Nicht Theologie erklären, sondern Theologie übersetzen. Auf dem Weg zu einer verständlichen und authentischen religiösen Sprache

Horst Heller
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Religiöse Sprache muss auch außerhalb der Kirche verstanden werden. Dieser Satz ist eigentlich unbestritten, und doch wird ihm oft zuwidergehandelt. Vielleicht muss das manchmal so sein. Die wissenschaftliche Theologie mit ihren Wortschöpfungen und ihrer Fachterminologie folgt eben eigenen Gesetzmäßigkeiten. Sie will keine Predigt- oder Unterrichtssprache sein. Die „Heilige Sprache Kanaans“ jedochwill verstanden werden. Aber sie lobt die „Freudigkeit im Glauben“, „ruft uns in die Nachfolge“, möchte „Zeugnis der Hoffnung sein“ und empfängt uns „am Tisch des Herrn“. Für Kirchennahe mag das vertraut klingen. Aber ist dieser Rückgriff auf die Bibelsprache früherer Jahrhunderte oder auf alte Gesangbuchlieder verständlich? Eines scheint mir klar zu sein: Wer sich an eine Zuhörerschaft außerhalb der kirchlichen Kerngemeinde wendet, braucht eine andere religiöse Sprache. Sprachsensibilität im Unterricht und in der Verkündigung: Hier ist sie tatsächlich gefragt.


Religiöse Sprache will verstanden werden. Drei Vorschläge

1. Seien wir kritisch gegenüber theologischen Substantiven
Wir sprechen von der Menschwerdung Gottes, von Gnade und Erlösung: Drei Beispiele aus dem unerschöpflichen Vorrat systematisch-theologischer Nomen. Sie beschreiben Theologie, als hätte sie nichts mit uns zu tun. Schon lange missfällt es mir, wenn von dem Osterereignissen in theologischer Nominalsprache geredet wird. Das Kreuz ist ein Faktum der Geschichte, die Ereignisse des Ostermorgens aber nicht. Die Frauen am Grab sprachen nicht von der Auferstehung, sondern von einer Begegnung, die alles veränderte. „Jesus starb, aber er lebt doch. Anders als vorher, aber er lebt.“ Ein solcher Satz beschreibt die spirituelle Erfahrung von Ostern und kommt ganz ohne Nomen aus.

2. Antworten wir nicht auf Fragen, die uns niemand gestellt hat!
Die theologische Wissenschaft ist frei. Sie bearbeitet selbst gestellte Forschungsfragen. Unterricht und Predigt aber müssen die Hörenden und Lernenden im Blick behalten. Was ist für sie wichtig, und was ist nur theologiegeschichtlich interessant?

Authentische theologische Sprache bevorzugt die erste Person Singular

3. Beachten wir den Grundsatz, dass gute Theologie existenziell ist!
Aline wohnt im Haus mit der Nummer 37 und sie ist gerade zu Hause. Für Jason, der im Haus Nummer 33 wohnt und in sie verliebt ist, ist das total wichtig. Er kann ihr nämlich, wenn er mutig ist, eine Nachricht schreiben und dann, wenn sie antwortet, bei ihr klingeln. Wenn ihn Aline aber nicht interessiert, ist es völlig ohne Belang, wo sie wohnt und ob sie zu Hause ist.
Ähnlich ist es mit Aussagen über das Göttliche. Wie ist der Satz „Gott wohnt im Himmel.“ zu verstehen? Meint er: „Der Himmel ist weit weg. Für mein Leben ist es ziemlich egal, ob Gott da wohnt“, dann ist die Frage nach Gott ohne existenziellen Wert. Über Gott oder Jesus zu reden macht eigentlich nur dann Sinn, wenn – wie bei Jason und Alina – etwas davon abhängt. Existenzielle theologische Sprache bevorzugt deshalb Authentizität in der ersten Person Singular. „Ich glaube an Gott“ heißt dann: „Ich hoffe auf Gott“ der „Ich kann ihm alles sagen“ oder „Ich wünsche mir den Segen Gottes.“ oder „Ich hoffe, dass ich bei Gott bin, wenn ich sterbe.“


Theologische Sprache soll authentisch sein. Sechs Kriterien

Eine Vorbemerkung: Religiöse Bildung soll Theologie nicht erklären, sondern sie übersetzen.
Wir sind noch nicht am Ziel, wenn Menschen befähigt worden sind, die Sprache der Theologie zu verstehen – obwohl dieses Bemühen aller Ehren wert ist und obwohl es dafür zweifellos rege Nachfrage gibt. Luther versuchte, die Botschaft der Bibel ohne leblose Fachsprache zu entfalten. Er nannte das, dem Volk auf’s Maul zu schauen.

Theologische Sprache hat mehr Fragen als Antworten

1. Am Anfang steht die Bescheidenheit.
Die christliche Kirche wähnte sich jahrhundertelang im Besitz der Wahrheit. War Jesus ein Mensch oder auch ein Gott? Wie kommt der Leib Christi in der Hostie? Welche Aufgaben übernehmen Frauen in der Kirche? Auf (fast) alle Fragen konnte die kirchliche Lehre eine Antwort geben. Irrlehren wurden verdammt, Abweichler bekämpft, die andere Konfession wurde zum Hauptgegner. Das war nicht nur ein Verstoß gegen das Gebot der Toleranz. Schon Luther sagte 1521 in Worms: „Päpste und Konzilien haben oft geirrt.“ Wie wahr! Doch dieses Verdikt gilt auch für den Reformator selbst! Theologische Sprache macht immer deutlich, dass sie mehr Fragen als Antworten hat und hütet sich vor Rechthaberei.

2. Auch theologische Wahrheit kennt Diversität.
Als Gott die Welt schuf, machte er auch die Vielfalt. Die Tier- und Pflanzenwelt ist unfassbar vielfältig. (Leider zerstört der Menschen mehr und mehr diese Biodiversität). Das ermöglicht einen neuen Blick auf Theologie. Religiöse Sprache kann auch Ausdruck einer theologischen Diversität sein. Wie wird noch sehen werden, gibt es dennoch in der Theologie kein Everything Goes. Aber die exkludierende Kategorie der Irrlehre können wir vorerst zur Seite legen.

Nicht nur die Natur, auch die Theologie kennt den Reichtum der Diversität

3. Muss jede und jeder selbst entscheiden, was sie oder er glaubt?
Zweifellos. Positionierung lässt sich nicht delegieren. Aber theologische Sprache formuliert immer vorläufige Einsichten. Oder mit den Worten von Jostein Gaarder und Sophies Welt: Es geht darum weder „felsenfest sicher“ noch „gleichgültig“ gegenüber der Wahrheit zu sein.

4. „Sola Scriptura“. Der Maßstab ist die Bibel.
Es gibt Menschenbilder, Gottesbilder und Weltbilder, die können nicht christlich sein. Wie können wir das wissen? Kirchliche Glaubensbekenntnisse, Bekenntnisschriften, Konzilsbeschlüsse und Dogmen scheiden aus den genannten Gründen aus, sie sind Wegmarken einer theologischen Suche. Der einzige universal gültige theologische Maßstab ist das reformatorische Sola Scriptura (Allein die Schrift). Die Bibel wird so – neben dem Solus Christus – zum Prüfstein für theologische Wahrheit.
Die Bibel ist, wie wir wissen, selbst ein Buch der Vielfalt. Doch in den 66 Büchern der Bibel (katholisch: 73) finden sich ein Kern und eine Mitte. Wie es möglich ist, sie zu erschließen, habe ich an anderer Stelle beschrieben.

5. Theologische Sprache darf sich der Alltagssprache bedienen.
Die Wahrheit über Gott ist noch nicht aufgedeckt worden, auch wenn altkirchliche Bekenntnisse uns das glauben machen wollen. Sie wartet auch nicht darauf, von Erleuchteten oder Gelehrten gefunden und in Sprache gekleidet zu werden. Weil sie immer auch existentiell ist, kann sie nur von jeder und jedem Einzelnen gesucht und gefunden werden. Sie muss konstruiert werden.
Gibt es womöglich gar keine objektive Wahrheit? Ist authentische religiöse Rede „nur“ die Versprachlichung individueller Einsichten? Gibt es überhaupt die eine richtige Antwort auf die Gottesfrage? Meine Antwort besteht aus zwei Sätzen: Wir wissen es nicht. Und wir müssen es nicht wissen. Dieser Verzicht ist nicht zu verwechseln mit einer agnostischen Positionslosigkeit, die gar keine theologischen Aussagen machen will.
Die christliche Theologie stellt (mit Pilatus) die Frage: Was ist Wahrheit? Und weiß zugleich, dass es eine für alle geltende Rechtgläubigkeit erst mal nicht gibt. Jede und jeder ist herausgefordert, selbst zu theologisieren und dafür eigene Worte zu finden.

Theologische Sprache sucht das nachdenkende Gespräch

6. Am Ende steht der Dialog.
Unsere Überlegungen begannen mit der Bescheidenheit, sie enden mit dem Gespräch. Was ich erkannt zu haben glaube, teile ich mit Menschen, die auch auf der Suche sind. So treffen unterschiedlich formulierte Wahrheiten aufeinander. Die religiöse Sprache nachdenkender Menschen erfährt wechselseitige Rückmeldung, ihre Einsichten werden abgewogen, kritisiert oder bestärkt. Alle werden bereichert.

Eine Nachbemerkung: Wer ist der Wahrheit Gottes schon jetzt am nächsten?
Auf diese Frage antworte ich mit Gotthold Ephraim Lessings Nathan, dem Weisen. Dieser sagt sinngemäß: Vielleicht werden wir es in tausend Jahren erfahren. Dann wird „ein weis‘rer Mensch auf diesem Stuhle“ sitzen und es uns eröffnen.

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Title: Nicht Theologie erklären, sondern Theologie übersetzen. Auf dem Weg zu einer verständlichen und authentischen religiösen Sprache
URL: https://horstheller.wordpress.com/2024/06/22/nicht-theologie-erklaren-sondern-theologie-ubersetzen/
Source: Horst Heller
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Date: June 22, 2024 at 06:19AM
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