Horst Heller
DIeser Beitrag als PDF
Hier geht’s zum neusten Blogbeitrag

Stelle dir vor, du lebst als erwachsener Sohn noch zu Hause. Du denkst auch nicht an eine eigene Wohnung, weil du mal den Hof übernehmen wirst. Denn du bist der Älteste. Du hast noch einen jüngeren Bruder. Der hat sich schon selbstständig gemacht. Nicht dass du dagegen gewesen wärst, aber dein Vater hat dafür seine Sparbücher geplündert. Aber auch das war für dich in Ordnung. Der ältere erbt Haus und Hof, der jüngere baut sich irgendwo anders eine Existenz auf. Das Geld im Haus deines Vaters ist also in die Karriere des Bruders investiert. Aber da ist ja noch der Hof mit den Tieren. Und das alles wird einmal dir gehören.
„Melde dich“, hatte der Vater dem Bruder noch gesagt. Mit dem vielen Geld des Vaters sollte das selbstverständlich sein. So hatte man Abschied genommen. Doch es kam kein Lebenszeichen. Die Familie fragte sich: Wo wohnt er jetzt? Hat er sich Land gekauft? Ein Haus gebaut?
Und dann kommst du eines späten Nachmittags kurz vor Sonnenuntergang von der Feldarbeit nach Hause und du hörst die Party im Elternhaus schon von Weitem. „Was geht denn da ab?“, denkst du. Aber was dir der Angestellte deines Vaters erzählt, als du dich dem Haus näherst, ist so absurd, dass du es im ersten Moment gar nicht glauben kannst. Der Bruder hat das ganze Geld auf dem Kopf gehauen. Er hat gefeiert, bis im Portemonnaie Ebbe herrschte. Dann hat er versucht, Arbeit zu finden. Aber er kam auf keinen grünen Zweig. Da hat er sich entschlossen, nach Hause zurückzukehren. Und was macht sein Vater? Er schmeißt eine Party, wie es sie in diesem Haus noch nicht gegeben hat.
Das ist die Geschichte vom gütigen Vater und seinem verlorenen Sohn, nacherzählt aus der Perspektive des älteren Sohnes. Seine Verärgerung ist wichtig. Denn nur so wird klar, dass die Güte des Vaters gegenüber dem jüngeren Sohn in den Augen des Älteren ungerechtfertigt und ihm gegenüber unfair ist.
Das Gleichnis beginnt mit einer normalen Erbteilung
Zunächst gab der Vater dem jüngeren der beiden Brüder das Geld, das dieser für seinen Start ins Leben benötigte. Dass er die Chancen nicht nutzte, die ihm das Startkapital bot, ist zwar misslich, aber so etwas gibt es. Dass er niedergeschlagen nach Hause zurückkehrte, ist ebenfalls verständlich. Wohin sonst hätte er sich wenden sollen, wenn nicht an die Familie. Der Vater tritt dem Schlingel nicht in den Hintern. Er ist immerhin sein Sohn. Aber eine Party für den zu veranstalten, der nun abgerissen und mit leeren Taschen vor der Haustür steht, ist nicht nur in den Augen des älteren Bruders unangemessen. Es lässt Maß und Mitte vermissen. Wenigstens hätte der Vater mit dem ersten Trinkspruch warten können, bis auch der Bruder von der Arbeit nach Hause gekommen ist.
Die Geschichte ist ein provokatives Gleichnis
Die Geschichte des gütigen Vaters und seines verlorenen Sohnes ist ein Gleichnis. Jesus entfaltet in Gleichnissen sein Gottesbild. Dieses Gleichnis erzählt aber nicht nur vom Großmut Gottes und seiner Nachsicht gegenüber einem Gefallenen, es ist auch die Geschichte einer ungerechten Zurücksetzung der Frommen. Wir stellen also eine doppelte Frage: Was veranlasst den Vater, seinen jüngeren Sohn nach dessen misslungener Existenzgründung so überaus freundlich aufzunehmen? Und: Ist dieser Vater wirklich ein Bild für Gott?
Um diese beiden Fragen zu beantworten, müssen wir einen Schritt zurückgehen. Dem Gleichnis vom gütigen Vater und seinem verlorenen Sohn gehen zwei weitere Gleichnisse voraus. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf und das Gleichnis von der verlorenen Geldmünze. Vor allem mit ersterem müssen wir uns beschäftigen. Was wird erzählt?
Das Gleichnis vom verlorenen Schaf
Ein Hirte hatte hundert Schafe. Eines Tages war ein Schaf verlorengegangen. Es war nicht mehr da. Es hatte sich verirrt. Es lief immer weiter weg und fand nicht mehr den Weg zurück. Was tat der Hirte? Er rief das verlorene Schaf. Aber es hörte ihn nicht. Da ließ er die ganz Herde allein und suchte überall nach dem einen Schaf, das ihm fehlte. Und als er es endlich fand, hob er es auf seine Schultern und trug es nach Hause. Allen Menschen, denen er begegnete, rief er zu: „Freut euch mit mir! Mein Schaf war verloren. Ich habe es wieder gefunden.“
In Bilderbibeln wird das verlorene Schaf oft als Lämmchen dargestellt, das sich – dumm wie es ist – von der Herde entfernt hat und nun irgendwo allein und hilflos herumirrt. Der Hirte findet es und bringt es zurück. So wird aus diesem Gleichnis eine anrührende Geschichte der Fürsorge. Ich habe kein Problem, wenn es so erzählt wird. Aber das Potential dieser kurzen Geschichte wird damit nicht ausgeschöpft.
Das schwarze Schaf
Was damit gemeint ist, erkennen wir, wenn wir auf die Rahmung dieser Geschichte achten. Der Evangelist Lukas erzählt, dass Jesus gefragt wird, warum er mit Menschen spricht, über die sich die Anständigen täglich ärgern.
Eines Tages kamen Menschen zu Jesus, die anderen Leuten Geld gestohlen hatten. Die Menschen in seiner Nähe schüttelten ihre Köpfe und sagten zueinander: „Schaut, mit welchen Leuten Jesus redet! Jeder weiß, dass das böse Menschen sind. Aber Jesus setzt sich mit ihnen an den Tisch und isst mit ihnen.“
Die Menschen sind empört. Warum kehrt der Prediger nicht in ihren Häusern ein? Jesus antwortet darauf mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf. Es hat sich nicht versehentlich von der Herde entfernt. Es hat wissentlich und willentlich die Herde verlassen. Durch seine eigene Schuld ist es zum schwarzen Schaf geworden. Der Hirte aber will es retten. Dazu aber muss er die Herde vorübergehend alleine lassen.
Die Menschen, mit denen Jesus Tischgemeinschaft hält, müssen ihr leben ändern. Jesus isst und trinkt mit ihnen, um sie zur Umkehr zu bewegen. Dazu allerdings muss er die Einladungen der Angesehenen, Anständigen und Frommen ausschlagen. Das ist zugegeben eine Schieflage, aber die Sorge um die Verlorenen macht es nötig, die Treuen vorübergehend zu vernachlässigen. Im Bild gesprochen: Sie bedürfen derzeit keines Arztes.
Die Freude über die wiedergefundene Geldmünze
War im ersten Gleichnis von einem Mann die Rede, so handelt das zweite Gleichnis von einer Frau. Sie hat Geld verloren und sucht im Haushalt verzweifelt nach ihm. Sie kehrt das Haus, in der Hoffnung, die Münze durch den Klang beim Kehren zu entdecken. Als sie sie gefunden hat, feiert sie das mit ihren Nachbarinnen. Damit ist die Silbermünze – vielleicht auch mehr als sie – verfrühstück. Wie der gütige Vater lässt auch die Frau Maß und Mitte vermissen. So groß ist ihre Freude über das wiedergefundene Geldstück. Und der Evangelist Lukas fügt hinzu: Genauso freuen sich die Engel im Himmel über einen Sünder, der sein Leben ändert.
Die Freude im Himmel über die tätige Reue ist größer als das Wohlgefallen, wenn Menschen Reue nicht nötig haben.
Im Gleichnis vom gütigen Vater und seinem verlorenen Sohn werden die Motive der vorangehenden Gleichnisse zusammengeführt. Der Vater des verlorenen Sohnes kümmert sich wie um sein Problemkind wie der Hirte um sein Problemschaf. So kümmert sich Jesus und die Menschen, die ihr Leben ändern müssten. Der gütige Vater ist zudem eine Metapher für Gott. Wie im seinem Hause Freude herrscht über die Rückkehr des verlorenen Sohnes, so freut sich Gott, wenn Menschen die falschen Lebenswege verlassen und zurückkehren.
So sind alle drei Gleichnisse vor allem Geschichten einer unbändigen Freude. Der Hirte, der das verirrte Schaf wieder gefunden hat, ruft allen zu: „Freut euch mit mir! Mein Schaf war verloren. Ich habe es wieder gefunden.“ Die Frau, die das Geld wieder gefunden hat, gibt es gleich wieder aus und lädt ihre Nachbarinnen ein. Der gütige Vater des verlorenen Sohnes freut sich so sehr, dass die Familie wieder zusammen ist. Der verlorene Sohn ist zurück. Ob der ältere Sohn ins Haus geht und sich mit den anderen freuen möchte, ist ihm überlassen.
Weitere Blogbeiträge auf http://www.horstheller.de
29.10.2022: Benedikt und andere Heilige. Eine evangelisch-religionspädagogische Überlegung
04.03.2023: Die Freiheit der Religionsausübung ist immer auch die Freiheit der anderen. Die christliche Kirche hätte früher von Kaiser Konstantin lernen können
26.11.2023: Die wohltuende Kraft des Rings. Die Wahrheit der Religionen zeigt sich an ihrer Friedfertigkeit
12.05.2024: Wer nie traurig war, weiß nicht, wie es ist, getröstet zu werden. Religionspädagogische Schlüssel zu den Seligpreisungen Jesu.
15.09.2024: Noah found Grace in the Eyes of the Lord. Religionspädagogisches zum Regenbogen
Title: Provokative Freude. Das Gleichnis vom gütigen Vater und seinem verlorenen Sohn
URL: https://horstheller.wordpress.com/2024/11/22/der-verlorene-sohn/
Source: Horst Heller
Source URL: https://horstheller.wordpress.com
Date: November 22, 2024 at 07:55PM
Feedly Board(s): Religion