BERLIN. In Sachsen und Thüringen, das haben die Landtagswahlen gezeigt, favorisiert rund ein Drittel der Jungwählerinnen und -wähler die rechtsextreme AfD. Sachsen und Thüringen gehören seit Jahrzehnten zur Leistungsspitze in allen Bundesländervergleichen zur Bildung. Wie geht das zusammen? Womöglich wird in Schulen auf Persönlichkeitsentwicklung – nennen wir es Herzensbildung – zu wenig Wert gelegt. Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
Jugend ist die Phase des Aufbruchs, der Unbekümmertheit, des Mutes, sich ein Leben aufzubauen, wie es individuell gefällt – und das heißt vor allem: selbstbewusst und selbstbestimmt. Sollte sie jedenfalls sein. Tatsächlich gilt es in der Psychologie als gesicherte Erkenntnis, dass der persönliche Angstpegel eines durchschnittlichen Menschen im Jugendalter am niedrigsten liegt und über die Jahre ansteigt. Die Hormone spielen dabei eine Rolle.
Allerdings entwickeln sich auch in der Pubertät häufig Angststörungen. Die Hormonschübe in dieser Zeit verändern nicht nur Äußerlichkeiten wie Haarwuchs, Körperform und Pickelfrequenz. Im Gehirn werden Nervenzentren neu verschaltet. Ein massiver innerer Umbau findet statt, der zu Phobien führen kann, meist minderschweren (wie der unter Teenagern besonders verbreiteten Spinnenangst). Mitunter aber auch zu gravierenden.
So lässt sich womöglich erklärten, was sich am Sonntag unter jungen Menschen in zwei ostdeutschen Bundesländern abgespielt hat. In Thüringen erreichte die AfD mit 36 Prozent die meisten Stimmen bei den 18- bis 24-Jährigen – und ist damit stärkste Kraft in dieser Altersgruppe. In Sachsen liegt die AfD bei den Jungwählerinnen und Jungwählern mit immerhin 30 Prozent auf Platz zwei, knapp hinter der Union. „Gerade in diesen Altersgruppen (gemeint sind Senioren – und Jungwähler*innen, d. Red.) ist die Angst vor den gesellschaftlichen Veränderungen durch Globalisierung und Digitalisierung besonders ausgeprägt, begleitet von der Sorge um die eigene wirtschaftliche Zukunft“, so heißt es in einer Analyse der „Zeit“ auf der Grundlage von Wahlnachbefragungen durch infratest/dimap.
„Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Ängste von Jugendlichen gezielt von Rechtsaußen geschürt werden und dies in Ostdeutschland besonders gut verfängt“
Was sind die Gründe für den Wahlerfolg insbesondere der AfD? „In Sachsen sieht ein Fünftel der Wählerinnen und Wähler die soziale Sicherheit (20 Prozent) als entscheidenden Faktor für ihre Wahlentscheidung, dicht gefolgt von der Zuwanderung (19 Prozent). In Thüringen steht die Kriminalität (21 Prozent) an erster Stelle der wahlentscheidenden Themen, knapp vor der sozialen Sicherheit (21 Prozent) und der Zuwanderung (18 Prozent). Es sind insbesondere diese bundespolitischen Streitfragen wie Einwanderung, innere Sicherheit und der Ukrainekonflikt“, bei denen die Rechtsextremen punkten konnten.
Junge Menschen, die sich in großer Zahl bei einer Wahl, die wichtige Weichen für ihre eigene Zukunft stellt, nicht von Chancen, sondern von Angst leiten lassen – vor Kriminellen, vor Migranten, vor Globalisierung, vor Veränderung, vor dem Freiheitskampf der Menschen in der Ukraine? Junge Menschen, die es in Scharen zu einer Partei treibt, die ihnen die Freiheiten beschneiden will – ob in Schule (AfD-Wahlprogramm: „Die Autorität des Lehrers darf nicht in Frage gestellt werden“), bei der Berufswahl („Leistung statt Akademisierungswahn“), bei der Reise- und Niederlassungsfreiheit („Europa neu denken“) und sogar bis in ihr Beziehungsleben hinein („Andere Formen des Zusammenlebens als die Ehe zwischen Mann und Frau sind zwar zu respektieren, damit aber nicht gleichzustellen“)?
Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Ängste von Jugendlichen gezielt von Rechtsaußen geschürt werden und dies in Ostdeutschland besonders gut verfängt. So sind junge Ostdeutsche überdurchschnittlich besorgt über den Einfluss des Islam in Deutschland – mit dem sie, anders als ihre westdeutschen Altersgenossen, kaum in Berührung kommen dürften. Sie befürchten, dass Gewalt und Kriminalität zunehmen könnten – und leben tatsächlich in Landstrichen, in denen die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt und Kriminalität zu werden, überaus gering ist (wenn man kein Migrant ist, jedenfalls). Sie sorgen sich wegen der Migrationspolitik – fühlen sich aber auch mit der demografischen Entwicklung hin zu einer vergreisenden Gesellschaft unwohl. Dass das eine womöglich eine Antwort auf das andere ist, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Dumm sind junge Menschen in Ostdeutschland allerdings nicht. Sachsen und Thüringen gehören in allen Bundesländer-Vergleichen zur Bildung seit Jahrzehnten zur Leistungsspitze in Deutschland. Politische Bildung und Persönlichkeitsreife werden dabei nicht gemessen, obwohl es beispielsweise im sächsischen Schulgesetz heißt: „Die schulische Bildung soll zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft beitragen.“
Diesen Auftrag erfülle die Schule, in dem sie den Schülerinnen und Schülern unter anderem vermittele, „selbstständig, eigenverantwortlich und in sozialer Gemeinschaft zu handeln“, „eigene Meinungen zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, diese zu vertreten und den Meinungen und Entscheidungen anderer Verständnis und Achtung entgegenzubringen“, „allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ihren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten“, „Ursachen und Gefahren der Ideologie des Nationalsozialismus sowie anderer totalitärer und autoritärer Regime zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken“.
Mit anderen Worten: Herzensbildung steht als zentraler Bildungsauftrag (Paragraf 1!) obenan. Das wirft die Frage auf: Was läuft derart schief in den Schulen, dass dieser Bildungsauftrag offensichtlich so wenig erfüllt wird?
Die Psychologin und Ex-Piraten-Politikerin Marina Weisband, die das Demokratieprojekt „aula“ in Schulen leitet, gibt im Interview mit News4teachers wichtige Hinweise: „Wenn ich jeden Morgen in eine Institution gezwungen werde, die mir Regeln vorgibt, die mir alle 45 Minuten vorgibt, worauf ich meine Neugier zu konzentrieren habe, die mir vorgibt, wann ich Hunger zu haben habe, und in der ich fast keine eigenständigen Entscheidungen treffen kann, dann bleibt doch genau das hängen: ‚Ich bin hauptsächlich Besucher oder Konsument. Und ich kann nichts dagegen tun.‘“
Weisband fordert einen Wandel der Schulkultur – „hin zu mehr Mitbestimmung, hin zu mehr Verantwortung der Jugendlichen, im Maße ihrer Fähigkeiten“.
Wir müssen Kindern früh und umfassend vermitteln, selbstwirksam zu sein, mutig beim Lernen voranzugehen, gemeinschaftlich im Team zu arbeiten, die Grenzen der eigenen Erkenntnis voranzutreiben
Dem schließe ich mich an. Meine – zugegeben provokante und nur durch eigene Beobachtungen belegte – These lautet: In Montessori-Schulen, wo auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortung von Schülerinnen und Schülern gesetzt wird, fällt die Zustimmungsquote zu einer Angstmacher-Partei wie der AfD deutlich niedriger aus als im hierarchischen Regelsystem. Wir müssen Kindern früh und umfassend vermitteln, selbstwirksam zu sein, mutig beim Lernen voranzugehen, gemeinschaftlich im Team zu arbeiten, die Grenzen der eigenen Erkenntnis voranzutreiben, statt bloß vorgegebene Inhalte wiederzukäuen. Mit Lehrplänen, die bis zum Anschlag vollgestopft mit vorgegebenen Inhalten sind, wird das kaum gelingen.
Wer in Schulgesetzen postuliert, dass Persönlichkeitsbildung und das Vermitteln von Grundlagen der Demokratie zu den zentralen Aufgaben von Schule gehört, muss den Lehrkräften auch den Raum dafür geben, diesen Auftrag zu erfüllen. Sonst ist Sachsen und Thüringen bald überall. News4teachers
Was passiert, wenn Demokratiebildung ausbleibt, zeigt sich jetzt in Ostdeutschland
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Title: Landtagswahlen: Was Schulen mit den AfD-Erfolgen zu tun haben (ein Kommentar)
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Date: September 2, 2024 at 04:13PM
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