Letzte Woche habe ich über die Probleme geschrieben, welche Influencer:innen im Bildungssystem verschärfen und erzeugen. Influencer:innen sind Teil eines Phänomens, für das Robert Wunsch und Irmgard Monecke den Begriff des pädagogischen Populismus entwickelt haben. Grundsätzlich geht es dabei darum, dass charismatische Führungspersonen Bildungsprobleme dramatisieren und sich als Retter:innen inszenieren, die für ein diffuses «Wir», für eine breite Basis kämpfen.
In der Studie von Wunsch und Monecke werden das Phänomen, die damit verbundenen Muster und Argumentationsstrukturen an Pseudowissenschaftler:innen wie Precht oder Hüther vorgeführt, die eine enorme mediale Resonanz entfalten und Diskurse über Schule prägen können, ohne belastbare oder konkrete Vorschläge zur Entwicklung von Schulen oder Bildungsprozessen vorlegen zu können. Dasselbe gilt aus meiner Sicht für Influencer:innen wie Bob Blume oder Silke Müller, die sich im Gegensatz zu den im Buch genannten Figuren nicht nur als Fachexperte:innen inszenieren, sondern vor allem auch ihre Praxis-Erfahrungen ins Feld führen. Der Stallgeruch des Lehrer:innen-Zimmers erlaubt ihnen, populistische Strategien einzusetzen, ohne deswegen kritisiert zu werden.
Ich hole erst kurz aus und fasse zusammen, was im Buch als Konzept des pädagogischen Populismus beschrieben wird. Wunsch und Monecke haben den Begriff von der politischen in die pädagogische Sphäre übertragen. Sie ordnen ihm vier grundlegende Merkmale zu:
- Bezug auf ein «Wir»
«Bestandteil des Wir ist die anti-elitäre und anti-pluralistische Attitüde», schreiben Wunsch und Monecke in der Einleitung. «Übertragen auf pädagogische Populisten hört sich das so an: Nur wir haben Erkenntnis darüber, wie Schule sein sollte. Die Abgrenzung geschieht nicht über eine Beschreibung dieser Erkenntnis, sondern eher in scharfer Kritik an den bestehenden Strukturen, Institutionen und der dort tätigen Menschen.» (S. 15) - Dramatisierung der Lage
Hier handelt es sich «um ein populistisches Grundmittel, das die Möglichkeit eröffnet, sich folgend als Retter zu gerieren oder zumindest Rettung zu versprechen.» In der Folge präsentieren sich pädagogische Populist:innen in der Rolle der Experten, die «die alleinige Kenntnis zur Lösung der Probleme [haben] und mit dieser um Anhängerschaft [werben]. Seinen Fans [bieten sie] einfache Lösungen, die zumeist radikal abstrakt sind, weil verschwiegen wird, dass entscheidende Merkmale vernachlässigt wurden, so dass der ›pädagogische Endverbraucher‹ nicht viel damit anfangen kann und in dem Gestus der Ablehnung der etablierten Institutionen und Handelnden verharrt.» (S. 16) - Charismatische Führungspersonen
Die Populist:innen sprechen Gefühle und Ängste an und können «mit zur Schau gestellter Stärke stellvertretend im Namen des Volkes die Lösung der konstatierten Probleme versprechen.» Ihre Wirkung ist «vereinnahmend» und funktioniert bis in wissenschaftliche Kontexte und hohe Verwaltungsebenen. (S. 16) - Multimedialität
«Die Multimedialität (Print, Radio, Fernsehen, Video, Internet, Social Media) von Populisten [stellt] ein ausgetüfteltes System der Selbstvermarktung dar und [entfaltet] zugleich eine bedenkliche Eigendynamik.» (S. 17)
Diese Merkmale verbinden sich in einem Appell an Beschützer:inneninstinkte und Ohnmachtsefahrungen und entfalten durch diese Emotionalität eine intensive Wirkung. Pädagogische Populist:innen machen Eltern und Lehrpersonen gleichzeitig Angst und fordern sie auf zu handeln, ohne dafür Anregungen zu geben, die in der Praxis sinnvolle Lösungen ergeben. Mehr noch: Die Populist:innen «zündeln», weil ihr Fokus auf die Emotionalität ihr Publikum daran hindert, sich rational mit Bildung und Schule auseinanderzusetzen.
Die besondere Ansprache von Gefühlen, die von den Populisten aus Gründen der Vermarktung gewählt wird, schlägt auf die Rezeption durch und hat zur Folge, dass keine rationale Auseinandersetzung mit der Argumentation stattfindet. Dort, wo diese Anknüpfungspunkte stark biografisch fundamentiert sind, führen sie bestenfalls dazu, dass der Angesprochene seine Wut, Hilflosigkeit, vielleicht auch Angst zirkulär kommuniziert. Die Fundamentierung in seiner (offenbar bei vielen) teilweise misslungenen schulischen Sozialisation kann von ihm nicht erkannt und schon gar nicht analysiert werden. Das gefährliche Potential zur Radikalisierung ist angelegt und wird durch die Populisten unterstützt. Zündeln nennt man das. (S. 59, hervorhebung im Original)
Verstärkend wirkt auf die starke Emotionalität das Beschwören von Horrorszenarien, welche einen spezifischen populistischen Effekt entfalten kann, der darin besteht, dass nur ein eingeweihter Kreis von eingefleischten Fans der Populist:innen überhaupt bemerken kann, wie schlimm die Lage ist:
Die Weissagung eines Niedergangs geschieht hier mit der zugelieferten Konnotation: Die verantwortlich Handelnden werden mir nicht glauben, aber ihr, die Menschen mit sogenanntem gesundem Menschenverstand, werdet von meinen Argumenten erreicht, habt aber nicht die Macht zur Veränderung. So erklärt sich, dass die einzelnen Populisten eine Art Fangemeinde aus Eltern und interessanter Weise oft auch Lehrer*innen um sich versammeln. Das geschieht bevorzugt bei Autoren, die ein begrenztes Set von Argumenten über einen längeren Zeitraum öffentlich variieren. (S. 24)
In der Analyse im Buch werden zwei Muster identifiziert, die pädagogische Populist:innen häufig bemühen oder ansprechen: Erstens ein Leiden am Bildungssystem, zweitens ein Misstrauen gegenüber dem Staat, der für die Bildung (und damit für das Leiden) verantwortlich ist.
Michael Wildt stellt in einem separaten Kapitel dar, inwiefern pädagogischer Populismus einer Schulentwicklung schadet. Kernpunkt ist, dass pädagogischen Populist:innen die Expertise fehlt, echte Change-Prozesse zu initiieren und zu begleiten:
Die Ursache-Wirkungs-Struktur des Änderungsprozesses bleibt unsichtbar. Es ist nicht zu erkennen, wer welche ersten Schritte in welche Richtung getan hat, so dass am Ende das präsentierte Traummodell ans Laufen kommt. […] Konzepte für Alternativschulen […] entwerfen die Alternative nur gedanklich. Sie widerlegen zwar die These, ›es gehe nicht‹, aber entfachen keine Lernaktivitäten bei denen, die aktiv werden müssen, damit Alternativen Wirklichkeit werden. (S. 97)
All das findet sich in den neuesten Büchern von Bob Blume und Silke Müller, wie ich an zwei Ausschnitten verdeutlichen möchte.
Müller schreibt gegen Ende ihres Buches einen offenen Brief an «Lehrkräfte weltweit». Der Brief beginnt wie folgt:
Liebe Lehrerinnen und Lehrer überall auf der Welt,
ich wende mich heute an Sie mit einer Botschaft von höchster Dringlichkeit und tiefster Sorge – es ist fünf nach zwölf. Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit, an der Schwelle zu einer Ära, die von digitalen Technologien und künstlicher Intelligenz geprägt ist.
Hier wird deutlich, wie Müller Dramatisierung als Element des pädagogischen Populismus nutzt und sich als Führungsperson inszeniert, der es möglich ist, alle Lehrpersonen auf der Welt auf ein Problem aufmerksam zu machen, dem sie sich stellen müssen. Gleichzeitig spricht sie ein Wir an: «Nehmen wir diese Herausforderung an und lassen wir es um Himmels willen nicht zu, dass unsere Kinder in einer Welt aufwachsen, in der sie von Technologien beherrscht werden…». Die Bewältigung der genannten Herausforderung bleibt bei Müller vage. Sie wiederholt Aussagen, die sie in Interviews schon gemacht hat, und macht Vorschläge, die aus ihrem ersten Buch stammen. Im offenen Brief sind das die zwei konkretesten Sätze: «Es muss uns gelingen, kritische Denkfähigkeiten bei den Schülern zu formen, die sie benötigen, um zwischen Wahrheit und Manipulation zu unterscheiden. […] Nur wenn wir verstehen, wie KI funktioniert, wenn wir das Potenzial und die Gefahren erkennen, die KI mit sich bringt, können wir dieses Wissen an unsere Kinder weitergeben, damit sie nicht Opfer, sondern Gestalter dieser Technologien werden.»
Ähnlich unkonkret bis unfreiwillig lustig sind die Vorschläge, die Bob Blume in seinem Buch macht. Besonders deutlich wird das in seinem Programm, das mit «10 Schritte für eine veränderte Schule» überschrieben ist. Hier die 10 Schritte, wie sie in den Zwischentiteln beschrieben werden:
- Idee entwickeln
- Ideen erproben
- Mission erstellen
- Team mandatieren
- Wege bestimmen
- Rückkoppelung ermöglichen
- Praxis erproben und ausweiten
- Organisches Wachstum ermöglichen
- Schritte transparent machen
- Vision, Wege und Praxis konsolidieren
«Jeder muss zu jeder Zeit das Warum, das Wie und das Was kennen, um Teil des Ganzen werden und bleiben zu können», schreibt Blume etwa in Schritt 9. An solchen Stellen wird deutlich, dass es dem Autor nicht darum geht, zu erklären, wie eine Veränderung in der Realität verlaufen kann. Die konkreten Ursachen und Wirkungen bleiben, wie Wildt das beschreibt, unsichtbar; an ihre Stelle treten inhaltslose Prozessbeschreibungen oder banale Anekdoten von Erfolgen. Im Abschnitt «Ideen erproben» beschreibt Blume etwa, wie eine Schule Sitzsäcke gekauft hat, auf die sich Schüler:innen setzen können – und merkt dann, so gehe das «mit jeder Art geplanten Veränderung». Wenn Blume festhält, die Schule brenne (und sich als Feuerwehrmann inszeniert), dann dürfte sie nicht mit Sitzsäcken zu löschen sein. Zur fundamentalen Veränderung, die Blume einfordert, fällt ihm wenig mehr ein als die erfolgreiche Umsetzung der Idee einer Schul AG.

Gegen Ende des Buches reflektiert Blume seine Rolle: «Gerne würde ich darüber berichten, wie ich an einem schönen Juniabend die letzten Wörter schreibe und mich zufrieden nach hinten lehne. […] [Es ist aber] keine Erleichterung möglich, weil momentan vieles, was Bildung betrifft, im Fluss ist. Wir haben es mit wiederkehrenden hohlen Phrasen der Landes- und Bundespolitik zu tun. Wir bemerken, dass zwar keiner zufrieden, aber auch keiner wütend genug ist, um sich dem Sturm auszusetzen, den tatsächliche Veränderung mit sich bringt. Dabei hilft in dieser unübersichtlichen Welt nur die Fähigkeit, sich dem Neuen zuzuwenden, sich darauf einzulassen, es sich zu eigen zu machen und sich darauf aufbauend weiterzuentwickeln.»
Hier klafft ein Widerspruch auf: Bob Blume präsentiert kein Programm, mit dem eine «tatsächliche Veränderung» denkbar ist, inszeniert sich aber als derjenige, der das Feuer löschen oder dem Sturm trotzen kann. Die so heraufbeschworenen Elementarkräfte sind Ergebnis einer Politik, die das angesprochene «Wir» im Stich lässt. Dass Blume selbst auch nur «hohle Phrasen» anbietet, fällt ihm nicht auf, dass er im Sinne von Wunsch und Monecke «zündelt» und sich dann mit dem Feuerlöscher ablichten lässt, auch nicht.
Die neue Generation pädagogischer Populist:innen wie Blume und Müller können sich auf eine andere Art legitimieren, als das bei Precht oder Hüther der Fall ist, die so tun müssen, als seien sie Fachexperten. Blume und Müller betonen ihre Verbindungen in die Praxis – sie sind in Kontakt mit Schüler:innen und Lehrpersonen, sie kennen die vermeintlich echten Probleme der Basis und setzen sich für sie ein. Das begründet ihre Stellung zur einen Hälfte, die andere Hälfte ihrer Berechtigung, auf Podien und in Fernsehsendungen aufzutreten, beziehen sie aus dem Zuspruch, den sie erhalten. Während Müller ihr Buch an verschiedenen nicht überprüfbaren Anekdoten aus ihrem Schulleitungsbüro aufhängt, wo sie als Retterin in Notsituationen handeln muss, verweist Bob auf positives Feedback, das seine Leistung deutlich machen sollen: «Die Wirkung einer Arbeit zu prüfen, die sich potenziell an sehr viele Menschen richtet, die man daraufhin nicht befragen kann, ist hingegen ungleich schwerer. Es sind eher viele kleine Rückmeldungen von Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft – von Lehrkräften, Journalisten, Politikerinnen und Politikern und Menschen aus der Zivilgesellschaft –, die spiegeln, dass Impulse aufgenommen, thematisiert und weiterentwickelt werden.» (S. 274)
Mit diesen Verfahren immunisieren sich pädagogische Populist:innen gegen Kritik: Sie betonen stets (und glauben wohl auch), dass ihre Arbeit dazu beiträgt, dass sich das marode Bildungssystem verändern kann, auch wenn es dafür keine Indizien gibt. Ihre Werke sind einerseits Bestseller, andererseits mit den besten Absichten verfasst: Sie sollen Menschen helfen. Wer daran etwas auszusetzen hat, stellt sich gegen das «Wir», gegen die echten Interessen von Lehrpersonen, die sich an der Popularität der Bildungsinfluencer:innen ablesen lässt.
Bildungsinfluencer:innen wie Müller und Blume sind Populist:innen. Von vielen werden sie als harmlos angeschaut, Blume betont immer wieder, dass niemand seine Bücher lesen oder seine Ideen umsetzen müsse, das sei freiwillig. Diese Argumentation verfängt nicht – Populist:innen sind gefährlich. Sie erschweren es, Probleme differenziert zu analysieren. Sie verunmöglichen sachliche Gespräche, weil sie den Platz von echten Expert:innen einnehmen. Ihre Talking Points treten an die Stelle von Change Prozessen, in denen Dramatisierung und Retter-Figuren problematisch sind, weil alle einen Beitrag leisten müssen, der nachhaltig wirken soll und kurzfristig keine Anekdoten hervorbringt, die in Büchern und in Vorträgen verkauft werden können. Bildungsinfluencer:innen operieren mit Halbwahrheiten, welche bei der von ihnen beschworenen Wir-Gemeinschaft gut ankommen – und sie operieren in Netzwerken, in denen sie diese Halbwahrheiten und ihre persönliche Wirkung verstärken. Zudem schaffen sie einen Markt für pädagogischen Populismus. Erkennbar wird das an der Arbeit, die sie leisten, wenn sie dafür weder bezahlt werden noch Reichweite erhalten. Das ist die Frage, die man Populist:innen stellen muss: Was tust du für eine Veränderung, wenn es sich für dich selber nicht lohnt?
Title: Pädagogischer Populismus
URL: https://schulesocialmedia.com/2024/10/07/padagogischer-populismus/
Source: SCH ::: Schule Social Media
Source URL: https://schulesocialmedia.com
Date: October 7, 2024 at 03:28PM
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