Schule der Zukunft: „Die Basiskompetenzen gewinnen sehr stark an Bedeutung“ – ein Interview zum „Deeper Learning“

Schule der Zukunft: „Die Basiskompetenzen gewinnen sehr stark an Bedeutung“ – ein Interview zum „Deeper Learning“

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HEIDELBERG. Klassen lernen im Gleichschritt und im 45-Minuten-Takt Inhalte, die die Lehrpläne für ihren Jahrgang vorsehen – ist dieses Unterrichtsmodell noch zeitgemäß? Anne Sliwka, Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg, spricht von der „Schule der Industriegesellschaft“ – dem sie ein neues Konzept für die postindustrielle Wissensgesellschaft entgegensetzt, das international als wegweisend gilt: Deeper Learning. Wir sprachen mit ihr über den Ansatz.

Wie lässt sich das Lernen vertiefen? „Deeper Learning“ setzt auf projektorientierte Lenrprozesse. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

News4teachers: Deeper Learning, was ist das, Frau Professorin Sliwka?

Sliwka: Deeper Learning ist ein Oberbegriff, der seit einigen Jahren durch die internationale Bildungslandschaft läuft. Er beschreibt alle Bestrebungen, Lernen im Kontext des 21. Jahrhunderts neu zu denken – im Spannungsfeld zwischen Wissensaneignung und den 21st Century Skills oder Future Skills, im Kontext der digitalisierten Schule, in der der Zugang zu Wissen anders stattfindet als in der Schule der Industriegesellschaft. Also nicht mehr über Schulbücher oder über das Wissensmonopol der Lehrkraft, sondern darüber, dass man auf das globale Internet mit allen Wissensressourcen, die zur Verfügung stehen, zugreifen kann.

News4teachers: Eher konservative Vertreter der Zunft sagen: „Na ja, digital ist schön und gut, aber es muss erst mal die Grundlage gelegt sein, um vernünftig mit den Informationen umgehen zu können, die aus dem Internet kommen. Wir brauchen gerade deshalb tradierte Unterrichts- und Lernformen, um junge Menschen darauf vorzubereiten, um auswählen zu können, welche Informationen valide sind und welche nicht.“ Was würden Sie dem entgegnen?

MINT mal anders

Neue Themen ohne viel Aufwand im Klassenzimmer umsetzen? Das kostenfreie Conrad Whitepaper „MINT mal anders“ bietet konkrete Konzepte. Foto: Conrad Electronic SE

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Sliwka: Grundsätzlich ist da schon was dran, in dem Sinne, dass man wirklich in sehr vielen Teilen der Welt sehen kann, dass die Basiskompetenzen, also auf Englisch würde man sagen Literacy und Numeracy, sehr stark an Bedeutung gewinnen. Ein sicheres Beherrschen der eigenen Muttersprache oder Verkehrssprache des Landes, in dem man lebt und ein breiter Wortschatz in dieser Sprache ist ein ganz bedeutungsvolles Fundament. Und das Gleiche sagt man auch für Numeracy, also für die mathematischen Grundlagen. Ich kann die Wissensressourcen, die zur Verfügung stehen, nicht erschließen, wenn ich nicht über das Fundament in Literacy und Numeracy verfüge.

Deeper Learning sieht keinen Widerspruch zwischen Wissensaneignung und 21st Century Skills, beides wird eingebettet in projektorientierte Lernprozesse. Wir haben ein Modell entwickelt für den deutschsprachigen Raum. Das greift die Stärken dessen auf, was ich in Kanada, Australien und Neuseeland sowie in Singapur gesehen habe. Das ist ein Phasenmodell, das sich so grob aus drei Phasen zusammensetzt. In einer ersten Phase wird ein Wissensfundament gelegt. Das ähnelt noch sehr stark dem Unterricht, wie wir ihn traditionell kennen. Dort kommen auch Phasen der lehrerzentrierten Instruktion vor. Im Englischen sagt man dazu nicht Frontalunterricht, sondern „direct instruction“, also einfach die direkte Instruktion durch die Lehrkraft.

„Am Ende der ersten Phase soll ein stabiles Wissensfundament gelegt sein, das ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler in die zweite Phase übertreten“

Die direkte Instruktion muss aber nicht mehr ausschließlich durch die Lehrkraft in der Klasse stattfinden, sondern kann auch über Expertinnen und Experten stattfinden, die von außen in die Klasse zugeschaltet werden oder auch über Erklärvideos, die den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt werden. Das bietet auch die Möglichkeit, die direkte Instruktion der sogenannten Zone der nächsten Entwicklung von Schülerinnen und Schülern anzupassen, weil ich die Möglichkeit habe, Schülerinnen und Schülern, die schon sehr viel Vorwissen mitbringen, zum Beispiel über Erklärvideos auf höherem Niveau, einen Zugang auf ihrem Level zu ermöglichen.

Oder ich habe die Möglichkeit, diese direkte Instruktion durch die Lehrkraft zu ergänzen durch Erklärvideos. Da hätten wir dann so etwas wie „flipped classroom“, in dem sich Schülerinnen und Schüler einfach den Lehrervortrag noch mal anschauen können.

Am Ende der ersten Phase soll ein stabiles Wissensfundament gelegt sein, das ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler in die zweite Phase übertreten. Wir stellen uns auch Formen des Assessments vor, um das Wissensfundament zu überprüfen, aber nicht mehr den klassischen Test oder die Klassenarbeit, sondern Formate wie ein Concept Mapping. Schülerinnen und Schüler erstellen dabei eine Concept Map und stellen diese vor, halten einen Kurzvortrag oder legen ein Multiple Choice Quiz digital ab, um so eine Art „Wissensführerschein“ abzulegen, der ihnen den Übergang in die nächste Phase ermöglicht.

Denn die Grundannahme ist: Man braucht Vorwissen, um mit diesem Vorwissen mit den 21st Century Skills – also kommunikativ, kollaborativ, kreativ und kritisch – arbeiten zu können. In der zweiten Phase steht dann die Arbeit mit den 21st Century Skills im Vordergrund. Alle Schülerinnen und Schüler haben ein gemeinsames Rahmenthema. Das kann ein fachliches Thema sein wie zum Beispiel „Exponentielles Wachstum“ oder „Essayistisches Schreiben“ – mal Mathe, mal Deutsch. Es kann aber auch ein überfachliches Thema sein oder ein interdisziplinäres Thema, wie zum Beispiel „Klimawandel“ oder „Soziale Ungleichheit“.

News4teachers: Können Sie das konkretisieren? Wie sieht denn dann Unterricht aus?

Sliwka: In Phase zwei ist es so, dass die Schülerinnen und Schüler – ausgehend von dem in Phase eins angeeignetem Wissensfundament – verschiedene Lernpfade beschreiten können. Das Prinzip des „voice and choice“ spielt hier eine große Rolle. Das kommt aus der kanadischen Pädagogik. Voice, die eigene Stimme beim Lernen finden, und Choice, über Lernwege eigene Entscheidungen treffen. Typischerweise arbeiten die Schüler*innen in kleinen Teams zusammen. Wir arbeiten mit Dreier- bis Fünferteams. Diese Teams wählen sich einen der Lernpfade aus. Je nach Alter der Schülerinnen und Schüler sind diese Lernpfade stärker von den Lehrkräften vorbestimmt oder auch offener. Möglich ist auch, dass die Lehrkraft drei oder vier Lernpfade vorbereitet und skizziert, inklusive bestimmter Meilensteine in diesen Lernpfaden. Gleichzeitig sollte man für Schülerinnen und Schüler, die besonders leistungsstark sind oder über besondere Talente verfügen, die Möglichkeit bieten, im Rahmen des gemeinsamen Themas eigene Lernpfade vorzuschlagen.

News4teachers: Das heißt, es ist eine Form von Projektunterricht? Und der Lehrer fungiert als Lernbegleiter, wie es so schön heißt?

Sliwka: Genau. Mit dem Unterschied, dass der Weg vorstrukturiert ist. Deeper Learning lebt von einer sehr starken Strukturierung. Es gibt diese Strukturierung in Phase eins. Diese erste Phase muss durch die Lehrkräfte gut vorbereitet werden. Das ist kein spontaner Projektunterricht oder eine Ad-hoc-Projektwoche. Für mich war der Besuch der Australian Science and Mathematics School in Adelaide ein Schlüsselerlebnis, das ist eine staatliche Schule, die die Provinz Südaustralien gegründet hat. Sie arbeitet auch nach einem Deeper-Learning-Konzept.

„Die Rolle der Lehrkräfte beim Deeper Learning ist anspruchsvoll und komplex. Wir sprechen von Adaptivität, also von adaptiver Expertise“

Dort bereiten die Lehrkräfte im Team diese Deeper-Learning-Sequenzen vor. Nehmen Sie beispielsweise eine Deeper-Learning-Sequenz zum Thema Klimawandel oder Klimakrise. Die Schule würde entscheiden, dass sie das Thema einbaut in ihren Bildungsplan und dann würde sich ein Team von Lehrkräften finden, also ich sage mal, drei, vier Lehrkräfte. Weil das ein interdisziplinäres Thema ist, wären das Lehrkräfte möglicherweise aus der Geographie, Biologie, Mathematik, Geschichte oder Englisch. Die Lehrkräfte würden im Team das Design von dieser Deeper-Learning-Einheit entwickeln.

Man spricht mittlerweile von Design for Learning. Der Begriff des Designs hält Einzug in die Realität der Schulen. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte sich diese drei Phasen überlegen. Sie starten mit Phase eins, bereiten die vor, suchen Medien und Materialien, bilden das Ganze auf einer digitalen Lernplattform ab, strukturieren das auch schon vor, sodass die Schülerinnen und Schüler eine Art vorbereitete digitale Lernumgebung vorfinden.

News4teachers: Müssten das eigentlich zwingend Lehrkräfte vorbereiten? Oder könnten das auch Bildungsverlage zum Beispiel tun?

Sliwka: Aus meiner Sicht könnten das auch Bildungsverlage tun. Der Vorteil, wenn Lehrkräfte das mit vorbereiten ist, dass sie sich den Prozess mehr zu eigen machen.

News4teachers: Ich denke auch an die Kapazitäten. Statt alle Lehrkräfte selber Materialien entwickeln zu lassen, könnte man sich ja auch eine zentrale Bereitstellung zum Beispiel in einer Bibliothek vorstellen, oder?

Sliwka: Absolut, ja. Ich denke, dass es Sinn machen würde, dass man zum Beispiel die verfügbaren Bildungsmedien der öffentlich-rechtlichen Sender stärker zusammenführt. Das könnte auch der Staat zum Beispiel ganz anders machen als bisher. Natürlich könnte man das bündeln und thematisch ganz anders vorstrukturieren, so wie das Estland zum Beispiel macht. Die haben dort eine nationale Bildungsplattform, auf der die Lernmedien auch schon thematisch vorsortiert sind. Das erleichtert die Arbeit von Lehrkräften.

News4teachers: Wie verändert sich beim Deeper Learning die Leistungsbewertung?

Sliwka: Die Idee beim Deeper Learning ist, dass die 21st Century Skills schon in den Assessments zum Tragen kommen. Wir knüpfen sehr stark an die internationale Bewegung zu Authentic Assessment an. Das ist eine Entwicklung der letzten zehn, 15 Jahre. Da hat sich eine weltweite Bewegung entwickelt, die versucht, Prüfungsformate authentischer zu gestalten. Also nicht die Klassenarbeit, in der alle gleichzeitig im gleichen Tempo unbedingt ein und dasselbe Prüfungsformat absolvieren, sondern Prüfungsformate, die näher an der Lebens- und Arbeitswelt sind.

In Phase zwei arbeiten die Schülerinnen und Schüler ja projektorientiert und in Teams an ihren jeweiligen Lernpfaden. In Phase drei mündet  diese Arbeit in eine authentische Leistung. Wir haben angefangen, eine Liste zu erstellen mit über hundert verschiedenen Leistungsformen – beispielsweise Podcast aufnehmen, Blogs gestalten, eine Ausstellung gestalten, einen Marktstand organisieren, an dem man was verkauft oder einen Markt organisieren, ein Buch schreiben, einen Film drehen, einen Garten anlegen, einen Tanz aufführen.

„Sie können Deeper Learning aber erst einsetzen, wenn die Schüler*innen Basiskompetenzen auf Mindeststandard oder noch besser Regelstandard haben.“

Ich habe in einer kanadischen Schule eine Schüler*innengruppe erlebt, die haben sich zusammen mit anderen Gruppen mit dem Thema „Soziale Ungleichheit“ beschäftigt. Sie hatten die Möglichkeit, unter verschiedenen authentischen Prüfungsformen zu wählen. Eine Gruppe von Schüler*innen hat das Thema soziale Ungleichheit dann in einem Tanz aufgeführt. Eines von den vier „K“ bedeutet ja Kreativität, also eine kreative Leistungsform, die aber gleichzeitig kognitiv ist, weil ein komplexes Thema wie soziale Ungleichheit in Form einer Choreografie abgebildet wird.

Die Leistung am Ende von Phase drei steht auch nicht für sich, sondern die Schüler*innen haben eine Art Kolloquium absolviert, in dem sie ihren Tanz den Lehrkräften oder dem Publikum, erklärt haben.

News4teachers: Wie stellt man denn sicher, dass sich alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen beteiligen?

Sliwka: Die Rolle der Lehrkräfte beim Deeper Learning ist anspruchsvoll und komplex. Wir sprechen von Adaptivität, also von adaptiver Expertise. Adaptive Expertise bedingt, dass Lehrkräfte zum Beispiel mit einem diagnostischen Blick die Schülerinnen und Schüler in den Phasen zwei und drei begleiten und auch beraten.

Im Englischen sagt man „Scaffolding“, was wörtlich heißt „Gerüste bauen“. Wenn ich diagnostiziere, dass jemand im Team sich nicht gut einbringt, kann ich daraus beim nächsten Mal Schlussfolgerungen ziehen und Teams anders zusammenstellen oder andere Hilfestellungen geben.

Im Team zu arbeiten, ist Teil des Lernprozesses, denn es geht um die 21st Century Skills, und Collaboration und Communication sind neben Creativity (und Critical Thinking zwei weitere der vier 21st Century Skills. Es wird zum Lerninhalt zu lernen, wie man mit anderen zusammenarbeitet.

Sie können Deeper Learning aber erst einsetzen, wenn die Schüler*innen Basiskompetenzen auf Mindeststandard oder noch besser Regelstandard haben. Deshalb sehe ich Deeper Learning eher in Sekundarstufe eins und zwei.

News4teachers: Gibt es denn schon Schulen in Deutschland, die das Konzept umsetzen?

Sliwka: Ja, wir haben zwei Netzwerke für Deeper Learning, eins gefördert von der Robert Bosch Stiftung mit Schulen in Baden-Württemberg, und dann haben wir ein bundesweites Netzwerk von der Telekom Stiftung unterstützt mit Schulen bundesweit. Das sind insgesamt 26 Schulen. Es ist also noch eine relativ kleine Gruppe, die das umsetzt. Ich bekomme aber immer wieder Mails und Anfragen auch von einzelnen Lehrkräften und Lehrkräfteteams, die sich für das Konzept interessieren und jetzt einfach loslegen. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Deutsch Skandinavische Schule: „Uns ist es wichtig, dass unsere Schüler die treibende Kraft sind“

 

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September 21, 2022 at 12:04PM