DOMRADIO.DE: Wofür genau setzt sich das Projekt Heroes ein?
Eldem Kurnaz (Gruppenleiterin beim Projekt HEROES Berlin): Es geht wirklich um die Geschlechtergleichberechtigung. Das ist der Hauptfokus. Wir möchten die Machtgefälle und Privilegien wahrnehmen, aber auch den männlichen Jugendlichen den Raum geben, ihre eigene Betroffenheit wahrzunehmen. Der Druck, den sie oft spüren, bestimmte toxische Männlichkeitsbilder bedienen zu müssen, kommt nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch durch Erziehung, Freundschaften und Medien.
DOMRADIO.DE: Was genau bedeutet toxische Männlichkeit?
Kurnaz: Toxische Männlichkeit bedeutet, dass Männlichkeit nicht nur auf Hartsein, Aggressivsein, Muskelaufbau, Großsein oder ein Frauenflüsterer zu sein reduziert wird. Männlichkeit hat viele Seiten, die in allen Geschlechtern zu finden sind, wenn man tiefer geht.
DOMRADIO.DE: Wie läuft so ein Treffen ab? Sie setzen sich mit den Jugendlichen zusammen, bringen ein Thema mit und sprechen dann darüber?
"Es war auch eine Reaktion auf den Fall Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder ermordet wurde, weil sie nicht den Erwartungen ihrer Familie entsprach."
Kurnaz: Wir haben vorher bestimmte Themen konzipiert, die die Jugendlichen in ihrer Ausbildung unbedingt behandeln sollten. Aber wir möchten auf Augenhöhe arbeiten. Jede Gruppe hat eine andere Dynamik, und wir möchten flexibel darauf eingehen. Wenn es einen medialen Vorfall oder eine persönliche Situation gibt, können die Jugendlichen auch das an diesem Tag mitbringen und an diesem Thema arbeiten. Wir möchten den Jugendlichen den Raum geben, auch individuell für sich bestimmte Themen zu bearbeiten.
DOMRADIO.DE: Die Idee für das Projekt ist entstanden, weil es viele feministische Projekte für Frauen gibt, aber nichts für Männer?
Kurnaz: Die Idee entstand 2006, unterstützt von der World Childhood Foundation von Königin Silvia aus Schweden. Es gab bereits Pilotprojekte in Schweden, die gut bei Jugendlichen ankamen. Es war auch eine Reaktion auf den Fall Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder ermordet wurde, weil sie nicht den Erwartungen ihrer Familie entsprach. Dieser Fall hat die Politik bewegt und viele Faktoren haben zur Entstehung unseres Projekts beigetragen.
DOMRADIO.DE: Was genau ist ein Ehrenmord?
"Der Täter ist oft ein Familienmitglied, das glaubt, die Ehre der Familie wiederherstellen zu müssen."
Kurnaz: Heutzutage sprechen wir viel mehr von Femiziden, weil dieser Begriff viel umfassender ist. 99 Prozent Gewalttaten oder Tötungen von Frauen betreffen diese, weil sie eine Frau sind. Zum sogenannten Ehrenmord: Es gibt leider bis heute keinen besseren Begriff … ein Ehrenmord ist eine Tötung im Namen der "Ehre". Es geht darum, das Ansehen der Familie zu wahren. Der Täter ist oft ein Familienmitglied, das glaubt, die Ehre der Familie wiederherstellen zu müssen, weil eine Frau selbstbestimmt lebt oder ein bestimmtes Verhalten gezeigt hat.
DOMRADIO.DE: Was könnte eine Frau tun, damit die Familie sagt, dass sie in ihrem Verhalten nicht den Vorstellungen entspricht?
Kurnaz: Ein Grund könnte sein, dass eine Frau ihre Sexualität vor der Ehe anders lebt oder ein Gerücht über sie kursiert. Auch wenn sie ihren ehelichen Pflichten nicht nachgeht oder sich nicht unterwirft, wird das vom Umfeld oft negativ gesehen.
DOMRADIO.DE: Was glauben Sie, woher kommt dieses Denken, dass Männer mehr dürfen als Frauen?
Kurnaz: Das hat viele Ursachen. In der Kindheit wird es oft mitgegeben, in der Erziehung, auch in Familien, die sich für aufgeklärt halten. Wenn der Haushalt nicht gerecht aufgeteilt ist oder Frauen mehr als selbstverständlich Haushalt und Arbeit kombinieren müssen, wird diese Ungleichbehandlung schon früh weitergegeben. Medien und andere Männer spielen ebenfalls eine Rolle. Aber auch Frauen tragen diese Erwartungen mit. Vor allem die Vorstellungen von Müttern oder potenziellen Partnerinnen. Zum Beispiel, dass der Mann das Leben finanzieren muss, dass der Mann sie beschützen soll und immer stark sein soll. Von daher ist es ein gesamtgesellschaftliches Thema.
"Sie durchlaufen einen Prozess, in dem sie sich mit ihrer Männlichkeit und Themen wie Sexismus und Erfahrungen von Rassismus auseinandersetzen können."
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, Religion spielt hier auch eine Rolle?
Kurnaz: Religion wird oft als Argument verwendet. Aber bei genauerer Betrachtung sehen wir, dass viele dieser patriarchalen Strukturen nicht unbedingt mit der Religion zu tun haben, sondern mit sozialen Normen und Tabus. Diese werden im Namen der Religion transportiert, haben aber nur zu einem geringen Teil mit Religion zu tun und müssen daher durchbrochen werden. Diese Tabus sind allgegenwärtig und existieren in jeder Gesellschaft und Bildungsschicht. Die gibt es überall.
DOMRADIO.DE: Wie ist der Ablauf des Projekts?
Kurnaz: Zuerst bilden wir die jungen Männer zu Multiplikatoren aus. Sie durchlaufen in einem geschützten Raum einen Prozess, in dem sie sich mit ihrer Männlichkeit und Themen wie Sexismus und Erfahrungen von Rassismus auseinandersetzen können. Wenn sie diese Themen bearbeitet haben, haben sie anderen Jugendlichen, die sich damit nicht beschäftigt haben, einen Vorsprung. Nach etwa einem Jahr kommt nämlich der zweite Bereich und die Jugendlichen nehmen an Workshops in Schulklassen teil, wo sie als Multiplikatoren fungieren. Denn als Multiplikatoren erreichen sie alle Geschlechter. Wir leben auch von der Dynamik und dem Dialog zwischen den Geschlechtern.
DOMRADIO.DE: Das heißt, sie geben ihr Wissen weiter?
"Es geht darum, anzuerkennen, dass die jungen Männer sich mit schwierigen und schmerzhaften Themen auseinandergesetzt haben."
Kurnaz: Ja, sie sollen die Gruppen moderieren, damit alle Gehör finden. Jede Perspektive soll erst einmal angehört werden, um bestehende Denkmuster aufzuweichen und mehr Individualität zu ermöglichen. Auch Verletzlichkeit und Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern sollen sichtbar gemacht werden. Es geht darum, den Druck zu verringern, den Jugendliche verspüren, besonders "weiblich" oder "männlich" zu sein, um als Erwachsene wahrgenommen zu werden. Oft übertreiben sie dabei die Stereotypen. Es ist deshalb nicht verkehrt, wenn sie in dieser Lebensphase solche "großen Brüder" haben, die sie unterstützen.
DOMRADIO.DE: Wie offen sind die Schüler für diese Thematik?
Kurnaz: Eigentlich sehr offen. Natürlich gibt es immer den einen oder anderen, der zu Beginn misstrauisch ist. Aber das sind wirklich nur Einzelfälle. Die meisten Jugendlichen nehmen das Thema sehr dankbar an. Vielen wird in den Workshops bewusst, dass es Themen sind, die sie unterschwellig schon lange mit sich tragen, aber immer dachten, es seien persönliche Schwächen oder Versagen. Durch die Workshops und die Teilnahme der gesamten Gruppe erkennen sie, dass es sich um ein kollektives Problem handelt, das von gesellschaftlichen Strukturen geprägt ist. Es geht nicht nur um die Einzelperson, sondern darum, wie kollektiv wahrgenommen wird, wie jemand zu sein hat.
DOMRADIO.DE: Der Name "Heroes" – was steckt dahinter?
Kurnaz: Es geht nicht darum, Superhelden zu schaffen, die andere retten, sondern darum, die Anerkennung für die jungen Männer zu fördern, die sich mit schwierigen und schmerzhaften Themen auseinandersetzen. Sie sprechen über Privilegien, sind bereit, diese abzulegen und beschäftigen sich mit Themen, die sie verletzlich machen. In einer Gesellschaft, die oft dagegen arbeitet, möchten wir die Arbeit der jungen Männer anerkennen, dass sie heldenhaft nicht mit dem Strom schwimmen.
Das Interview führte Lara Burghardt.
Konzept
HEROES® ist ein feministisches Jungenprojekt, das für Selbstbestimmung und Gleichberechtigung eintritt. Vor allem wendet sich HEROES® gegen Unterdrückung im Namen der Ehre – also gegen Strukturen in Gesellschaft und Familie, die Menschen ein freies Leben verbieten, weil dies angeblich dem Ansehen der Familie, der Community oder des Landes schaden würde.
Title: Religiöse Missverständnisse? / Projekt Heroes kämpft gegen toxische Männlichkeit junger Leute
URL: https://www.domradio.de/artikel/projekt-heroes-kaempft-gegen-toxische-maennlichkeit-junger-leute
Source: DOMRADIO.DE – Der gute Draht nach oben
Source URL: https://www.domradio.de/
Date: May 27, 2025 at 07:09AM
Feedly Board(s): Religion