Rücktritt von Annette Kurschus wegen Vertuschungsvorwürfen: „Die Kirche hat sich auf den polarisierenden Medienzirkus eingelassen und nachgegeben“

SPIEGEL: Macht denn die katholische Kirche irgendetwas besser bei der Aufklärung sexualisierter Gewalt?

Dabrock: Jein. Was die Institutionen bei Missbrauchsaufarbeitung und Prävention betrifft, kann sich die EKD vielleicht etwas von den Katholiken abgucken. Aber was den Umgang der Kirchenoberen mit Vertuschungsvorwürfen betrifft, muss man klar sagen: Eine solche Entschiedenheit, wie sie Frau Kurschus mit ihrem Rücktritt bewiesen hat, habe ich in der katholischen Kirche in Deutschland so nicht erlebt.

SPIEGEL: Was auch daran liegt, dass der Papst einem Rücktrittsgesuch zustimmen muss – was er etwa im Fall des umstrittenen Kölner Kardinals Woelki nicht getan hat.

Dabrock: Für beide christlichen Kirchen gilt, dass sie viel offensiver gegen Missbrauch vorgehen müssen. Sie sollten buchstäblich zu Kreuze kriechen für das, was im Namen Jesu Christi an Schrecklichem geschehen ist. Angesichts der Schwere der Vergehen stehen die Kirchen zu Recht unter Dauerbeobachtung. Aber sie müssen eben auch die rechtlichen Standards beachten. Auch deshalb hat Frau Kurschus sich mit Juristen beraten und erst einmal nichts zu dem Fall veröffentlicht.

SPIEGEL: Das hätte sie anders handhaben können.

Dabrock: Frau Kurschus befand sich in einer extrem schwierigen Situation, in der es keine einfachen Lösungen gab. Sie musste Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte, Aufklärung und Transparenz sowie die Beteiligung der Betroffenen beachten, ohne das institutionelle Gefüge zu gefährden – und all das musste unter mehrfachem Druck balanciert werden. Wer ist da fehlerfrei? Für mich ist Frau Kurschus’ Rede zum Abschied Messlatte und Spiegel für alle anderen, die sich jetzt gegen sie positionieren, aber in Zukunft ebenso verantworten müssen.

SPIEGEL: Die EKD verliert mit Kurschus bereits die zweite Ratsvorsitzende durch einen Rücktritt. Haben Frauen es besonders schwer in der EKD? Oder sind sie nur konsequenter und selbstkritischer?

Dabrock: Ich will hier keine Genderstereotypen bedienen. Aber es fällt auf, dass beide Frauen ihre Rücktritte mit einer Konsequenz und einer Ehrlichkeit begründet haben, die mir größten Respekt abringt. Was mich wirklich irritiert, ist, dass Frau Kurschus am Ende auch noch Selbstgefälligkeit vorgeworfen wurde. Das finde ich grenzwertig. Und ungerecht. Wer das behauptet, sollte sich fragen, ob er genauso viel bereit wäre aufzugeben, wie es Annette Kurschus getan hat.




Title: Rücktritt von Annette Kurschus wegen Vertuschungsvorwürfen: „Die Kirche hat sich auf den polarisierenden Medienzirkus eingelassen und nachgegeben“
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Source: DER SPIEGEL | Online-Nachrichten
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Date: November 25, 2023 at 08:18PM
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