Kirche und Krieg | Kirchenkampf in der Ukraine: Der Staat schwächt seine demokratische Glaubwürdigkeit

Kirche und Krieg | Kirchenkampf in der Ukraine: Der Staat schwächt seine demokratische Glaubwürdigkeit

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Die traditionelle Orthodoxe Kirche hat sich vom Moskauer Patriarchat losgesagt, doch das reicht der Regierung in Kiew nicht mehr

Kirchenkampf in der Ukraine: Der Staat schwächt seine demokratische Glaubwürdigkeit

Russland und die Ukraine, das sind nicht nur zwei Staaten, das sind auch zwei verschiedene (Kultur-)Nationen – früher war es anders, aber heute ist das so. Allerdings reichen die Spuren der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, wie es ja gar nicht anders sein kann. Im Fall der Ukraine hat es bis in den Krieg hinein sogar eine institutionelle Spur gegeben, die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche nämlich, die – selbstverwaltet zwar – dem Moskauer Patriarchat unterstand. Dieser Kirche droht jetzt das Verbot, obwohl sie sich von der Moskauer Oberhoheit bald nach Kriegsbeginn befreit hat. Für die ukrainische Regierung ist sie gleichwohl die fünfte Kolonne des Feindes. Der Kirchenkampf, den sie entfesselt, ist eine Parallelerscheinung zu ihrem Kampf etwa gegen russische Musik; zum Beispiel ließ sie Protest einlegen, als kürzlich die Mailänder Scala die Saison 2022/23 mit Boris Godunow von Modest Mussorgski eröffnete. Dabei war das so lehrreich! Die Inszenierung unterstrich die aktuell wichtigste Botschaft der Oper: wie das gewaltige tote Gewicht der russischen Geschichte, und auch der riesigen russischen Räume, auf den Seelen der Lebenden lastet. Aber es macht noch einen Unterschied, ob Musik bekämpft wird oder eine Institution wie die orthodoxe Kirche.

Selenskyjs Neutralität

Deren organisatorische Situation, wie sie bis vor Kurzem bestand, kann zum Teil mit der Abhängigkeit aller katholischen Nationalkirchen vom römischen Papst verglichen werden. Auch diese Abhängigkeit hat gelegentlich zu Kirchenkämpfen geführt, so im zweiten deutschen Kaiserreich unter Bismarcks Kanzlerschaft. Die orthodoxen Kirchen haben aber nicht wie die katholischen ein einziges Zentrum, sondern mehrere, die zwar kollegial verbunden, aber gegeneinander selbstständig oder – wie der Fachbegriff lautet – „autokephal“ sind (von griechisch kephalé, das Haupt). Am Anfang der Kirchengeschichte war auch Rom nur ein solches Zentrum neben den anderen („Papst“ und „Patriarch“ bedeuten dasselbe: Vater), beanspruchte aber einen Primat und löste sich schließlich von den anderen Zentren ab.

Wie die ukrainische war auch die lettische Kirche selbstverwalteter Teil des Moskauer Patriarchats, befreite sich aber nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs von dieser Bindung. Im ukrainischen Fall war es komplizierter. Die Gründung einer ukrainischen Nationalkirche, die sich von Moskau loslöste, geschah schon 2018, änderte aber nichts am Fortbestand der alten Strukturen; es gab nun zwei Ukrainisch-Orthodoxe Kirchen nebeneinander, wobei die traditionelle Kirche nach wie vor die meisten Priester, Klöster und Gemeinden hat – mehr als zehntausend Gemeinden, die im Verbotsfall nach ukrainischem Recht alle einzeln belangt werden müssten. Jene Neugründung war ein Projekt von oben gewesen, gefördert von Präsident Wolodymyr Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko. Während die beiden ukrainischen Kirchen sich gegenseitig die Legitimation absprachen, verhielt sich Selenskyj zunächst neutral, auch weil ihm bewusst gewesen sein dürfte, dass er nicht zuletzt von den Mitgliedern der traditionellen Kirche gewählt worden war. Doch dann kam der Krieg.

Am Tag des russischen Überfalls, dem 24. Februar, erklärte das Oberhaupt der mit Moskau verbundenen Kirche, Metropolit Onufrij: „Wir verteidigen die Souveränität und die Integrität der Ukraine und appellieren an den russischen Präsidenten und bitten ihn, den brudermörderischen Krieg sofort zu beenden.“ Da er zu tauben Ohren sprach, wandten sich seit Kriegsbeginn einige Bischöfe und viele Priester derselben Kirche von Moskau ab. Im April verurteilten mehr als vierhundert Priester in einem Schreiben an alle orthodoxen Kirchenführer im Ausland die Theorie ihres Moskauer Oberhaupts Kirill von der „russischen Welt“, die, wie dieser erklärt hatte, überall dort sei, wo es eine orthodoxe Tradition gebe. Weil auch das nichts fruchtete, erklärte ein Landeskonzil Ende Mai die „volle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit“ der traditionellen Kirche – ihr Namenszusatz „Moskauer Patriarchat“ wurde gestrichen. Obwohl das Wort nicht fiel, war nun auch sie autokephal. Ihre Praxis beweist es: Eine Liturgie des Gottesdienstes, wie sie nur Patriarchen zusteht, wird nun von Onufrij zelebriert, man nimmt sich das Recht zur Gemeindegründung auch außerhalb der Ukraine und weiht selber das Salböl.

Doch Präsident Selenskyj hat seine Neutralität aufgegeben. Am Jahresende berief er Viktor Jelenski, einen früheren Abgeordneten, der das Verbot der traditionellen Kirche seit Langem fordert, zu seinem Berater in Religionsfragen und Chef des für ethnische Angelegenheiten und Gewissensfreiheit, daher auch für Religionsfreiheit zuständigen Amtes. Jelenskis Amtsvorgängerin hatte in einem Interview gesagt, auch in der traditionellen Kirche werde für den Sieg der Ukraine gebetet – das war nicht mehr opportun. Schon im Sommer war der Geheimdienstchef ausgetauscht worden: Der alte hatte sich wie bis dahin Selenskyj neutral verhalten, der neue gehörte zu den Gegnern der traditionellen Kirche. Danach häuften sich die Razzien, und natürlich fand man hier und da „belastendes Material“. Es lässt sich nun einmal nicht leugnen, dass es in der Ukraine Russlandfreunde gibt – seit Langem übt sich die ukrainische Regierung in diesem Spagat, einerseits jegliche Russlandfreundschaft in ihrem Land zu bestreiten, sodass die Einwohner des Donbass nur misshandelte Opfer russischer Besatzer sein können, während andererseits die antirussische Kulturpolitik ganz offen mit ebenderselben Russlandfreundschaft, die man nicht dulden wolle, gerechtfertigt wird. So erklärte Selenskyj Anfang Dezember in einer Ansprache, in der er Maßnahmen gegen die traditionelle Kirche ankündigte, die ukrainische „spirituelle Unabhängigkeit“ müsse sichergestellt werden. Niemand dürfe „ein Imperium in der ukrainischen Seele errichten“.

Kiewer Höhlenkloster

Das ist ein anderer Ton, als wenn in Kirchenrazzien Priester unter dem Verdacht festgenommen werden, für das russische Militär spioniert zu haben. Solche Priester können ja wohl nicht repräsentativ sein für eine Kirche, deren Konzil sich von Russland abgewandt hat. Worin soll sie denn „manipuliert“ sein, wie ihr von Selenskyj unterstellt wird? Darin vielleicht, dass sie Weihnachten noch am 6./7. Januar feiert, wie das auch die Gläubigen in Russland und Serbien tun? Andere werben jetzt vermehrt dafür, die Feier auf den 24./25. Dezember vorzuverlegen (der Freitag 51/2022), denn damit sei man dem Westen näher. Was Selenskyj vorhat, ist indessen ganz handfest. Jenes Amt für Gewissensfreiheit soll prüfen, ob die traditionelle Kirche weiterhin kirchenrechtliche Verbindungen zum Moskauer Patriarchat pflege.

Wie die Prüfung ausgeht, ist absehbar, da die Kriterien des neuen Amtschefs Jelenski bekannt sind: Er hatte 2019 ein Gesetz eingebracht, wonach eine Kirche, die der Kirche eines Aggressorstaats zugehöre, deren Namen tragen muss; über die Zugehörigkeit, so weiter der Gesetzentwurf, entscheide die Kirche des Aggressorstaats. Da die traditionelle Ukrainisch-Orthodoxe Kirche der russischen zwar nicht mehr zugehört, die russische sie aber immer noch als zugehörig ansieht – gemäß jener Ideologie der „russischen Welt“, die von der ukrainischen Kirche zurückgewiesen worden ist –, müsste diese sich also künftig „Russische orthodoxe Kirche in der Ukraine“ nennen. Jelenskis Gesetzentwurf wurde am 27. Dezember vom ukrainischen Verfassungsgericht für verfassungsgemäß erklärt. Das Vorgehen Jelenskis, dem sich Selenskyj anschließen dürfte, ist die Alternative zur Forderung der Partei Poroschenkos, die traditionelle Kirche gleich ganz zu verbieten.

Selenskyj weiß, dass ein Verbot vor dem Europäischen Gerichtshof keinen Bestand hätte. Aber da die traditionelle Kirche sich weigern wird, den erlogenen Namen hinzunehmen, ist es letztendlich doch ein Versuch, ihr Verbot herbeizuführen und erst einmal vorzubereiten. Angekündigt hat Jelenski schon, ihr den Mietvertrag des berühmten Höhlenklosters in Kiew, wo sie ihren Hauptsitz hat, zu kündigen. Dieses Kloster ist eins der ältesten der Kiewer Rus, schon Anfang des 12. Jahrhunderts wird es in einer Chronik erwähnt. Mit dem Versuch, alles zu leugnen, was Russland und die Ukraine einmal verbunden hat, schwächt der ukrainische Staat zugleich auch die eigene demokratische Glaubwürdigkeit.

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January 29, 2023 at 05:11AM