„Leb im Jetzt statt im Netz“: naiver digitaler Dualismus als Werbestrategie

Vodafone wirbt aktuell mit dem Slogan „Go Real Life: Leb im Jetzt statt im Netz“:

(Screenshot des Vodafone-Slogans.)

Hinter dieser naiven Gegenüberstellung steht der digitale Dualismus:

Digitale Dualist:innen glauben u.a. fest daran, dass man die wertvolle Welt der Offline-Primärerfahrungen vom bloßen Schein der Online-Virtualität sauber trennen könne.

Von Zeit zu Zeit gönnen sie sich daher Phasen des „Digital Detox“, d.h. des Rückzugs in die computerfreie Beschaulichkeit der echten Welt, um der vergifteten Atmosphäre des dauerhaft Digitalen zu entfliehen und die Seele zu reinigen.

In der wissenschaftlichen Diskussion ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert klar, dass der digitale Dualismus epistemologisch, ontologisch und soziologisch falsch ist (vgl. z.B. Döring 1997).

Was wir als natürlich, authentisch und echt bezeichnen, ist in vielen Fällen schlicht ein kulturelles Artefakt, d.h. „the outcome of a merely less visible human manipulation.“ (Floridi 2014, S. 63. Vgl. hierzu insbesondere Cronon 1995).

Jurgenson kritisiert den digitalen Dualismus folgendermaßen:

„It fails to capture the plain fact that our lived reality is the result of the constant interpenetration of the online and the offline. The Web has everything to do with reality; it contains real people with real bodies, histories, and politics. We live in a mixed, augmented reality in which materiality and information, physicality and digitality, bodies and technology, atoms and bits, the offline and the online all intersect.“ (Jurgenson 2019, Pos. 1076)

Floridi (2014) spricht vom Leben im „Onlife” der „Infosphere”: Unsere Identität, verstanden als „complex informational system, made of consciousness activities, memories and narratives“ (Floridi 2014, S. 69), wird in allen Aspekten maßgeblich durch die komplexen und beständigen Verflechtungen von Online- und Offline-Realitäten geprägt.

Diese komplexen Verflechtungen wahrzunehmen, ist nicht leicht.

Die Werbestrategen von Vodafone haben offenbar erkannt, dass aktuelle Debatten über das Internet, Social Media, Smartphones etc. in der Breite nicht rational, sondern naiv-populistisch auf der Grundlage des Digitalen Dualismus geführt werden.

Und dann kann man selbst als Internetanbieter an diesen Trend andocken, der öffentlichkeitswirksame Zustimmung garantiert.

Wenn in dieser Weise Populismus an die Stelle von Vernunft tritt, sollten wir uns Sorgen um den gesellschaftlichen Diskurs machen.


Literatur:

Cronon, William (1995) (Hrsg.): Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York, London: W.W. Norton & Company.

Döring, Nicola (1997): Kommunikation im Internet: Neun theoretische Ansätze. In: Batinic, Bernard (Hrsg.): Internet für Psychologen. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle: Hogrefe 1999. S. 345-378.

Floridi, Luciano (2014): The 4th Revolution. Oxford: University Press.

Jurgenson, Nathan (2019): The Social Photo. On Photography and Social Media. London, New York: Verso.


Title: „Leb im Jetzt statt im Netz“: naiver digitaler Dualismus als Werbestrategie
URL: https://axelkrommer.com/2025/03/29/leb-im-jetzt-statt-im-netz-naiver-digitaler-dualismus-als-werbestrategie/
Source: Bildung unter Bedingungen der Digitalität
Source URL: https://axelkrommer.com
Date: March 29, 2025 at 09:10AM
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