Was ist eigentlich Liebe? Und wie lebe ich sie – gerade gegenüber Menschen, die ich nicht leiden kann? Gedanken zur Jahreslosung 2024.
Von Pfarrer Marcus Tesch
Ich sitze mit dem Brautpaar zusammen. Wir planen ihre Hochzeit. Wie der Gottesdienst ablaufen soll. Aber auch darüber, wie sie sich kennengelernt haben. Was sie aneinander schätzen und wie sie ihr Leben teilen. Dazu gehört auch, dass sich die beiden einen sogenannten Trauspruch aussuchen – einen Vers aus der Bibel, der so etwas wie ein Leitmotiv für ihr weiteres gemeinsames Leben sein soll. Es ist fast immer ein Spruch, in dem es um Liebe geht. Das ist ja klar. Und so kommt es auch dieses Mal. Sie entscheiden sich für 1. Korinther 16,14, also den Vers, der für 2024 als Jahreslosung ausgesucht wurde: Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.
Es ist nur ein kurzer Satz, aber er hat es in sich. Der Sinn des Trauspruchs ist es, wie gesagt, dem Brautpaar einen guten Gedanken über ihr gemeinsames Leben zu stellen. Er ist gleichzeitig auch Ausgangspunkt für die Predigt im Gottesdienst, den das Brautpaar anlässlich ihrer Trauung feiern wird. Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe? Ich schaue mir das Brautpaar an, bekomme einen Eindruck von den beiden. Wie wirken sie auf mich? Gebe ich ihrer Liebe eine Chance, dass sie auch die stürmischen und schweren Zeiten überdauert? Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe. Und ich frage mich selbst, wie sieht es eigentlich mit mir aus? Lebe ich diesen Satz selbst? Mit meiner Frau? Mit meiner Familie? Oder gar auf der Arbeit?
„Paulus irritiert mich“
Paulus, der diesen Satz formuliert hat, irritiert mich. Nein, nicht mit dem Wort „Liebe“, sondern mit dem Wort „alles“. Ich sehe noch einmal das Brautpaar an. Schwer verliebt wirken die beiden. Dass sie das im Moment so fühlen, kann ich verstehen. Aber selbst sie werden doch wohl schon Zeiten erlebt haben, in denen das mit der Liebe nicht so einfach war. Angedeutet haben sie es ja im Gespräch. Aber wenn ich an meine eigene Lebens- und Liebesgeschichte denke, wird mir doch sehr schnell klar, dass ich diesen Maßstab selbst nicht eingehalten habe, weder meiner Frau noch meinen eigenen Kindern gegenüber. Klar, romantische Gefühle bleiben bestehen, auch wenn sie mal mehr oder weniger stark sind. Aber es gab und gibt immer wieder Momente, in denen es mit der Liebe nicht nur eitel Sonnenschein war. Und ich wundere mich immer wieder, wenn mir Paare berichten, sie hätten sich in den ganzen Jahren oder gar Jahrzehnten nie gestritten.
Was also soll ich dem Brautpaar sagen? Was ist glaubwürdig und echt, wenn ich dabei meine eigenen Erfahrungen berücksichtige? Ja, mehr noch, und das macht die Sache nur noch komplizierter: Paulus spricht an dieser Stelle gar nicht einmal ein vertrautes Paar in einer romantischen und intimen Liebesbeziehung an. Er meint schlicht uns alle mit seinem „alles!“ Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.
Liebe als Grundhaltung
Mir fallen auf Anhieb zig Menschen ein, die bei mir keine liebevollen Gefühle auslösen. Und wenn ich dabei noch daran denke, dass es selbst in einer intimen Beziehung auch mal wenig romantisch zugeht, erweist sich für mich dieser Vers als eine Überforderung – und absolut unrealistisch. Oder? Es sei denn, dass es vielleicht in diesem Zusammenhang gar nicht um Gefühle, ja nicht einmal um Sympathien geht – sondern um eine Grundhaltung. Eine Grundüberzeugung. Dass die „Liebe“, von der hier die Rede ist, nicht das Schmetterlingsgefühl in einer lauen Sommernacht bezeichnet, sondern eine Einstellung zum Leben.
Ich erinnere mich an eine Definition von „Liebe“, die ich vor einigen Jahren mal für mich formuliert habe, um zusammenzufassen, was die Liebe, von der die Bibel berichtet, eigentlich ausmacht, nämlich: So zu leben und so zu handeln, dass andere gemeinsam mit mir wachsen, blühen und sich entfalten können. Für mich hat sich diese Definition bis heute bewährt. Und ich war positiv überrascht, ähnliche Gedanken bei den von mir geschätzten Theologen Thomas J. Oord und Miroslav Volf wiederzufinden.
Bewährt deshalb, weil sie einerseits überhaupt keine Romantik voraussetzt, sondern eine Einstellung beschreibt, wie ich anderen Menschen begegne und mit ihnen umgehe. Andererseits, weil sie das Gebot Jesu ernst nimmt, den „Nächsten“ oder „Mitmenschen“ so zu lieben wie sich selbst. Wer sich nämlich, angeblich im Namen der Liebe, selbst aufgibt, liebt auch nicht wirklich, sondern macht sich anderen gegenüber klein. Aber bewährt auch, weil sie eine aktive Haltung beschreibt: „Liebe“ zeigt sich im persönlichen Umgang.
Mir fallen plötzlich so viele Szenen und Konstellationen ein, wo diese Definition eine Rolle spielt: bei der Erziehung der eigenen Kinder, im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen, beim gemeinsamen Sport, ja selbstverständlich auch in einer Liebesbeziehung, einer Ehe. Immer geht es darum, gemeinsam zu wachsen, nicht auf Kosten des, bzw. der anderen. Selbst aufzublühen und sich zu entfalten und dem oder der anderen das Gleiche zu ermöglichen. Ja, selbst in einer romantischen Beziehung ist es immer wieder nötig, sich daran zu erinnern: Gefühle allein ersetzen noch nicht, dass sich ein Paar gemeinsam entfaltet und aufblüht und gleichzeitig beide jeweils für sich. Gerade dann geht es nicht darum, sich aufzugeben, wie es leider manchmal mit einem falsch verstandenen christlichen Liebesbegriff begründet wird, sondern sich hinzugeben. Aber das ist dann eben die intensivste Form des gemeinsamen Wachsens, Blühens und sich Entfaltens.
Wie hat Jesus geliebt?
Sehen wir uns doch nur mal an, wie Jesus selbst gelebt und wie er geliebt hat! Wie er Menschen begegnet ist und wie sie in seiner Gegenwart aufgeblüht sind! Gleichwohl war seine Liebe so groß, dass seine Hingabe letztlich sogar zu seiner eigenen Aufgabe führte. Das ist ein Hinweis darauf, dass es in dieser gebrochenen Welt manchmal doch nicht anders geht, als dass die Liebe sich aufgeben muss, damit andere wachsen, aufblühen und sich entfalten können. Wenn jemand in einer akuten Notlage sein eigenes Leben opfern muss, damit ein anderer leben kann! Dass Gott in seinem Sohn Jesus diesen letzten Schritt geht, ist ein tiefer Einblick in die unauslotbare und gleichzeitig geheimnisvolle Liebe Gottes zu uns, die unerschütterlich ist.
Oft denke ich, hätten wir als Christinnen und Christen den Satz von Paulus mehr beherzigt: Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe! Hätten wir bloß mehr davon verstanden, so zu leben, dass andere gemeinsam mit uns wachsen, blühen und sich entfalten können! Aber leider erlebe ich immer wieder mal, dass große religiöse Gefühle (auch für Jesus!) mit der Liebe, wie Paulus sie meint, verwechselt werden. Und dass Christinnen und Christen, die sich eben noch hingebungsvoll dem Lobpreis gewidmet haben, anschließend sehr lieblos verhalten können. Obwohl doch gerade die Liebe das Erkennungszeichen für sie sein sollte … !
Ich blicke noch einmal das Brautpaar an. Ich denke an mich und meine eigenen Erfahrungen. Und so langsam entstehen erste Gedanken für eine Traupredigt. Ich wünsche ihnen, dass der Schritt, den sie gehen, ihnen hilft, in einer ganz innigen Weise Menschen zu werden, die gemeinsam wachsen, blühen und sich entfalten – oder, um es mit Paulus zu sagen: „alles in der Liebe tun!“
Marcus Tesch ist Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland.
Für jedes Jahr wählt die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) einen Leitvers aus der Bibel aus. Begründet wurde diese Tradition vom schwäbischen Pfarrer Otto Riethmüller im Jahr 1930. Mit den bekannten Tageslosungen hat die Jahreslosung nichts zu tun.
Links zur Jahreslosung:
Wer hat eigentlich die Jahreslosung erfunden?
Weitere Informationen zur Jahreslosung und den Versen der letzten Jahre
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Date: October 24, 2023 at 12:16PM
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