Klassenfahrten abschaffen? Schule ist mehr als Leistung und Noten! Ein pädagogisches Plädoyer für Klassenfahrten

HAMBURG. „Schafft Klassenfahrten ab!“ – so hat Lehrer Ryan Plocher unlängst in einem großen Gastbeitrag in der „Zeit“ gefordert. Er stellt darin infrage, dass Klassenreisen – wie stets beteuert – den Teamgeist fördern. Er meint stattdessen: „Sie sind für Eltern zu teuer, für Lehrer zu anstrengend und für viele Kinder schwer auszuhalten.“ Dieser These stellen nun auf News4teachers fünf Bildungsforscher*innen vom Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Augsburg – Thomas Gottfried, Gerhard Koller, Dr. Elmar Straube, Dr. Denise Weckend und Prof. Dr. Klaus Zierer – ihre Replik entgegen.

Klassenfahrten und Exkursionen sind für Lehrer organisatorisch und im Ablauf arbeitsaufwändig – aber: Das Engagement zahlt sich aus. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

„Alte Tradition Klassenfahrt“, „In Jugendherbergen ist häufig die Zeit vor der Wende stehen geblieben“ oder „Klassenfahrten als Überbleibsel vergangener Jahrhunderter“ – dies sind nur einige Aussagen, die am 19.7.2023 im Beitrag „Schafft Klassenfahrten ab!“ von Ryan Plocher veröffentlicht wurden, der als GEW-Mitglied schreibt und Verbandspolitik auf dem Rücken der Kinder betreibt, Vertretern des Schontyps unter den Lehrern dürften zwar seine Vorschläge gefallen, jedoch stehen sie allen Erkenntnissen sozialpsychologischer und schulpädagogischer Forschung entgegen, mehr noch: Sie sind ein pädagogisches Armutszeugnis und eine erzieherische Insolvenzerklärung.

Klassenfahrten hinterlassen Spuren im Gehirn.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Schulzeit denken? Neben beeindruckenden Lehrerpersönlichkeiten sind es vor allem Klassenfahrten. Oft waren schon die Wege zum Ziel ein Abenteuer – ob im Zug, Bus oder beim Schüleraustausch auch im Flugzeug. Dazu die Zimmerverteilung, das Essen und mehr oder weniger gelungene Versuche, Grenzen auszutesten. Die Schlafenszeit hinauszuzögern, sich in andere Zimmer zu schleichen und dabei die Aufsicht auszutricksen. Nächtelanges Quatschen am Bett, die ersten vorsichtigen Annäherungen an die erste Liebe, vielleicht ein heimlicher Kuss. Der erste Rausch samt Folgen oder die gegenseitige Hilfe bei Missgeschicken aller Art. All dies bleibt mehr in Erinnerung als Vokabeltests, der Satz des Pythagoras, Experimente mit KI oder der Felgaufschwung am Reck.

Die pädagogische, nicht die gewerkschaftsnahe Antwort auf den Beitrag von Ryan Plocher kann somit nur lauten: Mehrtätige Klassenfahrten inklusive erlebnispädagogische Maßnahmen und Programme wie Zeltlager, Lesenächte, Wanderungen müssen fester Bestandteil im Schulleben sein. Jedes Kind sollte einmal im Schuljahr eine Klassenfahrt machen! Denn gerade solche Maßnahmen zeichnen sich durch hohe Follow-Up-Effekte aus: Selbst ein Jahr später lässt sich die Wirkung von Klassenfahrten im Hinblick auf die Lehrer-Schüler-Beziehung und die Lernleistungen messen, während die Wirkung temporärer oder spontaner schulischer Interventionen schnell wieder verfliegt.

Es ist kein Zirkelschluss, zu behaupten, dass Klassenfahrten die Klassengemeinschaft zusammenschweißen. Schon eher ist es pädagogischer Dilettantismus, aus seinem Lehrerleben zu folgern: „Um eine Klassenfahrt gut als Gruppe zu überstehen, muss man bereits als Gruppe funktionieren.“ Und noch schlimmer: „Die Zwangsgemeinschaft Klassenfahrt war für Außenseiter schon immer eine besondere Hölle.“ Wer von Kindern und ihren Bedürfnissen nicht wirklich kennt, der redet so. Wer aber mit seinen Schülern vertraut ist und die Potentiale von Klassenfahrten abschätzen kann, wird diese zum Wohle aller Kinder, gerade auch der Schwächeren zu nutzen wissen.

Klassenfahrten stärken anstatt sie abzuschaffen.

Die von Ryan Plocher vorgelegten Argumente sind allesamt kontraproduktiv, da sie ausschließlich negative Extrembeispiele und damit Ausnahmen beschreiben. Zudem müsste man nach dieser Logik Schulen an sich verbieten. Denn Gewalt und Rassismus zeigt sich auch dort, gerade in den Pausen, wo häufig Zeit fehlt, um angemessen und pädagogisch tiefgreifend zu handeln. Klassenfahrten bieten hingegen die Chance, sich abseits des Schulgebäudes kennenzulernen und Vorurteile u. ä. abzubauen. Natürlich kann es im Einzelfall auf Klassenfahrten zu Grenzsituationen oder Überforderung kommen – wieviel mehr ist das aber im normalen Unterricht der Fall! Die weit überwiegende Mehrheit an Erfahrungen ist jedoch positiv und von unschätzbarem Wert nicht nur für die Lehrer-Schüler-Beziehung, sondern auch für das Verhältnis der Lernenden untereinander.

Klassenfahrten staatlich finanziell fördern.

Sicherlich ist es sinnvoll, auf eine Begrenzung der Kosten von Klassenfahren zu achten. Zugleich gibt es heute neben den Bildungs- und Teilhabepaket über die Elternbeiräte, Fördervereine und Sponsoring-Modelle zahlreiche Möglichkeiten finanzieller Unterstützung. Hier ist in erster Linie die Lehrperson gefragt, dies für die Betroffenen gesichtswahrend zu organisieren. Auch kann man die Eltern bei einer mehrtägigen Klassenfahrt, die im Normalfall weit im Voraus geplant ist, von Beginn an mit ins Boot holen, so dass sie z.B. genügend Zeit haben, jeden Monat einen kleinen Betrag zur Seite zu legen oder in Raten zu zahlen. Darüber hinaus dürfen wichtige Bildungsangebote wie mehrtägige Klassenfahrten keine Frage des Geldbeutels der Eltern sein. Sie müssten allerdings staatlich viel mehr gefördert werden!

Es bleibt Bund, Ländern und Sachaufwandsträgern unbenommen, in die Finanzierung von Fahrten zu investieren, die für Begegnung, Primärerfahrungen, soziales Lernen und Bildung für Nachhaltige Entwicklung von unschätzbarer Bedeutung sind. Das 49 Euro Ticket, das viele Schüler jetzt als Fahrkarte zur Schule kostenlos bekommen, öffnet in diesem Zusammenhang wichtige Möglichkeiten, die noch dazu nachhaltig sind. Das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ in Höhe von 4 Milliarden Euro (2003-2009) oder der Digitalpakt Schule in Höhe von 6,5 Milliarden Euro zeigt, dass auch der Bund gesellschaftspolitisch relevante Projekte fördern kann, wenn es der Bundesregierung wichtig ist.

Gute Klassenfahrten haben ein pädagogisches Ziel.

Dass mehrtägige Klassenfahrten bereits in der Grundschule über große Entfernungen und in höheren Klassen „nach Spanien“ oder in andere Länder führen müssten, entbehrt jeglicher Grundlage und ist absolut nicht Standard. Stattdessen soll man sich an den jeweiligen Lehrplänen orientieren, d. h. in der Grundschule sollte die Fahrt nicht weiter als 100 km weit weggehen. Ab den weiterführenden Schulen kann man die Distanz dann entsprechend kontinuierlich steigern – Bundesland, Deutschland bis hin zu einer eventuellen Auslandsreise.

Auch hier gilt wieder: Schulleitung, Eltern und auch die betroffene Klasse frühzeitig mitbeteiligen und klar aufzeigen, was für die Fahrt möglich ist und was nicht. Klare Kommunikation und Partizipation der Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern bei den Klassenfahrten sind wichtige Punkte, die oftmals zu kurz kommen. Zum Baden an den Strand nach Spanien, das findet sich in keinem Fahrtenprogramm und ist als schulische Veranstaltung völlig unrealistisch.

Gute Klassenfahrten sind die Folge von guten Lehrpersonen.

Das Argument, dass Jugendherbergen wenig oder keine Rücksicht auf Bedürfnisse nehmen würden, ist eine falsche Unterstellung und wird der Arbeit vor Ort nicht gerecht. Jugendherbergen haben sich in den letzten Jahren extrem weiterentwickelt und sind immer bemüht, Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppen zu erfüllen. Dafür benötigt es aber eine frühzeitige Kontaktaufnahme und regelmäßige Absprachen zwischen allen Beteiligten, der Klasse, den Eltern und der Leitung der Jugendherberge. In der Regel können dann die meisten Herausforderungen wie Verpflegung, Einnahme von Medikamenten oder Belegungen der Zimmer problemlos gemeistert und eine Abmeldung des Kindes verhindert werden.

Dazu noch ein interessantes Ergebnis der empirischen Bildungsforschung: Welche Lehrpersonen unternehmen gern und selbstverständlich Klassenfahrten? Es sind vor allem jene, die eine professionelle Haltung haben, alle Lernenden unterstützen wollen, bewusst die Herausforderungen setzen, im Unterricht fordern und fördern, ihren Einfluss kennen. Wer als Lehrperson für sich kategorisch ausschließt, auf Klassenfahrt zu gehen, sollte daher grundsätzlich überlegen, ob der Beruf der richtige ist.

Bildung ist mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen.

Projektwochen und fachspezifische Exkursionen, was Ryan Plocher als Alternativen vorschlägt, sind zweifelsfrei sinnvolle pädagogische Maßnahmen und schaffen vor allem wertvolle Lernarrangements außerhalb des klassischen Unterrichts am Schulgelände. „Benachteiligungen im Lesen-, Rechnen- und Schreiben-Lernen zu verkleinern“ zeigt jedoch ein verkürztes Bildungsverständnis. Dabei ist Bildung so viel mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen. Zur Bildung zählen auch künstlerische, musische, sportliche, handwerkliche, soziale sowie emotionale Kompetenzen und Haltungen, deren Beachtung und Förderung im Regelunterricht oft zu kurz kommen. Wenn es uns wirklich um unsere Kinder und Jugendlichen geht, sollten wir nicht den gewerkschaftlich gepflasterten Weg des pädagogisch geringsten Widerstandes gehen, sondern uns mit Idealismus und Mut dafür einsetzen, dass Schule auch Lebensraum über die Grenzen des Schulgeländes hinaus ist.

Im Schulalltag ist oft (zu) wenig Zeit für die Bedürfnisse, Interessen und Gefühle der Schülerinnen und Schüler. Mehrtägige Klassenfahrten bieten hier die große Chance, sich diesen pädagogisch angemessen zu widmen. Die Kinder und Jugendlichen können sich selbst neu erfahren und damit auch anders kennenlernen. Es eröffnen sich unerwartete Erfahrungsräume auf, z. B. wie es ist, das Bett selbst beziehen zu müssen und mehrere Tage von daheim getrennt zu sein. So banal das klingen mag, so wertvoll sind diese Erfahrungen für die eigene Persönlichkeitsentfaltung und -entwicklung, die vor allem mitten im Leben stattfindet und bei weitem nicht nur vor dem iPad, dem Whiteboard oder im Chemielabor.

Klassenfahrten sind wichtige Elemente der Elternarbeit.

Bei der Planung und Durchführung einer Klassenfahrt ist mit den Eltern eng zu kooperieren. Vertrauen ist notwendig, Befindlichkeiten müssen ernst genommen werden und gemeinsam ist nach Lösungen zu suchen. Das ist anstrengend und offensichtlich für Ryan Pocher eine Überforderung. Dass „konservativ religiöse Eltern“ ihre Töchter nur zuhause schlafen lassen wollen, entbehrt jeder Empirie und ist im Kern infam. Der Begriff „Helikoptereltern“ spricht zudem eine klischeehafte Haltung gegenüber Eltern an, die einer Lehrperson nicht würdig ist.

Viele pädagogische Gründe für Klassenfahrten.

Für die Durchführung (mehrtägiger) Klassenfahrten gibt es aus pädagogischer Sicht viele Gründe. Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl, Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft oder auch Erziehung im Geiste der Demokratie können bei Klassenfahrten besonders in den Fokus rücken – also gefordert, gefördert und geübt werden. Deshalb: Nicht weniger, sondern mehr professionell vorbereitete Klassenfahrten und dafür gut ausgebildete und motivierte Lehrpersonen! News4teachers

Raus aus dem Schulgebäude! Wie Exkursionen und Klassenfahrten den Unterricht bereichern



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Date: August 6, 2023 at 03:42PM
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