Merz macht Migrantenkinder für den schlechten Zustand der Schulen verantwortlich – hat er recht? Ein Faktencheck

BERLIN. Eine Rede von CDU-Chef Friedrich Merz erhitzt in den sozialen Medien die Gemüter. Besonders ein Teil der Rede wurde im Kurznachrichtendienst X zigfach – und oft empört – geteilt. „Seht euch die Schulen an, schaut euch die Wohnraumsituation an, schaut euch die Universitäten an, schaut euch die Krankenhäuser an, schaut euch die Arztpraxen an, schaut euch an, was das für Konsequenzen hat, wenn ein Land durch Migration überfordert wird“, erklärt Merz in diesem Ausschnitt. Für den Bereich Bildung haben wir gecheckt: Was ist dran – ist tatsächlich Migration schuld am schlechten Zustand der Schulen?

Friedrich Merz setzt im Wahlkampf auf das Thema Migration. Foto: Shutterstock / penofoto

Fakt eins: Deutschland investiert nicht genügend in die Schulen, um den Ansprüchen eines Industrie- und Einwanderungslandes zu genügen.

Der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag 2022 bei 4,6 Prozent. Damit lag der Wert auf dem Niveau des Vorjahres (2021: ebenfalls 4,6 Prozent). Deutschland gibt damit im Verhältnis deutlich weniger für Bildung aus als Estland (2020: 6,6 Prozent des BIP), das bei der aktuellen PISA-Studie im europäischen Vergleich vorne liegt. Auch Schweden (7,2 Prozent), Belgien (6,7 Prozent), Dänemark (6,4 Prozent), Finnland (5,9 Prozent), Frankreich (5,5 Prozent), Großbritannien (5,5 Prozent) und die Niederlande (5,3 Prozent) investieren zum Teil deutlich mehr in die Bildung. Spitzenreiter in Europa ist Island mit 7,7 Prozent des BIP, wie Destatis meldet.

Die Folgen der Sparpolitik sind unübersehbar – schon an den Schulgebäuden: Der Sanierungsstau bei Schulen ist laut einer Umfrage der Förderbank KfW unter kommunalen Schul- und Kitaträgern zuletzt um 7,3 Milliarden Euro auf insgesamt 54,8 Milliarden Euro angewachsen. Auch mit Blick auf die Kindertagesstätten verzeichnen die Kommunen einen erheblichen Rückstand, der sich auf 12,7 Milliarden Euro beläuft. Rund eine von zehn Kommunen gab an, den Unterhalt der Schulen kaum oder gar nicht mehr gewährleisten zu können (News4teachers berichtete).

Fakt zwei: Obwohl Deutschland seit über 60 Jahren Einwanderungsland ist, sind die Schulen bis heute nicht auf Migration eingestellt.

Während in Einwanderungsländern wie Kanada eine begleitende Sprachförderung für eingewanderte Kinder und Jugendliche außerhalb des Regelunterrichts obligatorisch ist, findet sie in Deutschland allzu häufig nicht statt. So hat eine Sonderauswertung der IGLU-Studie ergeben, dass nur jedes siebte Migrantenkind, das zu Hause nicht Deutsch spricht, im Unterricht der Grundschule eine tägliche Leseförderung erhält; die Hälfte von ihnen wird im Unterricht gar nicht oder nur einmal im Monat beim Lesen besonders gefördert. Außerhalb des Unterrichts sieht es nicht besser aus: Nur rund die Hälfte der Schülerinnen und Schüler besuchen eine Grundschule, an der außerunterrichtliche Leseförderangebote für Migrantenkinder überhaupt existieren (News4teachers berichtete).

In den Kitas sieht es nicht besser aus. Einem Report des Bundesfamilienministeriums zur Lage von Familien in Deutschland zufolge haben vor allem Familien mit Einwanderungsgeschichte Schwierigkeiten, einen Betreuungsplatz zu finden. Gerade diese würden aber «besonders von einem Kita-Besuch profitieren», heißt es im Bericht mit Blick auf Sprachkenntnisse, die für den späteren Schulerfolg unerlässlich sind.

Immer mehr Bundesländer verfallen jetzt darauf, Sprachtests vor der Einschulung obligatorisch zu machen, um Defizite möglichst frühzeitig zu erkennen. Bayern zum Beispiel hat angekündigt, verpflichtende Sprachtests vor der Einschulung einzuführen. Sie sollen erstmals bei den Kindern in Bayern angewendet werden, die im September 2026 in die Schule kommen. „Es geht im Kern darum, für die Kinder das Schlimmste im schulischen Kontext zu verhindern, was man sich vorstellen kann, dass ein Kind die Sprache nicht richtig spricht, nicht gescheit Deutsch spricht und dann im Unterricht nicht mitkommt, sich ausgeschlossen fühlt und natürlich den Lernstand nicht so erreichen kann wie andere, die eben Deutsch sprechen“, begründete dies Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) in München. Kein Kind dürfe durch das Raster fallen, „nur weil es vom Zufall abhängt, ob sich die Eltern kümmern oder nicht kümmern“ (News4teachers berichtete).

Mal davon abgesehen, dass eingewanderte Eltern, die selbst nicht oder nur schlecht Deutsch sprechen, sich schlecht selbst „kümmern“, also ihren Kindern Deutsch beibringen können – die Ankündigung bedeutet im Umkehrschluss: Es gibt bislang praktisch überhaupt keine obligatorische Sprachförderung für Kinder aus eingewanderten Familien vor der Einschulung. Das laut Herrmann „Schlimmste im schulischen Kontext“ ist in den Schulen Alltag.

Fakt drei: Der Leistungsverlust der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, dokumentiert durch zahlreiche Bildungsstudien wie PISA, setzte bereits vor der Flüchtlingswelle 2015 ein.

„War bis 2012 ein stetiger Anstieg der durchschnittlichen mathematischen Kompetenz in Deutschland zu verzeichnen, ist dieser Trend in den letzten 10 Jahren zum Teil stark rückläufig“, so heißt es in einer Analyse von Bildungsforscherinnen und -forschern zu PISA 2022. Die Migration hat diese Entwicklung allerdings verschärft.

„Zusammenfassend sind die Befunde für die Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund der ersten Generation alarmierend. Es ist offensichtlich, dass die Integration der Jugendlichen der ersten Generation in das deutsche Bildungssystem nicht gelingt. Die pandemiebedingten Schulschließungen der Jahre 2020 und 2021 dürften hier zusätzliche negative Effekte gehabt haben. Insgesamt besteht weiterhin hoher Handlungsbedarf in der Bildungspolitik, damit auch leistungsschwache Schüler*innen am Ende ihrer Schulzeit über diejenigen Kompetenzen verfügen, welche sie für einen gelungenen Übergang in das Berufsleben benötigen – und dies unabhängig von ihrer sozialen oder zuwanderungsbezogenen Herkunft“, so heißt es in dem Bericht.

Sind die Migrantenkinder also doch schuld am Leistungsverfall? PISA-Studienleiterin Prof. Doris Lewalter erklärt: „Die soziale Herkunft und der Zuwanderungshintergrund erklären die Gesamtergebnisse nur zum Teil. Die mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sind im Vergleich zu 2012 ebenfalls geringer geworden – sogar deutlicher als bei den Jugendlichen, deren Eltern zugewandert sind, die aber selbst in Deutschland geboren wurden.“

Fazit: Die Migration hat die Herausforderungen für die Schulen verschärft; dass das System so ausgeblutet ist, dass keine Reserven für besondere Belastungen – geschweige denn Krisen wie die Pandemie – vorhanden sind, liegt allerdings in der Verantwortung der Politik.

Ein Beispiel: Deutschland verzichtet durch das Dienstwagenprivileg jedes Jahr auf Steuereinnahmen in Höhe von geschätzt mehr als fünf Milliarden Euro. Mit dem Geld, das vor allem Gutverdienern und der Autoindustrie zugutekommt (was womöglich dazu beigetragen hat, dass sie wichtige Anpassungen wie die Elektromobilität verschlafen hat), hätte binnen zehn Jahren zum Beispiel der Sanierungsstau an den Schulgebäuden in Deutschland vollständig beseitigt werden können – kein Schüler, keine Lehrkraft müsste mehr in einem maroden Klassenzimmer sitzen. Die Realität sieht bekanntlich anders aus. Dass die Politik (auch die von CDU/CSU) seit Jahrzehnten andere Prioritäten setzt, dafür können Migrantenkinder aber nichts. News4teachers

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Date: September 7, 2024 at 06:02AM
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