Mastodon: Der Twitter-Exodus in Zahlen
In immer neuen Wellen flüchten Menschen gezielt vom früher beliebten Informationsnetzwerk Twitter zu Mastodon ins Fediverse. Datenjournalist:innen der Süddeutschen Zeitung zeichnen die Massenwanderung nach. Bei Twitter herrscht offenbar Panik wegen der Entwicklung.
Erstmals in der Geschichte des Internets gibt es einen Massenexodus von einem kommerziellen sozialen Netzwerk zu einem unkommerziellen sozialen Netzwerk. Der Vorgang bewegt den Milliardär und Twitter-Eigentümer Elon Musk zu immer neuen problematischen Entscheidungen. Die Süddeutsche Zeitung hat im Artikel „Wohin die Twitter-Nutzer flüchten“ (€) nun Mastodon und das Fediverse ausgewertet.
Dafür nutzten die Journalist:innen Zahlen von instances.social, einem Dienst, in dem man sich als Nutzer:in Instanzen nach Größe und Moderationskriterien auswählen kann. Laut diesem hatte das Fediverse am 13. Dezember mehr als 14.300 Instanzen und 6,1 Millionen Nutzerkonten. Das Fediverse ist die Gesamtheit aller Software, die über das Protokoll ActivityPub kommuniziert. Doch auf der großen Mehrheit der Instanzen läuft Mastodon, das derzeit als Twitter-Alternative gehandelt und genutzt wird.
45 Prozent aller Konten bei den 8 größten Instanzen
Die SZ hat sich angeschaut, wie die Größenverteilung der Instanzen ist. Mit etwa 900.000 Accounts ist das zur gemeinnützigen GmbH des Mastodon-Erfinders Eugen Rochko gehörende Mastodon.social mit Abstand die größte Instanz. Die Verteilung der Accounts im Fediverse ist nicht gleichmäßig, so haben laut der Recherche der SZ nur acht Instanzen mehr als 100.000 Nutzer:innen. Auf diesen Instanzen sind dann auch 45 Prozent aller Mastodon-Accounts versammelt. Der Rest verteilt sich auf tausende weitere Instanzen.
Von diesen sind die meisten Instanzen sehr klein. Mehr als drei Viertel haben weniger als zehn Nutzer:innen, auf 4000 Instanzen ist sogar nur ein Account angemeldet. Während man die anderen Instanzen mit Städten und Dörfern vergleichen kann, haben sich auch Menschen entschlossen, dem Fediverse in Alleinlage beizuwohnen. Die förderierte Struktur des Netzwerks macht es möglich, dass auch diese mit den anderen Instanzen kommunizieren.
Auch angeschaut haben sich Mirjam Hauck und Simon Koenigsdorff von der SZ, wie die vorhandenen Instanzen den Ansturm von Twitter-Nutzer:innen aufnahmen. Dabei fiel nicht nur auf, dass der Exodus in ereignisbezogenen Wellen geschieht (Musk übernimmt, Musk kündigt an, Musk sperrt), sondern dass die Wellen dazu führen, dass Instanzen immer wieder die Neuaufnahme stoppten, um mit dem Ansturm klarzukommen.
Aufgefallen ist bei der Auswertung auch, dass die Anzahl der Postings (Tröts) auf den zwei großen Instanzen Mastodon.social und Mastodon.online nach einer anfänglichen Euphorie wieder etwas abgenommen hat. Woran das liegt, ist allerdings unklar.
Schwierige Statistiken
Aufgrund der dezentralen Struktur des Fediverse ist es nicht ganz einfach, Zahlen wie absolute Nutzerzahlen zu ermitteln, was auch die Autor:innen des SZ-Artikels schreiben. Hilda Bastian hat in einem längeren Blogpost erklärt, wie es zu der derzeit großen Spanne bei den Account-Zahlen im Fediverse zwischen 2,5 und acht Millionen kommt. Die kleinere Zahl kommt unter anderem zu Stande, weil sie die „im letzten Monat eingeloggten Accounts“, also aktive Nutzer:innen erfasst. Die 8-Millionen-Zahl erfasst die Gesamtheit existierender Accounts und zählt dabei auch Instanzen mit, die nicht an das Fediverse angeschlossen sind, also auch solche, die sich nicht dem gemeinsames Regelwerk angeschlossen haben. Deswegen sind bei der Auswertung von Bastian und der SZ auch deutlich weniger als diese acht Millionen zu sehen.
Das Wachstum seit Musks Twitter-Übernahme lässt sich aber deutlich beobachten. Nach Bastian gab es davor schon 3,6 Millionen Accounts, von denen aber nur 10 Prozent aktiv waren. Viele Leute hatten sich testweise mal einen Account angelegt, diesen aber wieder verwaisen lassen. Laut Bastian zählte sie Anfang Dezember 5,4 Millionen Accounts, von denen aber mittlerweile knapp die Hälfte auch aktive Nutzer:innen sind. Teilweise legen sich Menschen aber auch nur einen „Sicherheitsaccount“ im Fediverse an, den sie nutzen, wenn es bei Twitter gar nicht mehr geht.
Panik und Getöse bei Twitter
Bei Twitter löst dieser Erfolg des Fediverse offenbar große Nervosität aus. Gestern hatte Twitter gar angekündigt, dass man gesperrt werden könnte, wenn man sein Konto hauptsächlich dazu verwendet, um „Inhalte auf einer anderen sozialen Plattform zu bewerben.“ Dabei wurden unter anderem Facebook, Instagram und Mastodon genannt.
Weil viele den Link zu ihrem Mastodon-Profil in ihrer Bio auf Twitter veröffentlichen, wären möglicherweise Millionen Menschen von dieser neuen Regel betroffen und ihre Konten gefährdet. Diese Ankündigung hat das Unternehmen allerdings wieder gelöscht. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht erratisch Ankündigungen und Rückzüge in die Welt posaunt werden.
Zum neuesten Getöse gehört ein neues Pseudo-Plebiszit, das Musk veranstaltet hat. Der rechte Milliardär hat auf seinem Account über seinen Verbleib an der Spitze von Twitter abstimmen lassen: 57,5 Prozent wünschen den Abgang von Musk. Er selbst hat sich noch nicht dazu geäußert, der Schritt wird aber als inszenierte Rückendeckung für einen sowieso geplanten Rückzugs Musks gewertet. Weil Tesla seit der Twitter-Übernahme massiv Aktienwert verloren hat, gerät der Milliardär zunehmend unter Druck sich wieder auf dieses Unternehmen zu fokussieren.
Korrektur:
In einer früheren Version stand der folgende Satz unter Berufung auf Hilda Bastian: „Am 16. Dezember hat das Fediverse einen Rekord geknackt: Erstmals wurden an einem Tag mehr als 500 Millionen Postings veröffentlicht – so viel wie noch nie. Es ist also eindeutig: Das Fediverse ist so aktiv wie noch nie.“ Im Hinblick auf die Zahl von etwa 3 Millionen aktiver Nutzer:innen erscheint diese Zahl sehr hoch, weil wir hier im Bereich von bis zu 200 Postings pro aktivem User wären.
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December 19, 2022 at 01:25PM