Was denkt die junge Generation über die Zukunft der Kirche? Vier Studierende erzählen von Kirche im Panikmodus, authentischer Nachfolge und warum die Zeit der „One-Man-Show“ im Altarraum abgelaufen ist.
Gesprächsteilnehmer:
Simon, Theologiestudent, steht kurz vor dem Examen und möchte so bald wie möglich anfangen in einer Kirchengemeinde zu arbeiten.
Helen, studiert Hebammenwissenschaft im zweiten Semester und kam als Erwachsene zum
Glauben.
Natalie studiert Theologie und wünscht sich, dass Christen ihren Fokus mehr auf Jesus als auf Finanzen und die Außenwahrnehmung legen.
Lea studiert Jura und bringt sich ehrenamtlich in ihre Gemeinde ein.
Die Fragen stellten Micha Baab (Student Evangelische Theologie) und Pfarrer Andreas Schmierer (Württembergische Kirche).
Micha: Simon, du hast einmal erwähnt, wie die Arbeit mit Konfirmanden dir die Augen dafür geöffnet hat, dass die Kirche Menschen erreichen kann, die sonst wenig mit Glauben zu tun haben. Kannst du das erläutern?
Simon: Durch die Konfirmationsarbeit konnte ich sehen, dass wir Leute erreichen, die normalerweise keinen Kontakt zur Kirche haben. In Freikirchen versucht man oft gezielt, Außenstehende anzusprechen. Die Landeskirche bietet durch Kasualien und den Konfirmationsunterricht eine natürliche Begegnung. Das fasziniert mich und bindet mich stärker an die Landeskirche. Andreas: Helen, du sprachst von deinem Wunsch nach Freiräumen innerhalb der Kirchenstruktur. Wie wichtig ist das für dich?
Helen: Für mich ist es entscheidend, dass ich mich innerhalb der Kirchenstrukturen entfalten kann. Wenn die Kirche zu einem Ort wird, der keinen Raum für persönliche Entwicklungen und Projekte bietet, fühlt es sich an, als könnte ich auch in einem Sportverein sein. Die Kirche muss Jesus und Gott in den Mittelpunkt stellen, sonst verliert sie ihre Essenz. Micha: Lea, du hast eine interessante Perspektive auf das Geben und Nehmen in einer Gemeinschaft gebracht. Wie siehst du die Balance zwischen persönlicher Erfüllung und dem Beitrag zur Gemeinschaft?
Lea: Es ist wirklich wichtig, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Wir sollten nicht nur dort sein, wo wir uns am wohlsten fühlen, sondern auch offen sein, Neues auszuprobieren und inspirieren zu lassen – auch von jüngeren Gemeindemitgliedern. Das ist die Art von Dynamik, die ich mir für die Kirche wünsche. Andreas: Und wie steht es um die kritischen Töne innerhalb der Kirche, Simon? Du hast erwähnt, dass du einen kritischen Blick für die Bedürfnisse der Stadt entwickeln möchtest.
Simon: Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Kirche sollte nicht nur nach innen schauen. Wir müssen bewusst wahrnehmen, wo wir in der Gesellschaft dienen können. Es geht darum, aktiv zu sein und nicht nur zu reagieren. Das ist ein zentraler Aspekt lebendiger Gemeindearbeit.
Ja, das macht doch authentisches Christsein aus, dass ich spüre, dass sich der Glaube auf das ganze Leben ausbreitet.
Helen
Andreas: Natalie, wenn deine Kirche dich zur Geburtstagsparty einlädt. Was schreibst du auf die Glückwunsch-Karte?
Natalie: Ehrlich gesagt würde ich mich wundern, dass ich eingeladen wurde.
Micha: Warum würdest du dich über die Einladung wundern?
Natalie: Vielleicht weil ich nicht so eng mit meiner Kirchengemeinde verbunden bin, wie andere es sind. Es fühlt sich so an, als stünde ich etwas abseits, und das macht mich nachdenklich über meine Rolle und Zugehörigkeit in der Kirche. Mich stört es, wenn Jesus nicht mehr der Mittelpunkt ist und Christsein mit „Ein-guter-Mensch-Sein“ gleichgesetzt und viel über Ethik und die Außenwahrnehmung von Kirche gesprochen wird. Es fehlt mir an vielen Punkten an der konsequenten, radikalen Jesus-Nachfolge, wo man merkt: Da brennt jemand für Gott. Das ist Landeskirche, wie ich sie mir wünschen würde.
Helen: Ja, das macht doch authentisches Christsein aus, dass ich spüre, dass sich der Glaube auf das ganze Leben ausbreitet.
Andreas: Wie war das für dich, Helen, als du angefangen hast, dich mit dem Glauben näher zu beschäftigen und in den Gottesdienst zu gehen? Was hat dich überzeugt?
Helen: Für mich war es besonders, wenn ich Menschen erlebt habe, die der Bibel treu sind, die ganz natürlich im Gottesdienst und im Gespräch erzählt haben, wie das ist, mit Jesus zu leben und man spürt: Dieser Glaube hat Konsequenzen und Christen engagieren sich auch für andere.
Andreas: Du meinst also Evangelisation und Diakonie?
Helen: Ja, genau. Das macht eine lebendige Gemeinde aus.
Kirche im Panikmodus
Andreas: Als junger Pfarrer erlebe ich die Kirche gerade sehr im Panikmodus. In meiner Kirche müssen über 130 Millionen in den nächsten 4 Jahren gespart werden. Die Menschen treten in anhaltend hoher Zahl aus der Kirche aus. Wie erlebt ihr das?
Lea: Ich nehme den Panikmodus wahr, aber ich finde er ist auch ein bisschen unnötig. Man redet viel darüber, was nicht läuft und wie viele Millionen fehlen. Aber warum fragt man nicht: Welche Ressourcen haben wir noch und was könnten wir Innovatives und Cooles damit starten? Ich würde dort radikal kürzen, wo niemand mehr in die Kirche geht. Dann lieber „Ciao“ sagen und das Geld für andere nutzen. Vermutlich müsste man auch mehr auf Ehrenamtliche setzen. Aber haben diese die Kraft dafür? Es ist ja die Frage, ob mein Ehrenamt für mich Last oder etwas Schönes ist. Ich bin überzeugt: Ehrenamt kann total erfüllend und sinnstiftend sein. Es wird jetzt den Theologen und Pfarrern nicht gefallen, aber ich glaube, es braucht nicht immer diese eine Pfarrperson, die alles macht.
Helen: Ja, genau! In Landeskirchen habe ich das Gefühl, dass sehr viel Verantwortung auf den Pfarrern liegt und dass es in vielen Freikirchen etwas besser verteilt ist. Dort gibt es mehr Ansprechpartner. Ich glaube, dass auf landeskirchlichen Pfarrern viel Verantwortung lastet. Mein Onkel zum Beispiel hatte ein Burnout und am Ende hat er auch noch seinen Glauben verloren. Die Verantwortung sollte auf noch mehr Schultern verteilt werden. Ebenso wünsche ich mir von den Gemeindegliedern, dass sie verstehen: „Okay, ich bin Teil dieser Kirche. Ich bin nicht weniger wichtig, wenn ich gerade nicht die Predigt halte und stehe genauso in der Mitverantwortung!“
Micha: Es braucht also mehr als die One-Man-Show?
Helen: Absolut!
Wo sind die Leute, die Jesus von Herzen nachfolgen? Mit denen habe ich einen Kern an Leuten, statt eine Masse an Dazugehörigen.
Natalie
Andreas: Zurück zur Krisenstimmung …
Natalie: Für mich ist die Frage eher: Wo sind die Leute, die Jesus von Herzen nachfolgen? Mit denen habe ich einen Kern an Leuten, statt eine Masse an Dazugehörigen. Ja, wir sind dann vielleicht weniger und eben nicht mehr Volkskirche, aber vielleicht ist das mehr eine sichtbare Spiegelung dessen, was die unsichtbare Kirche von Anfang an war. Ich sehe in der Krise auch die Chance, dass wir uns als Kirche nochmal neu finden und überlegen, was Christsein bedeutet, auch mit dem Bild der Gemeinde als „Braut Christi“.
Micha: Also gibt es ein gewisses Gesundschrumpfen der Kirche?
Simon: Ich bin nicht so ein Freund vom Gesundschrumpfen, weil wir uns von wichtigen Aufgaben verabschieden werden müssen. Wenn ich denke, was Kirche im diakonischen Bereich leistet und wofür dann das Geld eventuell fehlt! Das ist bitter. An dieser Stelle ist die Kirchenleitung herausgefordert. Das sind die unschönen Seiten der Leitung, hier eine Entscheidung zu treffen. Es ist eine riesige Herausforderung in einer pluralen Landeskirche Prioritäten zu setzen – und das ist jetzt dran. Vor Ort brauchen wir auch eine neue Mentalität. Es braucht nicht jeder Ort ein Gemeindehaus. Das sind Kosten, die wir haben und wenn wir das Geld nicht haben, dann müssen wir es halt verkaufen und uns fragen: Worin investieren wir das Geld?
Der Gottesdienst als Mitte der Gemeinde
Andreas: Ist der Gottesdienst für euch das Zentrum des Gemeindelebens? Oder braucht es neue oder andere Formate, wo Menschen mit unterschiedlichen Interessen zusammenkommen und dennoch Teil einer Gemeinde sind?
Helen: Ich finde, Hauskreise sind eine gute Ergänzung. Es ist gut, wenn Gemeinden neben dem Gottesdienst noch Kleingruppen anbieten, wo ich mit anderen Bibellesen und mich austauschen kann. Das ist ein Ort für meine Fragen und Zweifel. Dort kann ich im Glauben wachsen.
Natalie: Ich finde, die Jakobusgemeinde in Tübingen richtig cool. Es war glaube ich im letzten Jahr, da gab es eine Art Sommerfest mit unterschiedlichen Künstlern. Ein richtig starkes Event, wo viele aus der Gemeinde da waren und man auch Freunde dazu einladen konnte. Es war toll zu erleben, dass sich die Gemeinde auch außerhalb von Gottesdiensten trifft und jeder auf seine Weise Jesus feiert, miteinander isst und einander begegnet.
Simon: Mir fällt es schwer zu glauben, dass Gemeinde auch ohne den Sonntagsgottesdienst funktionieren soll, weil ich glaube, es braucht schon eine regelmäßige Gemeindeveranstaltung, wo alle kommen und es ist gut, wenn es darüber hinaus noch anderes gibt.
Lea: Aber müsste es für dich der Gottesdienst sein?
Simon: Für mich ist es schon so, weil ich sagen würde, ich betreibe ja Gottesdienst damit wir uns gemeinsam treffen, um Gott zu loben, gemeinsam unseren Glauben zu teilen und auf Gott in der Predigt zu hören. Ich glaube, das ist das Zentrum der christlichen Gemeinde. Und ja: Über die Uhrzeit können wir uns nochmal unterhalten. Der Gottesdienst darf auch abends sein.
Wir feiern Gottesdienst in einer Form, wie er für unsere Kultur anschlussfähig ist
Simon
Andreas: Und wie sollte der Gottesdienst gestaltet werden?
Lea: Ich wünsche mir, dass manches im Gottesdienst reduzierter ist: Ich bin kein Freund von gesungenen Psalmen oder so, aber ich kann total verstehen, wenn man da etwas Schönes empfindet. Ich glaube, viel wichtiger ist, dass man Sachen erklärt. Ich bin klassisch christlich aufgewachsen und trotzdem ist mir vieles nicht klar. Wie geht das erst jemandem, der zum ersten Mal im Gottesdienst sitzt? Ich fände es cool, wenn mehr eingebaut wird, warum wir das tun, was wir tun.
Simon: Zustimmung! Ich glaube auch, dass ganz viel daran liegt, wie wir Rituale oder Traditionen erklären! Mir ist manches erst durch das Studium bewusst- und wichtig geworden. Im Gottesdienst bin ich hin- und hergerissen zwischen einer Anpassung an die Kultur der Gegenwart und gleichzeitig auch den Wunsch etwas „Gegenkultur“ zu sein. Mein jugendliches Ich hätte gesagt: Orgel braucht es gar nicht mehr, wir machen nur noch Lobpreis. Doch es gibt auch Leute, die eine ganz andere Art von Liturgie mögen. Da habe ich noch keine Lösung, wie man das in Einklang bringen kann.
Lea: Ich kann mich der „Gegenkultur“ nicht so recht anschließen. Es kommt für mich ein bisschen darauf an, ob man neben etwas Höherschwelligem auch etwas Niederschwelliges anbietet. Ich glaube Ersteres hat auch eine große Anziehungskraft, aber es ist mir wichtig, dass Menschen nicht überfordert sind. Wie soll jemand beim ersten Besuch checken, in welchem Buch man gerade blättert und während man sucht, sind die anderen schon viel weiter.
Simon: Da ist unser württembergischer Gottesdienst relativ entspannt, oder? Da sind die liturgischen Elemente ja schon reduziert. Zugleich finde ich es sinnvoll, dass wir uns zu eigen machen, was die Erweckungsbewegung schon erkannt hatte: Wir feiern Gottesdienst in einer Form, wie er für unsere Kultur anschlussfähig ist – und da passt für die meisten Leute einfach Lobpreismusik besser rein als gregorianische Gesänge.
Patient Kirche
Andreas: Simon, du sprichst von der Herausforderung, Prioritäten zu setzen. Was würdest du der Kirche für die Zukunft raten?
Simon: Die Kirche muss entschlossen und mutig sein, Prioritäten zu setzen und dabei auf den Heiligen Geist zu hören. Es geht nicht darum, allen zu gefallen, sondern mutig Entscheidungen zu treffen, die langfristig tragfähig sind. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir eine missionarische und dienende Rolle in der Gesellschaft haben.
Lea: Ich würde der Kirche raten, dass sie bei ihren Angestellten noch interdisziplinärer wird: Es ist schwierig, so unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen in der Person einer Pfarrperson zu vereinigen. Wir brauchen mehr Mut noch teamorientierter zu denken! Und ich würde der Kirche raten: Geh zu einem Coach und erarbeitet gemeinsam eine Vision für die nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre. Sei mutig, liebe Kirche, und schaffe Raum für Visionäre!
Natalie: Ja, und es braucht eine Entschlossenheit, ein mutiges Auftreten, dass wir nicht so wirken, als ob die Kirche gerade untergeht, denn das ist weder anziehend noch die Realität. Wir wandeln uns gerade, aber wir werden niemals aussterben, das hat Jesus schon verheißen! Micha: Vielen Dank an euch alle für diese tiefgehenden Einsichten. Es ist klar, dass die Zukunft der Kirche in den Händen einer neuen Generation liegt, die bereit ist, sowohl ihre Traditionen kritisch zu hinterfragen als auch mutig neue Wege zu gehen.
Micha: Vielen Dank an euch alle für diese tiefgehenden Einsichten.
Dieses Gespräch ist im kirchlichen Ideenmagazin 3E erschienen. 3E ist wie Jesus.de ein Angebot des SCM Bundes-Verlags.
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Date: June 27, 2024 at 08:32AM
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