Kirchen bieten Logistik / Vor 30 Jahren entstand in Berlin die erste Tafel

Kirchen bieten Logistik / Vor 30 Jahren entstand in Berlin die erste Tafel

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Es ist eine Idee, die vor allem durch ihre Einfachheit besticht: Warum überschüssige Lebensmittel wegwerfen, wenn Obdachlose nichts haben und Geringverdiener kaum über die Runden kommen? Anfang der 1990er Jahre setzte eine Berliner Fraueninitiative diese Idee um.

Die Tafel fing ganz klein an

Nach einem Vortrag der damaligen Sozialsenatorin über Obdachlosigkeit gründeten sie ein Hilfsprojekt und gaben das am 22. Februar 1993 auf einer Pressekonferenz bekannt. Die Geburtsstunde der Tafel war aber schon am Vortag, wie es auf ihrer Website heißt. 

Allein in der Hauptstadt unterstützen die Ausgabestellen der Tafel mehrere 10.000 Menschen pro Woche mit Lebensmitteln. Dabei fing alles ganz klein an: Die Frauen holten Lebensmittel in eigenen Autos ab, die etwa nach einer Feier übrig geblieben waren, und gaben sie zunächst an obdachlose Menschen weiter.

Von Anfang an dabei war die Berlinerin Sabine Werth, die den Verein heute ehrenamtlich leitet und mehrfach für ihr Engagement ausgezeichnet wurde. 

Kunden müssen Bedürftigkeit belegen

Längst arbeitet der Verein heute professionell: Die Tafel-Zentrale ist auf dem Berliner Großmarktgelände in der Moabiter Beusselstraße. Dort stehen die Fahrzeuge der Tafel, und immer noch kommen hier viele Lebensmittel an.

Oberstes Kriterium für die Auslieferung: Sie müssen noch einwandfrei genießbar sein. Überdies sind Alkohol und Tabak tabu. Auch wer die Hilfe der Tafel in Anspruch nimmt, hat Bedingungen zu erfüllen. Klienten müssen ihre Bedürftigkeit belegen und Nachweise für Sozialleistungen vorzeigen. 

Andere Städte kopierten das Berliner Modell, das sich wiederum an Initiativen in New York orientierte. Mitte der 1990 Jahre entstand unter Werths Initiative der Bundesverband der Tafeln mit Sitz in Berlin. Nach wie vor finanzieren sie sich nur über Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Kirchengemeinden als Logistik-Lösung

Inzwischen helfen sie rund zwei Millionen Menschen in Deutschland – Tendenz steigend, nicht zuletzt wegen der steigenden Zahl von Flüchtlingen. Seit 2005 gibt es in Berlin zudem die Initiative Laib und Seele.

Hintergrund: Die vielen Lebensmittel sollten dezentral abgegeben werden, lange fand Werth keine geeigneten Stellen dafür. Schließlich kam – ausgelöst durch einen Hörfunk-Beitrag über die Tafel – die Idee, kirchliche Gemeinden in Berlin dafür zu gewinnen.

Heute teilen Ehrenamtliche in fast 50 Berliner Kirchengemeinden Lebensmittel aus. Auch in anderen Städten hat dieses Konzept Anklang gefunden. Zudem waren immer kreative Ideen gefragt, um außer den Lebensmittelspenden – daran beteiligen sich inzwischen auch Supermärkte und Discounter – auch Geld für die Logistik einzuwerben.

Kundschaft veränderte sich im Laufe der Jahre

Ein Gedanke war etwa, dass man an Pfandautomaten für die Tafel spenden kann, heute an vielen Orten ganz selbstverständlich. Im Laufe der Jahre veränderte sich auch die Kundschaft: Waren es zu Beginn in der Regel Obdachlose, sind es inzwischen Arbeitslose und Geringverdiener, Alleinerziehende und Rentner. Dazu kommen geflüchtete Menschen.

Zugleich sind die Schlangen an den Ausgabestellen immer länger geworden – in diesen Tagen sind es geflüchtete Menschen aus der Ukraine, die kommen, und viele, denen die hohen Lebensmittel- und Energiepreise zu schaffen machen. 

Auch Kritik an der Tafel gab und gibt es: Hauptvorwurf ist, dass sich die Tafeln von ihrem ursprünglichen Ansatz als Notlösung entfernt hätten und der Politik inzwischen als eine Art Alibi dienten.

Der Tafel geht es um Begegnungen

Die Tafeln kontern: Natürlich müsse die Bewegung aufpassen, sich nicht vereinnahmen zu lassen – nicht von der Politik, nicht von Lebensmittelketten. Und natürlich hätten sie im Laufe der Jahre Fehler gemacht, aber auch dazu gelernt. 

Zugleich betont der Bundesverband, dass die Tafeln nie den Anspruch gehabt hätten, eine Vollversorgung zu bieten; das sei eindeutig Aufgabe des Staates. Stattdessen wollten sie Menschen ermöglichen, sich vielleicht auch mal eine kulturelle Veranstaltung leisten zu können.

„Sie sind heute der erste Mensch, mit dem ich rede.“

Und es geht den Tafeln um Begegnungen: Sie habe es erlebt, so Werth, dass eine Frau nachmittags beim Abholen der Lebensmittel sagte: „Sie sind heute der erste Mensch, mit dem ich rede.“ Alleine dafür sei es doch toll, dass es die Tafeln gebe.

Religion

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February 21, 2023 at 07:14AM