Mit dem Lehrplan durch sein

Eine mehr oder weniger geraume Zeit vor Ende des Schuljahrs heißt es gerne: “Wir sind mit dem Lehrplan durch.” Das sagen Lehrkräfte so, oder es kommt so bei Schülern und Schülerinnen an. Das stimmt aber nie, behaupte ich, außer in einem trivialen Sinn, und selbst das selten. Ob das schlimm ist oder nicht, dass das nie stimmt, das hängt vom Einzelfall ab; es ist nicht unbedingt Grund für Erschrecken.

Man kann als Lehrkraft wohl nur in der Form mit dem Lehrplan durch sein, dass man alle Inhalte des Lehrplans in irgendeiner Form angesprochen, oder zum Lernen aller Inhalte in irgendeiner Form Gelegenheit gegeben hat. Ich glaube, lasse mich aber korrigieren, dass man das auch als Input-Orientierung bezeichnen kann: Man macht über jedes Lehrplanthema eine Stunde, oder eine halbe, jedes Wort im Lehrplan ist mindestens einmal gefallen, und dann zieht man sich darauf zurück, dass man damit den Lehrplan erfüllt hat. Das ist ein zu einfaches Verhältnis zur Lehrplanerfüllung, finde ich. Manchmal meint man das gar nicht böse und glaubt wirklich, bloß weil man es einmal, vielleicht sogar zweimal erklärt hat, müsse das jetzt reichen. Bei manchen Inhalten reicht das aber nicht, nicht das Zweimal und nicht das Erklären.

Wenn man möchte, dass die Schüler und Schülerinnen die Inhalte des Lehrplans nachhaltig in ihr kognitives Weltbild eingebaut haben und die im Lehrplan genannten Kompetenzen erworben haben, dann wird man nie mit dem Lehrplan fertig. Es ist völlig utopisch, der Lehrplanlyrik gerecht zu werden. Willkürliches Beispiel:

[Die SuS] entscheiden über die dem jeweiligen Text, der Leseabsicht und der jeweiligen medialen Präsentationsform angemessene Lesestrategie (v. a. punktuelles, diagonales, kursorisches, selektives oder sequenzielles Lesen); sie lesen untersuchend-kritisch (analytisches Lesen), um zentrale Aussagen zu erfassen, vertrauenswürdige und problematische Informationen zu unterscheiden und zu diskutieren. Sie dokumentieren ihr Verständnis längerer Texte oder themenspezifischer Materialien in unterschiedlichen Formen wie Portfolios, Lesetagebüchern oder kurzen Notizen, ggf. auch digital.

Das kann man beliebig oft machen, da wird man nie fertig. Für Mathematik gilt das genauso. Frag mal jemanden aus der neunten Klasse, wie man 1/2 und 3/4 addiert. Das ist nicht allen präsent. Dieser Lehrplanabschnitt ist aber sehr wahrscheinlich gemacht worden, nur nicht so, dass das nachhaltig bei allen verbleibt. War man also durch oder nicht durch mit dem Lehrplan?

Und manche Inhalte lässt man ganz weg, man spricht sie nicht einmal an. Ich frage da immer wieder bei Kollegen und Kolleginnen nach, kenne Beispiele aus Chemie, Mathematik, Sport, Deutsch… Details wären indiskret. Manche Dinge werden von den meisten Lehrkräften weggelassen, manche nur von wenigen, mal ist es Versehen, mal Absicht.

Das ist auch nicht unbedingt schlimm. Einige Dienstanweisungen aus dem Kultusministerium und von der Schulleitung sind, sagen wir: ernster gemeint als andere. Neutraler formuliert: alle beteiligten Parteien erkennen und erkennen an, dass man priorisieren muss, und wo priorisiert wird, fallen Späne. Das gilt eben auch für den Lehrplan. Und so wird halt manches vielleicht kurz „behandelt“, in einer Stunde „erwähnt/durchgenommen“, ohne dass das viele Spuren hinterlässt, oder halt auch ganz weggelassen in der Hoffnung, dass anderes, Priorisiertes, dafür nachhaltiger gelernt wird. So klingt das doch ganz okay? Dass ich im Detail nicht immer ganz zufrieden bin und eine Meinung auch zu anderen Fächern habe, anderes Thema.

Mit dem Schulbuch durch sein oder nicht: Das sagt auch nicht viel aus. Zumindest in meinen drei Fächern Deutsch, Englisch, Informatik enthält das Buch viel mehr Material, als man je in einem Jahr verwenden könnte. Man kann also nie alles im Buch gemacht haben, und das ist so beabsichtigt und auch richtig. Es macht auch nicht unbedingt Sinn, am Ende des Schuljahrs noch auf die weggelassenen Elemente zurückzukommen; da fehlen Lust und Energie. Dennoch: Mehr Üben und Wiederholen ist immer nötig, aber halt nicht immer möglich. Das Schulbuch ist ohnehin sekundär, wir kriegen am Anfang jedes Schuljahrs aufs Neue gesagt: Der Lehrplan ist ausschlaggebend, nicht das Schulbuch.

Wenn Noten und Prüfungen immer wichtiger werden (ich weiß nicht sicher, ob das so ist, aber man hat zunehmend das Gefühl), dann werden die Teile des Lehrplans, die sich für Noten und Prüfungen besonders eignen, priorisiert. Die anderen Teile nicht.

Wahr ist, dass Lehrkräfte und Schüler und Schülerinnen zum Ende des Schuljahrs hin, und deutlich vor dem Ende des Schuljahrs, erschöpft sind. (Und dass oft Lehrkräfte fehlen.) Wahr ist andererseits auch, dass wenn noch Energie da ist, man zum Ende des Schuljahrs, wenn oft schon alle Pflichtnoten gemacht sind, Zeit ist für andere, unbenotete Arbeit. Und da gibt es viele schöne Dinge, die man machen kann, die oft auch noch im Lehrplan stehen.

(Als Antwort auf einen Mastodon-Thread entstanden.)



Title: Mit dem Lehrplan durch sein
URL: https://www.herr-rau.de/wordpress/2023/09/mit-dem-lehrplan-durch-sein.htm
Source: Lehrerzimmer
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Date: September 24, 2023 at 03:12PM
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