Maß halten – Die #LaTdH vom 26. Februar

Maß halten – Die #LaTdH vom 26. Februar

https://ift.tt/H2fPJyn

Herzlich Willkommen!

In dieser Woche wurde intensiv an den Beginn der russischen Invasion in die ganze Ukraine am 24. Februar 2022 erinnert, der Kriegsopfer gedacht und über Kriegsfortschritte und Friedensperspektiven gestritten. In den Morgenstunden des 24. Februar 2023 schrieben auf Twitter viele prominente und nicht-prominente Menschen von ihrem persönlichen Eindruck am Morgen ein Jahr zuvor: Der 24. Februar als Datum, an dem man genau erinnert, wie man sich gefühlt hat. Ein neuer 11. September?

Für viele Menschen ist der 24. Februar ein einscheidendes Datum, das ihr Leben in ein klares Vorher und Nachher teilt. Auch wenn der Angriff von Putins Russland auf die Ukraine nicht erst vor einem Jahr begonnen hat. Auch wenn sie in ihrer westeuropäischen Lebensrealität gar nicht so sehr vom Krieg oder den Kriegsfolgen betroffen sind. Irgendwas hat sich verändert. Ich bleibe skeptisch, ob die Veränderungen tatsächlich mit dem Wort „Zeitenwende“ am besten ausgedrückt sind. Auf alle Fälle plappern wir hier in der Eule keinen und darum auch nicht diesen politischen Slogan einfach nach.

Für Millionen Menschen markiert der 24. Februar 2022 den Beginn ihrer Flucht aus der Heimat. Sie flohen gen Westen: in den Westen der belagerten Ukraine und auch nach Deutschland. Hier sind sie nach wie vor und alles in allem willkommen. Das muss so bleiben! Es wird, so viel wissen wir heute, ein langer Weg nach Hause: Selbst wenn die Waffen endlich schweigen sind viele Städte zerbombt, Wohnungen und Arbeitsplätze zerstört. Es wird mehr, viel mehr brauchen als unsere Waffen, um den Ukrainer:innen in den nächsten Jahren zu helfen.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein


Debatte

Rund um den Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine haben in den Kirchen und Religionsgemeinschaften des Landes zahlreiche Friedensgebete stattgefunden. Wie diese digitale Gedenkandacht der Nordkirche (@nordkirche_de) mit Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt fanden die Gottesdienste häufig unter Beteiligung von Christ:innen aus Osteuropa und aus der Orthodoxie statt.

Annette Kurschus: „Ich warne vor einem starren Freund-Feind-Schema“ – Interview von Michael Maier (Berliner Zeitung)

Michael Maier von der Berliner Zeitung erläuterte die EKD-Ratsvorsitzende und Westfälische Präses Annette Kurschus in einem ausführlichen Interview ihre Sicht auf den Ukraine-Krieg – und die Notwendigkeit von Waffenlieferungen.

Der Einsatz von Waffen muss zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Es muss also hinter dem Einsatz von Waffen auch eine Strategie geben, eine Strategie zu Verhandlungen. Natürlich dürfen Gespräche nicht auf der Grundlage geführt werden, dass die territoriale Integrität des angegriffenen Staates infrage gestellt wird. Es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe sein.

Damit setzt sie sich öffentlich noch einmal von den Äußerungen des EKD-Friedensbeauftragten Landesbischof Friedrich Kramer (EKM) und der ehem. Ratsvorsitzenden Margot Käßmann ab, die sich bekanntlich ablehnend gegenüber Waffenlieferungen aus Deutschland an die Ukraine positionieren.

„Maß des Möglichen“: Evangelischer Militärbischof zum Ukraine-Krieg

„Die Friedensethik darf an den Herausforderungen nicht vorbeigehen“, erklärte unter der Woche der Evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg, dessen Stellungnahme inzwischen auch auf der Themenseite zum Ukraine-Krieg auf der Website der EKD zu finden ist. Dort bündelt die EKD-Kommunikationsabteilung die vielstimmigen evangelischen Statements und Überlegungen zum Krieg. Felmberg erklärt:

Frieden muss erneuert werden, wo er verloren gegangen ist. Das Friedenswort Gottes trifft auf eine Welt voller Gewalt. Es bedarf politischer Institutionen, die diese Gewalt begrenzen. Dazu gehört die Bundeswehr. Sie leistet ihren Beitrag, ein Leben in Frieden zu ermöglichen, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, in dem Menschen – vor Gewalt geschützt – in Freiheit und Rechtssicherheit leben können.

Äußerer Anlass der Stellungnahme Felmbergs ist natürlich der Jahrestag der Eskalation des Ukraine-Krieges, innerkirchlich bedeutsam ist seine Positionierung im Gegenüber zum Friedensbeauftragten Kramer. Darum wird man die auf sein Bitten hin formulierten „Perspektiven Evangelischer Friedensethik angesichts des Krieges in der Ukraine“ unter dem Titel „Maß des Möglichen“ (PDF) sehr genau lesen müssen. Am Dokument haben sieben Militärgeistliche und WissenschaftlerInnen mitgeschrieben, u.a. die Professoren Reiner Anselm (LMU München, eben noch Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD) und Michael Haspel (Uni Erfurt), dessen friedensethische Orientierung hier in der Eule nach wie vor sehr lesenwert ist (ebenso sein Artikel zur nuklearen Abschreckung).

Ein streitbarer Satz ist natürlich die aus dem sehr guten „Kurzgefasst“ zu Beginn des fast 70-seitigen Papier stammende Aussage: „Frieden muss erneuert werden, wo er verloren gegangen ist.“ Denn darüber, ob dies mit Waffengewalt überhaupt geschehen kann und wenn ja, unter welchen Bedingungen und welchen Rahmensetzungen ein Waffeneinsatz effektiv, effizient und verantwortbar ist, kann gut gestritten werden.

Leerstellen der Debatte

Irgendwer meinte in dieser Jahrestags-Woche (wahrscheinlich auf Twitter), er habe von den kirchlichen Denkpapieren zum Krieg die Nase voll und wolle stattdessen laute und deutliche „Zeitansagen“. Natürlich vor allem im Widerspruch zu den Äußerungen der Privatfrau Margot Käßmann. Abgesehen davon, dass „die“ Kirche in Gestalt ihrer Hannoverschen Regionalbischöfin Petra Bahr (@bellabahr) ja in die Diskussion mit Käßmann eintritt (s. ZEIT-Interview von Georg Löwisch (@georgloewisch) und Andreas Öhler (@AKarlOehler)), bin ich mir nicht sicher, ob das dringend notwendig ist: An Lautstärke mangelt es der Diskussion in Deutschland ja gerade nicht.

Ich bezweifle auch, dass der Außendarstellung der Kirche jenseits einer stark polarsierten (Online-)Bubble damit gedient wäre, sich in wenig differenzierter Vereindeutigung zu üben. Jedoch darf man sich fragen, ob man nicht jenseits langer FAZ-Artikel und Zeitungsinterviews noch andere mediale Formate nutzt, um die Vielgestaltigkeit evangelischer Nachdenklichkeit darzustellen. Zu dieser gehört ganz sicher auch die Erinnerung an die horrenden Kosten des Krieges besonders für die ukrainische Bevölkerung, wie sie nach meinem Eindruck gerade von Seiten der evangelischen Friedensarbeit in die Debatte eingebracht wird (s. Debatte der #LaTdH von vergangener Woche).

Dazu, in den diplomatischen Bemühungen nicht nachzulassen, rief zum Jahrestag der Vorsitzende der Deutschen Kommission Jutitia et Pax, Bischof Heiner Wilmer (Hildesheim) auf. In drei Botschaften fasst er aus römisch-katholischer Perspektive zusammen, wie von hier aus weitergegangen werden kann:

Die Aufgabe für uns alle heißt: im Krieg den Frieden vorbereiten. Diese Aufgabe bedeutet, dass wir uns an den Krieg nicht gewöhnen, sondern verlässlich zur Wiederherstellung von Frieden und Gerechtigkeit im Herzen Europas beitragen. Das ist eine anspruchsvolle und komplexe Herausforderung.

nachgefasst

Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in Mecklenburg

Am Freitag stellten Forscherinnen der Universität Ulm die Ergebnisse ihrer Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in Mecklenburg im Zeitraum von 1946 bis 1989 (PDF) vor. Das Erzbistum Hamburg (zu dem Mecklenburg gehört) stellt auf seiner Website ein Video der Präsentation sowie weitere Stellungnahmen zur Verfügung. Morgen wird sich Erzbischof Stefan Heße auf einer Pressekonferenz (Livestream auch dort) ausführlich äußern.

Benjamin Lassiwe (@lassiwe) ordnet die Studie in seinem SVZ-Artikel in die Bibliothek der bisher erschienenen Missbrauchsstudien der deutschen Bistümer ein und berichtet auch von „verstörenden Details“:

Im Zentrum der Untersuchung standen Interviews mit insgesamt 13 Betroffenen von sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt. […] Beklemmend ist, wie offen der Missbrauch in Mecklenburg zuweilen stattfand: In der Studie ist die Rede von Taten in der Sakristei ebenso wie in Räumen, die zum Religionsunterricht genutzt wurden, oder auch im Kirchenschiff. „Der Missbrauch ist etwas Alltägliches geworden“, sagt Dudeck. „Es war nicht mehr nötig, es zu verstecken und in Wohnungen zu gehen.“ […]

Begünstigt wurde der Missbrauch dabei durch die besondere Situation Mecklenburgs in der Zeit der DDR: Das „Bischöfliche Amt Schwerin“ war damals ein Teil des im Westen gelegenen Bistums Osnabrück. Das heutige Erzbistum Hamburg wurde erst 1995 gegründet. […] Zudem warb die Stasi Missbrauchstäter gezielt als IM an: Durch ihre Straftaten waren sie leicht erpressbar. „Die Leiter des Erzbischöflichen Amts Schwerin haben über manche Fälle durchaus Bescheid gewusst“, sagt Dudeck. Keine Angaben macht die Studie zu den Namen der Täter oder zu den Gemeinden, in denen die Taten stattfanden.

Was bedeuten die Ergebnisse für die weitergehende Aufklärung von Missbrauchsverbrechen in den Kirchen? Lassen sich Schlüsse auf die Situation in anderen DDR-Bistümern und -Landeskirchen ziehen? Daniel Deckers in der FAZ:

Inwieweit die Ergebnisse der Studie über Mecklenburg mit seiner sehr geringen Katholikenzahl auf andere Regionen der vormaligen DDR übertragbar sind, lässt sich aus den vorliegenden Daten nicht ableiten. Ohnehin konnten die beiden Autorinnen der Studie für die Zeit zwischen 1945 und 1989 nur 40 Betroffene ermitteln, wohingegen von einer „viel größeren Dunkelziffer auszugehen ist“. Die Zahl der beschuldigten Kleriker wird mit 19 angegeben. Über alle anderen Bistümer auf dem Boden der ehemaligen DDR – Magdeburg, Erfurt und Dresden – liegen keine Missbrauchsgutachten vor.

Bichofsversagen

Die Katholische Nachrichten-Agentur (@KNA_Redaktion) berichtet über den Rechtsstreit einer Angestellten des Bistums Trier mit ihrem Arbeitgeber: Eine Missbrauchsbetroffene wehrt sich dagegen, dass Bischof Stephan Ackermann vor Angestellten ihren Klarnamen gebraucht hat und fordert wegen Retraumatisierung ein Schmerzensgeld von 20.000 €. Das Arbeitsgericht will in den kommenden Wochen einen Gütetermin ansetzen. Ackermann war damals noch Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK).

Und ein neues Vatikandokument belastet den ehemaligen Papst Benedikt XVI. im Fall Peter H. schwer, berichtet u.a. der BR. Joseph Ratzinger habe bereits 1986 ganz sicher vom mehrfachen Missbrauchstäter in Diensten des Erzbistums München und Freising gewusst.

Der „Ketzer der Neuzeit“ und die reale Gefahr für queere Christen – Philipp Greifenstein (Die Eule)

Unter der Woche haben wir uns in der Eule mit einem medialen Angriff auf den queeren Universitätsgottesdienst in Berlin befasst. Alles Wissenswerte dazu und auch die Stellungnahmen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (@ekbo_de) und von Studierendenpfarrerin Ulrike Wohlrab sowie Universitätsprediger Professor Notger Slenczka finden sich im Beitrag.

Außerdem haben wir zu diesem Anlass einen Erklärtext unseres Redakteurs Max Melzer aus den Untiefen des Netzes hervorgezogen: Darin erläutert er, wie man des Apostels Paulus‘ Aussagen über homosexuelle Praktiken im Römerbrief verstehen kann. Lesenswert!

„Verbrecher vom CSD“: Latzel-Freispruch aufgehoben (queer.de)

Im Herbst 2019 hetzte Olaf Latzel gegen Besucher:innen des Christopher Street Days als „Verbrecher“ und nahm im Rahmen eines Paar-Seminars abenteuerliche Exegesen vor. Es schlossen sich interessante Gerichtshändel in Bremen an (wir berichteten & berichteten):

Latzel wurde vom Amtsgericht 2020 wegen Volks­verhetzung zu 8.100 Euro Geldstrafe verurteilt. In einem Berufungsprozess wurde er im Mai 2022 jedoch vom Landgericht vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Nun hat das Oberlandesgericht der Revision der Generalstaatsanwaltschaft Recht gegeben und den Freispruch von 2022 aufgehoben, berichtet u.a. @queer_de. Die Bremische Evangelische Kirche (BEK), bei der Latzel nach wie vor Dienst tut, will sich dazu erst einmal nicht äußern. Dabei ist klar: Egal, wie es vor Gericht weitergeht, aussitzen kann die Kirche den Fall Latzel so oder so nicht.

Buntes

Papst: Liturgiedikasterium hat Dispensgewalt bei Alter Messe (KNA, katholisch.de)

Ein weiteres Kapitel in der scheinbar endlose Saga um die Liturgiereformen von Papst Franziskus: Ausnahmen von der Regel, die Franziskus in „Traditionis custodes“ bereits 2021 festgelegt hatte (und im vergangenen Jahr ausgiebig in einem weiteren Schreiben erläuterte), nach der die sog. „Alte Messe“ von Traditionalisten in der römisch-katholischen Kirche nur unter extrem schweren Bedingungen gefeiert werden kann, bedürfen der Zustimmung des vatikanischen Liturgiedikasteriums. Punkt. Oder?

Mit der Debatte hatten wir uns zuletzt in der Eule in einem ausführlichen Gespräch mit dem Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann in unserem „WTF?“-Podcast im Januar diesen Jahren befasst. Beim Podcast (in den sog. Shownotes) sind auch weitere erklärende Artikel verlinkt.

Schluss mit Kidsshaming! – Daniela Albert (Die Eule)

Hier bei uns in der Eule hat sich unsere Familienkolumnistin Daniela Albert (@dalbert79) am Montag in ihrer Kolumne „Gotteskind und Satansbraten“ mit dem Online-Trend befasst, Kinder vor der Kamera durch Tricks bloßzustellen. Dabei hat das Beschämen in Deutschland in Familien, Kitas und Schulen eine lange analoge Tradition. Daniela fordert dazu auf, dieser Praxis entgegenzuwirken:

Kidsshaming betrifft uns alle! Und weil es uns alle betrifft, können wir auch alle ein bisschen daran mitarbeiten, dass es aufhört. Das fängt mit einer ganz einfachen Erkenntnis an: Kinder sind Menschen! Sie sind vollwertige Menschen, ohne irgendein „Aber!“, irgendwelche Einschränkungen, irgendwelche Ausreden. Als Menschen gilt für sie, was für uns alle gilt. Dinge, die ihre Würde verletzen, sind nicht erlaubt.

Theologie

Warum die Fastenzeit ursprünglich nichts mit Selbstoptimierung zu tun hat – Theresia Heimerl (Kleine Zeitung)

Nicht Selbstfindung oder -Optimierung sei das Ziel des Fastens, sondern die Hinwendung zu den Menschen, erklärt die Grazer Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl in diesem Artikel für die Kleine Zeitung.

Gegen diese Todsünde der „tristitia“, der fruchtlosen spirituellen Suche, die nur beim eigenen Ich endet, empfiehlt die Tradition: Arbeit. Die Hinwendung zum anderen, ob dem Gemüse im Klostergarten, den Armen und Kranken, den Vertriebenen und Heimatlosen, ist der zweite Teil der gelungenen Fastenübung, den wir kaum noch im Blick haben. Jesus fastet nicht, um zu fasten, er fastet auch nicht, um mit dem Teufel einen Wettkampf auszutragen. Er fastet, um sich den Menschen in Galiläa und Judäa zuwenden zu können, im vollen Wissen darum, dass dieses Leben zunächst einmal im Staub enden wird.

Wenn es nicht schwingt und singt … – Detlef Pollack (Soziopolis)

Der Religionssoziologe Detlef Pollack (@DetlefPollack) zerlegt in einer unterhaltsamen Rezension das Buch „Demokratie braucht Religion“ seines Jenaer Soziologenkollegen Hartmut Rosa und kritisiert zugleich dessen gesamtes soziologisches Werk.

Das Bild, das Hartmut Rosa von der Religion zeichnet, wirkt sympathisch, und es bildet Züge der spirituellen Mystik auf anrührende und überzeugende Weise ab, aber es trifft die Wirklichkeit des religiösen Lebens nur zu einem kleinen Teil. Letztendlich handelt es sich bei diesem Bild mehr um das Korrelat eines durch den soziologischen Ansatz erzeugten theoretischen Erfordernisses als um ein Abbild der religiösen Wirklichkeit.

Ein guter Satz

Religion

via REL ::: Die Eule https://eulemagazin.de

February 26, 2023 at 09:45AM