MÜNCHEN. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vor knapp einem Jahr zu Zeugnisbemerkungen im Zusammenhang mit Legasthenie führt in Bayern jetzt zu einer überraschenden Konsequenz: Die Rechtschreibung muss dort ab sofort in allen Fächern in die Bewertung eingehen – und zwar „angemessen“. Dies hat Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) nun verfügt. Lehrkräfte fragen sich, wie sie damit umgehen sollen. Der BLLV spricht von erheblichem „Konfliktpotenzial zwischen Eltern und Lehrkräften, innerhalb der Kollegien oder zwischen den Schulen“.

Vor rund einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht darüber geurteilt, ob Zeugnisbemerkungen über die Nichtbewertung einzelner Leistungen im Abiturzeugnis (wie Rechtschreibung bei Schülerinnen und Schülern mit Legasthenie rechtens sind – Ergebnis: im Grundsatz ja. Dabei dürfen Legastheniker allerdings nicht gegenüber Schülerinnen und Schülern mit anderen Beeinträchtigungen benachteiligt werden (News4teachers berichtete). Gleiches Recht für alle. So weit, so unspektakulär.
In der Urteilsbegründung stellt Karlsruhe fest, dass solche Zeugnisbemerkungen im Grundsatz nicht nur zu billigen – sondern auch geboten sind. Denn: „Als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dient das Abiturzeugnis dem nach Art. 7 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Dieser Zielsetzung wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird.“
Auch die Bewertung der Rechtschreibleistungen diene dem verfassungsrechtlichen Ziel „der Ermöglichung eines bezogen auf die erbrachten schulischen Leistungen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf“. Es sei gegenüber Schülerinnen und Schülern mit einer Legasthenie gerechtfertigt, die Rechtschreibung zum Gegenstand der durch das Abitur vermittelten allgemeinen Hochschulreife zu machen. Denn es gibt viele Berufe, in denen eine eigenständige orthografische Kompetenz notwendig ist. „Ist aus dem Abschlusszeugnis nicht erkennbar, dass im Einzelfall abweichend von den allgemeinen Prüfungsanforderungen von einer Bewertung von Kompetenzen abgesehen wurde, bescheinigt das Zeugnis Leistungen, die so tatsächlich nicht erbracht wurden; es ist insoweit unwahr. Dadurch wird der chancengleiche Zugang zu Ausbildung und Beruf derjenigen Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt, die die entsprechenden Kompetenzen nachweisen mussten“, so schrieben die Verfassungsrichter.
Bemerkenswert ist die Konsequenz, die das bayerische Kultusministerium – als bislang einziges in Deutschland – aus diesem Urteil nun ableitet: Es verschärft die Beurteilungsregeln in Schulen für die Rechtschreibung. So müssen Fehler künftig in allen Fächern, auch außerhalb des Deutschunterrichts, berücksichtigt und bewertet werden. „Bei schriftlichen Leistungsnachweisen in allen Fächern sind Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit und schwere Ausdrucksmängel zu kennzeichnen und angemessen zu bewerten“, so heißt es beispielsweise in der Neufassung der Grundschulordnung. Rechtschreibfehler sind nun also „in allen Fächern“ zu bewerten, und zwar „angemessen“. Ähnliche Regelungen gelten für die anderen Schulformen.
Die Neuordnung, stiekum während der Sommerferien eingeführt, führt vielfach zu Unsicherheiten und Kritik, wie der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) aktuell feststellt. Was bedeutet sie konkret? „Wenn in der HSU-Probe (einer Klassenarbeit im Heimat- und Sachunterricht der Grundschulen, d. Red.) zwar sachlich alles richtig ist, die Rechtschreibung jedoch Mängel aufweist, kann das dann insgesamt noch eine sehr gute oder gute Leistung sein? Werden dadurch nicht Sachkompetenz und Rechtschreibkompetenz vermischt und so die Validität der Prüfung beeinträchtigt? Und wer entscheidet überhaupt darüber, was ‚angemessen‘ ist?“, so fragt der BLLV.
„Jede einzelne Lehrkraft entscheidet grundsätzlich selbst, was sie bei der Bewertung als ‚angemessen‘ betrachtet – da sind Diskussion vorprogrammiert, wenn es ungleiche Herangehensweisen gibt“
„Gerade an den Übergängen, bei denen es schon heute fragwürdig ist, ob arithmetische Zahlenspiele in der zweiten Nachkommastelle tatsächlich darüber entscheiden sollten, welche schulischen Wege einem Kind offenstehen, sorgten solche Änderungen für Verunsicherung. Zudem bergen sie Konfliktpotenzial zwischen Eltern und Lehrkräften, innerhalb der Kollegien oder zwischen den Schulen“, heißt es. Nun brauche es schnell Klarstellungen, wie diese neugefassten Regelungen schülerfreundlich umgesetzt werden könnten, um Notenverschlechterungen quer durch alle Schularten sowie unbillige Härten zu verhindern.
„Jede einzelne Lehrkraft entscheidet grundsätzlich selbst, was sie bei der Bewertung als ‚angemessen‘ betrachtet – da sind Diskussion vorprogrammiert, wenn es ungleiche Herangehensweisen gibt. Zudem stellt sich die Frage, was am Ende eigentlich gemessen wird: Sachkompetenz, Rechtschreibkompetenz oder – bei unangekündigten Leistungsnachweisen – Stressresistenz?“, so fragt Tobias Schreiner, Leiter der Fachgruppe Realschule im BLLV.
Und betont: „Die Schulen und die Lehrkräfte haben einen weiten Ermessensraum, diese Neuregelung zu konkretisieren. Jetzt ist es wichtig, dass Schulleitungen und Fachschaften sich darauf verständigen, einheitlich eine lernpsychologisch sinnvolle Art der Umsetzung zu wählen, die Fehler als Ausgangspunkt für Verbesserung begreift und nicht in erster Linie als Mittel zum Punktabzug. Denn eins ist klar: Was Schule am wenigsten braucht, ist eine Erhöhung des Notendrucks.“
Schreiner: Deshalb setzen wir uns als BLLV auch grundsätzlich für ein neues Leistungsverständnis und eine veränderte Prüfungskultur ein: Motivierende Lernumfelder und nachhaltige Bildungserfolge brauchen prozessorientierte Formate, die Feedback über individuelle Lernfortschritte ermöglichen; darüber sollten wir reden und nicht darüber, ob das vergessene ‚s‘ beim ‚dass‘ in der Bio-Ex jetzt einen Punkt kostet oder nicht.” News4teachers / mit Material der dpa
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Title: Kultusministerin verunsichert Lehrkräfte mit Erlass, Rechtschreibung nun in allen Fächern “angemessen” zu bewerten
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Date: October 19, 2024 at 01:02PM
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