DOMRADIO.DE: Sie sagen mit den richtigen Angeboten lässt sich das authentische Christsein wiederbeleben. Was verstehen Sie unter authentischem Christsein?
Prof. Matthias Sellmann (Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum): Ich glaube, dass es weiterhin auf Interesse stößt, Menschen mit Religion zu adressieren. Authentisches Christsein übersetze ich damit, dass Christen eine Leidenschaft für das Mögliche haben. Es sind Menschen, die es für möglich halten, dass Beziehungen weitergehen, die es für möglich halten, dass man diese Erde retten kann, dass man sich mit dem Nachbarn versöhnen kann, dass Krankheit und Tod nicht das Ende sind. Und dort wo Menschen das leben, wo sie ein Geheimnis ausstrahlen, wo sie Fröhlichkeit ausstrahlen, wo sie Großzügigkeit, Engagement und Humor ausstrahlen, da wird man vielleicht nicht sagen, das sind authentische Christen, aber man wird sagen, das sind sehr interessante Menschen. Was motiviert diese Menschen?
"Authentisches Christsein übersetze ich damit, dass Christen eine Leidenschaft für das Mögliche haben."
DOMRADIO.DE: Welche Angebote kann Kirche da machen? Wie müssten die aussehen?
Sellmann: Da gibt es eine große Palette und das ist ja auch mein Beruf, sich da Maßnahmen zu überlegen. In allererster Linie ist es wichtig, dass wir eine Alltagserfahrung vermitteln. Das hat ganz viel mit verständlicher Sprache zu tun, ähnlich wie Sie das als Radiosender machen. Man muss verständlich sprechen, man muss nahbar sein, über Gott im Alltag sprechen. In Deutschland wird viel zu wenig über den Glauben gesprochen. Die Menschen reden nicht über ihre Religiosität. Deswegen bildet sich die Idee heraus, der andere sei wahrscheinlich genauso wenig religiös wie ich und interessiere sich gar nicht dafür. Das stimmt aber gar nicht. Wo Menschen über Religion reden, über ihren Glauben, über das, was sie antreibt, hat man normalerweise großes Interesse. Das hat dann aber auch mit inspirierenden Liturgien zu tun. Das große Geheimnis von Gottesdiensten, von Weltkirche. Wir haben es beim Konklave erlebt, wie interessant und geheimnisvoll das sein kann, und auch wie skurril. Aber auch Skurrilität ist ja ein Anreiz.
Und dann stellt sich die Frage, wie diakonisch diese Kirche ist? Ist sie wirklich an meiner Seite, wenn es mir schlecht geht? Und zwar nicht abstrakt, sondern ganz konkret in faszinierenden, helfenden Persönlichkeiten, in der Telefonseelsorge, in der Notfallseelsorge, in der Hospizseelsorge. Sprache, Liturgie, Diakonie – das sind drei Marker, mit denen Kirche heute wieder Aufmerksamkeit für ihre Glaubwürdigkeit bekommen kann.
"Sprache, Liturgie, Diakonie – das sind drei Marker, mit denen Kirche heute wieder Aufmerksamkeit für ihre Glaubwürdigkeit bekommen kann."
DOMRADIO.DE: Stichwort Glaubwürdigkeit: Wie müsste sich die Kirche denn verändern, damit die Leute der Kirche diese Angebote auch wirklich abnehmen?
Sellmann: Zu jeder Zeit in der Kirchengeschichte muss sie in ihren Bischöfen, aber auch in ihren Küstern und Küsterinnen, in den Gläubigen, in den Nachbarn authentisch sein. Kirche verändert sich ja gerade sehr, sehr stark. Das wissen alle, die in Gemeinden, Pfarreien aber auch in Verbänden unterwegs sind. Natürlich wird es weniger: Kirchen werden abgerissen. Alles wird neu geordnet. Das ist die strukturelle Ebene, die sehr, sehr wichtig ist. Auch das Verhältnis zum Staat ist sehr wichtig und da müssen Regelungen neu justiert werden.
Kirche sollte insgesamt, und da sage ich ein gefährliches Wort – aber das ist ja auch mein Job -, als "Dienstleister für gelingendes Leben und für gelingende Kommunen" erkennbar sein. Das hat viel mit dem zu tun, was ich eben gesagt habe, aber auch auf der Organisationsebene. Das heißt, man sollte ein spannender Netzwerkpartner für den Stadttourismus, für die Feuerwehr, Polizei, für Moscheeverbände, für Caritas, Diakonie, Wohlfahrt usw. sein. Man sollte sich auch mit den Anliegen der nicht religiösen Partnerinnen und Partner vernetzen können. Es sollte erkennbar sein, dass man Engagement anbietet für Menschen, die Ehrenämter übernehmen wollen. Dieses Engagement sollte hohe Qualität haben. Es gibt also eine Menge organisationaler Qualifikationen, mit denen man als Kirche punkten kann. Als erwachsener Mensch von heute will man eine professionelle Kirche als Gegenüber haben. Und das können die Kirchenleute auch. Seelsorge ist ein weiterer ganz wichtiger Punkt. Seelsorge ist eigentlich überall vonnöten, nicht nur innerkirchlich. Und da braucht es neue Berufsbilder, neue Teamlösungen, neue Organisationslösungen. Ich glaube, es baucht auch eine neue Idee des Bischofsamtes und neue liturgische Formen.
"In Deutschland wird viel zu wenig über den Glauben gesprochen."
DOMRADIO.DE: Also eine große Anstrengung, die da unternommen werden muss. Ihr Kollege Jan Loffelt, Professor für Praktische Theologie, ist der Meinung, der Glaube-an-Gott-Zug sei abgefahren. Was wäre denn, wenn er Recht hätte?
Der Trend sinkender Mitgliedszahlen in den christlichen Kirchen in Deutschland hält an. Das zeigen erste Daten aus dem neuen Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann-Stiftung. Zugleich sind sich viele Menschen einig: Man kann auch ohne Kirche Christ sein. Das könnte die Bedeutung der Kirchen in der Gesellschaft auf Dauer verändern.
Sellmann: Jan Loffelt hat in vielem Recht, vor allem indem er uns darauf hinweist, dass wir uns die Sache mit dem fehlenden Gott nicht so einfach machen dürfen. Ich glaube, dass man gerade bei einer Gotteskrise eine starke Kirche und keine schwache Kirche braucht. Da unterscheiden wir uns. Wenn er Recht hat, wenn Gott wirklich abwesend ist, dann macht er das auf jeden Fall, damit wir irgendetwas neu verstehen. Er wird niemals einfach so aus Willkür abwesend sein. So ist dieser Gott nicht. Und deswegen muss man ihm gut zuhören. Man muss auch gut zuhören, wenn er mal nicht spricht. Aber wir müssen uns alle fragen, was das dann bedeuten soll.
"Kirche sollte (…) als "Dienstleister für gelingendes Leben und für gelingende Kommunen" erkennbar sein."
Das Interview führte Heike Sicconi.
Terminhinweis: Am 2. Juni diskutieren Prof. Dr. Matthias Sellmann, Prof. Dr. Jan Loffeld und Dr. Ann-Kathrin Armbruster um 19 Uhr in der Kölner Karl-Rahner-Akademie über das Thema "Ist Gott uninteressant? Religiöse Gleichgültigkeit als Herausforderung".
Title: Ist Gott uninteressant? / Theologe wirbt für authentisches Christsein in der Kirchenkrise
URL: https://www.domradio.de/artikel/theologe-wirbt-fuer-authentisches-christsein-der-kirchenkrise
Source: DOMRADIO.DE – Der gute Draht nach oben
Source URL: https://www.domradio.de/
Date: June 2, 2025 at 05:12PM
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