BERLIN. Eine aktuelle Arbeitsbelastungsstudie der Universität Göttingen zeigt, dass nur noch 20 Prozent der Lehrkräfte ihren Beruf weiterempfehlen würden – über ein Drittel rät aktiv davon ab. Weniger als die Hälfte (46 Prozent) würde sich aus heutiger Sicht erneut für den Beruf entscheiden. Hauptgründe sind hohe Arbeitsbelastung, entgrenzte Arbeitszeiten und gesundheitliche Risiken. Die Studie, die ein repräsentatives Meinungsbild unter Lehrkräften in Berlin erfasst, war von der GEW in Auftrag gegeben worden. Sie fordert Konsequenzen.

„Extrem belastende Arbeitsbedingungen machen keine Werbung für den Beruf einer Lehrkraft“, so heißt es in der Studie – und tatsächlich werden die Arbeitsbedingungen im Schuldienst als überaus belastend empfunden. Über alle Berufe von Hochqualifizierten hinweg gilt: Nur rund acht Prozent beschreiben ihre Arbeit als „schlechte Arbeit“ (bezugnehmend auf Kategorien wie Gestaltungsmöglichkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten, Sinn der Arbeit oder emotionale Anforderungen) – bei Lehrkräften sind es bundesweit 30, in Berlin und Hamburg sogar 45 Prozent.
„Unsere Daten machen sichtbar, was viele seit Jahren spüren: Viele Lehrkräfte befinden sich in einer Gratifikationskrise“
„Die Ergebnisse zeigen mit großer Deutlichkeit: Die derzeitigen Arbeitsbedingungen im Berliner Schuldienst sind wenig attraktiv – vor allem im Vergleich zu anderen Beschäftigtengruppen. Dies dürfte ein wichtiger Grund des aktuellen Lehrkräftemangels sein“, betont Frank Mußmann, Leiter der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften an der Universität Göttingen – und Studienautor. „Unsere Daten machen sichtbar, was viele seit Jahren spüren: Viele Lehrkräfte befinden sich in einer Gratifikationskrise, enormer Aufwand (effort) auf der einen und Wertschätzung (reward) auf der anderen Seite stehen in keinem guten Verhältnis zueinander. Ein Viertel der Lehrkräfte weist Anzeichen einer depressiven Gefährdung auf.“
Genannte Ursachen für die Unzufriedenheit: Ungünstigere Arbeitszeitlage, mehr emotionale Anforderungen, körperliche Anforderungen (Lärm), viel höhere Arbeitsintensität, wenige Gestaltungsmöglichkeiten, schlechtere Führung und Betriebskultur. „Dies ist keine Berliner Besonderheit, sondern ein strukturelles Problem im deutschen Schulsystem“, schreiben die Autoren. „Wer mit Lehrkräften über ihre Arbeitsbedingungen spricht, wird sich kaum ermuntert fühlen, diesen Beruf zu wählen.“
Kein Wunder: „87 Prozent der Lehrkräfte haben zu wenig Zeit für ihre privaten Interessen – dies ist mit erhöhten Gesundheitsrisiken verbunden“, so heißt es in der Studie. „Das Unterrichten selbst wird weniger belastend erlebt, es ist Bestandteil professionellen Handelns. Aber das Ausmaß der Aufgaben im Rahmen der Klassenleitung beansprucht stark. Der Umgang mit ‚schwierigen‘ Schüler*innen gehört zu den Top-Belastungen bei der Klassenleitung. Auch das Unterrichten von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf beansprucht unter den gegebenen Rahmenbedingungen stark.“ Ebenso die Erledigung von Inklusionsaufgaben und das Unterrichten von Schülerinnen und Schülern mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen wird als sehr belastend erlebt. Auch Unklarheiten, Widersprüche, organisatorische Unsicherheiten, Dokumentationsaufgaben und gebäudeinfrastrukturelle Unzulänglichkeiten im Dienst rauben Nerven und Energie.
Zusätzliche Aufgaben wie die digitale Unterrichtsgestaltung oder die fortlaufende Lernstandsdokumentation haben in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen und führen zunehmend zu einer dauerhaften Überlastung – meint Lydia Puschnerus, Leiterin des Vorstandsbereichs Schule der Berliner GEW. Hinzu kämen emotionale Belastungen durch Konflikte und respektloses Verhalten. „Um die vielfältigen schulischen Aufgaben zu bewältigen und den Schüler*innen besser gerecht werden zu können, müssen weitere Professionen verlässlich hinzugezogen werden. Sie können dabei aber nicht die Lehrkräfte ersetzen, sondern müssen als zusätzliche Regelausstattung bereitgestellt werden“, sagt sie und warnt: „Mit der neuen Zumessung und den Kürzungen zum Beispiel im Bereich der Schulsozialarbeit passiert gerade das Gegenteil. Dies wird die Belastungen noch verstärken.“
„Durch den Lehrkräftemangel sind viele Lehrkräfte persönlich von einer unzulänglichen Personalausstattung betroffen“, so heißt es in der Studie. Mögliche Lösungen? „Das größte Potenzial wird beim Abgeben von Aufgaben an andere Berufsgruppen gesehen. Es folgen die intensive Kooperation mit Lehrkräften aus der eigenen Fachgruppe und der eigenen Schule. Außerdem die Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften in Multiprofessionellen Teams.“
„Bei der Information und Handhabung von Arbeitszeitregelungen könnte durch Transparenz und Planbarkeit noch viel Vertrauen gewonnen werden“
Dort, wo es diese gibt, werden die Wirkungen als überaus positiv wahrgenommen. Die zeitliche Entlastung wird als substantiell hoch eingeschätzt. „Es gibt weitere Entlastungsmaßnahmen auf Schulebene“ so heißt es im Bericht – die würden aber bestenfalls in nur jeder dritten Schule realisiert werden, nämlich: Korrekturtage während der Abschlussprüfungen, Betreuung der IT-Systeme durch IT-Fachkräfte, Fachgruppenentscheidungen hinsichtlich Arbeitsentlastung, Unterricht in parallelen Klassen und Begrenzung der Klassengröße.
Weiteres Frustthema: die fehlende Arbeitszeiterfassung. Positiv formulieren die Autoren: „Bei der Information und Handhabung von Arbeitszeitregelungen könnte durch Transparenz und Planbarkeit noch viel Vertrauen gewonnen werden.“ Tatsächlich fühlen sich nur 18 Prozent der Lehrkräfte über die sie betreffenden Arbeitszeitregelungen ausreichend informiert. Über der Hälfte ist nicht transparent, ob sie Mehrarbeit geleistet haben oder sogenannte Minusstunden aufweisen. Nahezu die Hälfte weiß nicht, in welchem Maße sie bei Übernahme einer zusätzlichen Aufgabe eine Entlastung bekommen. Nur 10 Prozent der Lehrkräfte haben den Eindruck, dass Aufgaben an ihrer Schule fair verteilt werden, 36 Prozent glauben das nicht.
Ralf Schäfer, Lehrkraft und Personalrat, kritisiert die Betriebs- und Führungskultur an vielen Schulen. „In der chronischen Mangelsituation kommunizieren viele Schulleitungen Entscheidungen oft kurzfristig und intransparent. Die Kolleg*innen werden oft nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen. Es braucht klare Strukturen und eine verlässliche Führungskultur! Gute Arbeitsbedingungen dürfen kein Zufallsprodukt sein. “
GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin warnt: „Lehrkräfte erleben eine starke Entgrenzung ihrer Arbeitszeit. Ohne verbindliche Erfassung werden sich Arbeitsverdichtung, Erschöpfung und Berufsausstiege weiter zuspitzen.“ News4teachers
Hier geht es zu einer Präsentation der vollständigen Studienergebnisse.
Die Autoren der Studie geben im Wortlaut folgende Empfehlungen:
„Berlin braucht weitere Lehrkräfte. Deshalb muss der Beruf so attraktiv werden, dass ihn aktive Lehrkräfte auch weiterempfehlen können – im Moment tun dies nur 20 Prozent.
Zentrale Herausforderungen sind zu viele Aufgaben, Arbeitsdruck, ungünstige Arbeitszeiten und viele schulspezifische Herausforderungen (z.B. schwierige Schüler*innen, Konflikte, große diverse Klassen). Viele Lehrkräfte haben Schwierigkeiten am sozialen Leben teilzuhaben (Work-Life-Balance). Das macht den Beruf unattraktiv.
Es gibt umsetzbare Ideen zur Verbesserung der Attraktivität des Lehrberufes mit z.T. hohem Potenzial:
- Abgeben von Aufgaben an Schulassistenz-, Schulverwaltungsassistenz-Kräfte oder IT-Fachkräfte sowie eine Unterstützung bei Aufsichten könnte die Wochenarbeitszeit substanziell verkürzen und helfen, Mehrarbeit abzubauen.
- Multi-Professionelle Teams stärken: Die verstärkte Zusammenarbeit mit Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und Schulassistenzen ist nicht nur bildungspolitisch klug – MPT können auch Lehrkräfte entlasten.
- Schulorganisatorische Maßnahmen mit Entlastungspotenzial: Das Unterrichten in parallelen Klassen oder Korrekturtage für Lehrkräfte bei Prüfungsphasen sowie eine intensivere Zusammenarbeit unter Lehrkräften.
- Klassen verkleinern: Kleinere Klassen verbessern nicht nur die Unterrichtsqualität, sie reduzieren auch die Belastung der Lehrkräfte.
- Digitale Unterstützung nutzen: Durch Ausbau und gezielten Einsatz digitaler Plattformen könnten Vorbereitungszeiten reduziert und Kooperationsmöglichkeiten gestärkt werden.
- Verbindliche Arbeitszeiterfassung: Lehrkräfte begrüßen eine pragmatische Form der dauerhaften Arbeitszeiterfassung. Diese könnte helfen Arbeitszeit transparent zu machen, Überstunden sichtbar zu machen und zu begrenzen.“
SPD-Antrag, Arbeitszeit von Lehrkräften zu erfassen, scheitert – Bildungsministerin winkt ab
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Title: „Lehrkräfte erleben eine starke Entgrenzung ihrer Arbeitszeit!“ Studie: Nur noch jede fünfte würde den Beruf weiterempfehlen
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Date: April 2, 2025 at 01:41PM
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