Schulsystem in der Krise: Geht der Leistungsanspruch verloren? „Die Schüler erleben, dass sie mit weniger durchkommen“

MAINZ. Lesekompetenz, Mathematik und Motivation – die jüngste PISA-Studie zeigt erschreckende Defizite im deutschen Schulsystem auf. In der Sendung „Markus Lanz“ diskutierten Expertinnen und Experten über Ursachen, strukturelle Herausforderungen und mögliche Lösungen. Während alarmierende Zahlen aus Studien präsentiert wurden, blieb die Frage nach einem grundsätzlichen Kurswechsel im Bildungssystem zentral.

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Die Diskussion über den Zustand des deutschen Bildungssystems stand im Mittelpunkt der vorletzten Ausgabe der Talkshow „Markus Lanz“ im Jahr 2024. Auslöser war die PISA-Studie 2022, deren Ergebnisse im Juni 2024 veröffentlicht wurden. Diese zeichnen ein besorgniserregendes Bild: Ein Viertel der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler verfehlt die Mindestanforderungen im Lesen, und in Mathematik trifft dies sogar auf drei von zehn zu.

Bildungsforscher Prof. Olaf Köller, Co-Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz und geschäftsführender Direktor des IPN – Leibniz-Institut für die Didaktik der Naturwissenschaften und Mathematik, stellte fest, dass die Ergebnisse einem durchschnittlichen Lernfortschritt eines ganzen Schuljahres entsprechen, das verloren gegangen ist. Moderator Markus Lanz sprach in diesem Zusammenhang von einem „Armutszeugnis“ für das Hochindustrieland Deutschland.

„Wenn die Kinder nichts anderes können als wischen, wird mir echt schlecht“

Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten und Bestseller-Autorin („Wer schützt unsere Kinder“), brachte in der Sendung aktuelle Studienergebnisse ein. Laut der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts zeigt ein Fünftel aller Kinder psychologische Auffälligkeiten. Die COPSY-Studie ergab, dass 71 Prozent der Sieben- bis 17-Jährigen sich einsam fühlen, 21 Prozent von geminderter Lebensqualität berichten und 30 Prozent belastende Inhalte in sozialen Medien sehen. Weitere Zahlen aus der ICIL-Studie ließen Müller resigniert feststellen, dass 40 Prozent der Achtklässler kaum digitale Kompetenzen besitzen: „Wenn die Kinder nichts anderes können als wischen, wird mir echt schlecht.“

Bildungsforscher Köller erinnerte daran, dass die Defizite nicht neu sind. Bereits im Jahr 2000 habe der sogenannte PISA-Schock Maßnahmen ausgelöst. Doch auf die veränderte Schülerschaft – etwa einen höheren Anteil von Kindern aus armutsgefährdeten Familien oder solchen mit anderer Muttersprache als Deutsch – sei nicht ausreichend reagiert worden. „Wir haben seit zehn Jahren versäumt, uns um die zu kümmern, die es besonders schwer im System haben“, so Köller. Das Startchancen-Programm der Bundesregierung, das sozial benachteiligte Schulen stärken soll, sieht er als richtigen Schritt, mahnte jedoch Geduld an: „Schulpsychologen und Sozialarbeiter wachsen nicht auf Bäumen.“

Dazu komme: Schule sei auch dazu da, zu Dingen zu motivieren, die keinen Spaß machen. Doch dieser Anspruch an Bildung sei verloren gegangen. Köller befand: „Wenn wir höhere Löhne bei weniger Arbeit fordern, damit die Leute sich die Freizeit finanzieren können und nicht etwa mehr Anstrengung honoriert wird, dann ist das ein gesellschaftliches Phänomen, was wir eben auch in Schulen beobachten.“

Anstrengung scheine nicht mehr belohnt zu werden: „Die Latte legen wir viel zu tief, dass man nicht mehr drunter durchlaufen kann. Die Schülerinnen und Schüler erleben, dass sie mit weniger durchkommen.“ Daher müsse man sich nicht wundern, wenn die Motivation in den Klassenräumen gesunken sei. 2009 hätten deutsche Gymnasiasten noch – gegenüber der PISA-Studie 2022 – einen Leistungsvorsprung von „ungefähr anderthalb Schuljahren“ gezeigt. Köller verglich: „Wofür ein Gymnasiast 2009 eine Vier bekommen hat, bekommt er heute eine Zwei. Das kann nur mit Absenkung des Anspruchsniveaus zu tun haben.“

Steffen Sibler, Grundschulleiter in Berlin-Kreuzberg, betonte die Bedeutung von Kontinuität: „Wir bauen auf, stellen tolle Leute ein, starten tolle Projekte – und die müssen mittel- und langfristig erhalten bleiben.“ In diesem Zusammenhang zitierte er zustimmend Köllers Forderung nach mehr finanziellen Mitteln für das Startchancen-Programm. Gerade benachteiligte Kinder und Jugendliche gelte es, verstärkt in den Blick zu nehmen. Der Schulleiter stellte bei seinen Schülerinnen und Schüler fest: „Die waren noch nie in einem Park, der zwei U-Bahn-Stationen entfernt ist. Die waren noch nie im Zoo. Die waren noch nie auf dem Fernsehturm, verstehen gar nicht diese Vogelperspektive.“

Ein kontroverser Punkt der Diskussion war die Rolle sozialer Medien im Bildungssystem. Moderator Lanz verwies auf Australien, wo soziale Medien für Unter-16-Jährige verboten werden sollen, und wunderte sich, warum es in Deutschland keine ähnliche Debatte gebe. „Wir haben die Debatte, aber unter dem Radar“, widersprach Silke Müller und ergänzte, dass in einigen Bundesländern immerhin Handyverbote in Schulen diskutiert würden. Bildungsforscher Köller präzisierte: „Nicht Social Media, sondern die Medienerziehung insgesamt ist Aufgabe der Schule.“

Bob Blume, Gymnasiallehrer und Podcaster, ging die Debatte hingegen nicht weit genug. Er verwies auf gravierende strukturelle Probleme: „Wir haben 50.000 SchülerInnen im Jahr, die die Schule ohne Abschluss verlassen, 85.000 fehlende Lehrkräfte, zerfallende Schulgebäude und einen Investitionsstau von 75 Milliarden Euro.“ Er kritisierte, dass die grundlegende Frage, wie Bildung in Deutschland gestaltet werden solle, nicht gestellt werde.

Blume plädierte dafür, dass sich Lehrkräfte für zwei Wochen bei TikTok anmelden sollten, um die Lebenswelten der Schüler wirklich zu verstehen: „Dann muss man sowohl merken, wie dieser ungeheure Algorithmus einen reinzieht, aber man kann auch (…) bemerken, dass man plötzlich Inhalte bekommt, die durchaus nicht nur unterhaltsam, sondern auch sehr informativ sind.“

In der Schlussrunde wurde deutlich, dass die Herausforderungen des Bildungssystems eng mit gesellschaftlichen Problemen verknüpft sind. Olaf Köller warnte vor einer Überforderung der Schulen, während Silke Müller auf die gemeinsame Verantwortung aller Akteure hinwies: „Elternhäuser, Schule, Politik und Medien müssen sich ihrer Rolle bewusst werden.“ News4teachers

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Date: December 19, 2024 at 11:37AM
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