigen Gruppen in den Blick genommen“, so die Bildungsforscherin. Derzeit sei das Projektteam außerdem dabei, die Wirkungen der Stereotype auf das Verhalten genauer zu untersuchen. (pm)

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Title: Inklusion: Die verborgenen Stereotypen angehender Lehrerinnen und Lehrer
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Date: April 28, 2024 at 09:15AM
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