Porträt | Labour-Chef Keir Starmer: Der Preis des Erfolgs

Porträt | Labour-Chef Keir Starmer: Der Preis des Erfolgs

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Die Labour-Party hat gute Chancen, die Konservativen bei der nächsten Parlamentswahl zu schlagen. Aber das ist weniger einem charismatischen, politisch kantigen Vorsitzenden zu verdanken als inkompetenten Tories

Labour-Chef Keir Starmer: Der Preis des Erfolgs

Am 1. Februar, als eine halbe Million Lohnabhängige in Großbritannien die Arbeit niederlegten – es war der größte Streiktag eines Jahrzehnts –, saß Labour-Chef Keir Starmer im britischen Parlament und lieferte sich sein übliches Wortgefecht mit dem konservativen Premierminister Rishi Sunak. Er sprach über Korruption bei den Tories, die Streiks erwähnte er mit keinem Wort. Starmer mag zwar der Vorsitzende der Arbeiterpartei sein, aber er hat offensichtlich Hemmungen, so richtig auf Tuchfühlung mit dem arbeitenden Volk zu gehen. Zu Beginn der Streikwelle im vergangenen Sommer wies er sein Schattenkabinett sogar an, auf keinen Fall bei Streikposten aufzutauchen. Seit dem Amtsantritt vor bald drei Jahren hat dieser Vorsitzende seine Partei immer mehr in die Mitte geführt, weg von der Politik seines linken Vorgängers Jeremy Corbyn. Dorthin, wo Labour für das politische und wirtschaftliche Establishment keine Gefahr mehr darstellt.

Angefangen hatte es freilich ganz anders. Geboren 1962 im Londoner Bezirk Southwark, wuchs Starmer in einem wohlhabenden Vorort südlich der Hauptstadt auf. Seine Eltern waren Labour-Anhänger, auch das Herz des jungen Keir schlug links. Mit 16 Jahren trat er den Labour Party Young Socialists bei und machte sich einen Namen als emphatischer Heißsporn. Ein damaliger Freund erzählt, Starmer und einige seiner Mitstreiter hätten sich einmal extra für einen Volkslauf einschreiben lassen, damit sie den Tory-Abgeordneten Geoffrey Howe, der ebenfalls teilnahm, öffentlich beschimpfen konnten.

Nach einem Jura-Studium in Leeds und Oxford begann Ende der 1980er eine Karriere als Anwalt. Oder, wie Starmer es selbst schildert – als „sozialistischer Anwalt“. Dieser verteidigte Greenpeace-Aktivisten gegen McDonald’s, ging brutaler Polizeiwillkür in Nordirland nach und setzte sich für Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) ein, die unter britischen Gefängniswärtern zu leiden hatten. 2001 wurde Starmer zum „Menschenrechtsanwalt des Jahres“ gekürt, u. a. weil er ohne Honorar Todeskandidaten in der Karibik vertrat.

Vom Sozialisten zum willigen Helfer der Konservativen

Seine Karriere nahm gehörig Fahrt auf, als 2008 der Job des Director of Public Prosecutions folgte, des obersten Staatsanwalts Großbritanniens. Das ist ein prestigeträchtiger Posten im britischen Staatsgefüge, und Starmers progressive Instinkte traten vermehrt in den Hintergrund. Als er eng mit der konservativen Regierung von David Cameron zusammenarbeitete, sei die Trennung zwischen Judikative und Exekutive zunehmend verwischt worden, schreibt Oliver Eagleton in seiner Starmer-Biografie The Starmer Project von 2022. Auch sei er dem US-amerikanischen Justizdepartment ein williger Helfer gewesen, wenn es darum ging, Terrorverdächtige an die USA auszuliefern.

Als Dankeschön für seine Arbeit wurde er nach seinem Abtritt als Staatsanwalt 2014 zum Ritter geschlagen und ist seither ein „Knight Commander of the Order of the Bath“. Wenig später wagte Sir Keir den Schritt in die Politik. 2015 wurde er als Labour-Abgeordneter ins Unterhaus gewählt – und hatte schon ein Jahr später einen überaus einflussreichen Posten, als ihn Parteichef Corbyn zum Brexit-Verantwortlichen im Schattenkabinett berief. Als die Partei in den folgenden Jahren hoffnungslos in Brexit-Streitereien versank, tat er sich als einer der glühendsten Fürsprecher eines zweiten Referendums hervor. Beim EU-freundlichen Flügel der Partei, ebenso bei vielen liberalen Zeitungskommentatoren fand er damit Zuspruch. Doch werfen ihm seine Gegner noch heute vor, er habe damit zur bitteren Wahlniederlage Labours im Dezember 2019 beigetragen.

Nichtsdestotrotz galt Keir Starmer schnell als aussichtsreichster Anwärter auf Corbyns Nachfolge, als dieser infolge der Wahlschlappe abtrat. Er präsentierte sich als Einheitskandidat, der die verschiedenen Flügel zusammenbringen wollte; augenscheinlich war er sich dessen bewusst, wie einflussreich die Parteilinke noch immer war. Und so versprach er, die „radikalen Werte“ aus der Corbyn-Zeit beizubehalten. Bald wurde klar, dass es mit diesem Versprechen nicht weit her war. Unverzüglich nach seinem Amtsantritt im April 2020 machte sich Starmer an den großen Kehraus, indem er Corbyn-Anhänger aus dem Schattenkabinett drängte. Er warf sich den Union Jack um, redete konservativen Werten wie Nation und Familie das Wort, sprach sich für eine schärfere Migrationspolitik aus und forderte mehr Geld für Armee wie Polizei.

Keir Starmers Taktik: Opportunismus für den Wahlsieg

Starmers Programm „beläuft sich auf eine Politik der blinden Unterwürfigkeit an etablierte Interessen“, schrieb Biograf Oliver Eagleton kürzlich im New Statesman. „Eine Starmer-Regierung würde Klimaprotestierende ins Gefängnis werfen, (…) sich der Arbeiterbewegung in Bezug auf Lohnerhöhungen und Verstaatlichung entgegenstellen und die Privatisierung des Gesundheitsdiensts NHS unterstützen.“ Starmers Parteigänger hingegen sagen, dass aller Opportunismus nur den Zweck habe, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Die Ausbootung der Parteilinken sei notwendig, um als seriöse Opposition und künftige Regierungspartei gelten zu können – so die Agenda. Ein Blick in die Meinungsumfragen könnte vermuten lassen, dass dieses Kalkül aufgeht, immerhin liegt Labour etwa 20 Prozentpunkte vor den Tories.

Aber selbst Starmers Anhänger räumen ein, dass dieser Vorsprung weit mehr der Inkompetenz der Tories geschuldet ist als etwaigem Starmer-Enthusiasmus. Die schon immer recht bescheidenen Zustimmungswerte des Labour-Chefs sind in den vergangenen Monaten weiter gesunken, er wird als langweilig und wenig charismatisch empfunden. Vielleicht ließe sich das ändern, würde er dieser Tage mal auf einem Streikposten auftauchen.

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February 17, 2023 at 05:16AM