Sterbehilfe-Debatte: Tür zum Notausgang – ein persönliches Plädoyer
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Anmerkung: Der Text umkreist die Themen Suizid und Hilfe zur Selbsttötung und schildert persönliche Erlebnisse von Betroffenen und Angehörigen. Falls Sie diese Themen belasten, sollten Sie den Artikel nicht oder nicht alleine lesen. Befinden Sie sich in einer scheinbar aussichtslosen Situation? Die Telefonseelsorge erreichen Sie unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222. Hier erreichen Sie den Chat der Telefonseelsorge.
»Der Freitod ist ein Privileg des Humanen«
Jean Améry, Schriftsteller und Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus
Im Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe und urteilte, sowohl die freiverantwortliche Selbsttötung wie auch die Hilfe dazu gehörten zu den Grundrechten. Es war ein epochaler Richterspruch. Wie Medizin und Gesellschaft mit dem Lebensende umgehen, beschäftigt mich seit vielen Jahren, ich habe oft darüber berichtet. Vier Monate nach dem Urteil führte ich für den SPIEGEL ein Interview mit dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio, der sich seit Langem als liberale Stimme in Debatten über selbstbestimmtes Sterben einmischt. Borasio plädierte für ein Gesetz, demzufolge Hilfe beim Suizid nur von Ärztinnen und Ärzten geleistet werden sollte, als Kassenleistung. Die Zahl derjenigen, die in Deutschland auf diese Weise aus dem Leben gehen wollten, schätzte er mit Blick auf Zahlen im Ausland auf »8000 bis 10.000 pro Jahr – nicht sofort, aber vielleicht in ein paar Jahren«. Das Interview trug die Überschrift: »Suizid auf Rezept«.
»Seit mehr als zwei Jahren befasse ich mich damit, wie ich mein Leben beenden kann.«
Bernadette Kaminski
Kurz darauf erhielt ich eine E-Mail: Bernadette Kaminski, zu der Zeit 52 Jahre alt, verheiratet, drei erwachsene Söhne, schrieb:
»Sehr geehrte Frau Lakotta,
das Gespräch mit dem Palliativmediziner lässt mich ratlos. Ich befasse mich schon seit mehr als zwei Jahren damit, wie ich mein Leben auf eine würdige Art beenden kann. Aber Sterbehilfe ist auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Tabu. Mein Hausarzt möchte sich mit solchen Fragen gar nicht auseinandersetzen, offenbar ist ihm das Thema zuwider. Andere Ärzte haben mich ebenfalls abgewiesen…«
Seit mehr als 20 Jahren, schrieb Bernadette Kaminski weiter, leide sie unter einem Beckenschmerzsyndrom. Eine Operation vor zwei Jahren habe alles noch schlimmer gemacht. Seither habe sie die Kontrolle über bestimmte Körperfunktionen verloren. Sport, Reisen und vieles andere sei ihr nicht mehr möglich, zunehmend sei sie ans Haus gefesselt. An ihrer Krankheit werde sie nicht sterben, aber leben könne sie damit auch nicht.
Der Wohn-Frust
Erst stiegen die Mieten, dann die Kaufpreise, nun die Zins- und Energiekosten. Der Markt für Immobilien ist außer Kontrolle geraten, auch die Hilfsprogramme der Bundesregierung werden daran wenig ändern. Es tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe, wenn das Wohnen unbezahlbar wird.
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Beim Sterbehilfeverein Dignitas sei sie ausgetreten, dort sei man mit Anfragen überfordert gewesen, auch erschienen ihr die Kosten für die Suizidhilfe, bis zu 10.500 Schweizer Franken für einen Ausländer, »unverhältnismäßig hoch«. Erfolglos habe sie versucht, sich im Internet eine Waffe oder ein todbringendes Mittel zu besorgen.
»…So bleibt mir am Ende wohl nichts anderes übrig, als mich z.B. vor einen Zug zu werfen. Nur empfinde ich das als würdelos. Ich möchte auch andere wie den Zugführer nicht mit hineinziehen. Solange das Thema so tabuisiert wird, vor allem von der Politik, wird sich wohl nichts ändern.«
Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als 9000 Menschen das Leben. Die meisten von ihnen, Schätzungen zufolge um die 90 Prozent, tun das spontan, in einer Lebenskrise, weil sie ihren Job verloren haben oder aus Liebeskummer. Sehr viele auch unter dem Einfluss einer psychischen Erkrankung, wie der Fußballtorwart Robert Enke, der unter Depressionen litt. Ich selbst habe vor zwei Jahren einen Freund auf diese Weise verloren. Ein Mensch, der sich in einer akuten seelischen Krise tötet, handelt sehr wahrscheinlich nicht freiverantwortlich. Wer bei einem solchen Suizid hilft oder ihn fördert, riskierte schon immer eine Freiheitsstrafe. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ändert daran nichts.
Es ging bei diesem Verfahren um die anderen, um eine Minderheit, um Betroffene, deren Leiden nicht zu beheben ist – Leiden an einer tödlichen Krankheit, am eigenen Verfall oder an dem Verlust dessen, was sie selbst als Lebenssinn oder Würde empfinden. Es ging um Menschen, die ihre Entscheidung bewusst, gut informiert und von langer Hand treffen. Es ging um Menschen wie Bernadette Kaminski.
Ihnen dürfe der Staat nicht die Möglichkeit nehmen, sich von Dritten beim Suizid helfen zu lassen, sagten die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter. Genau das aber war die faktische Folge von Paragraf 217 des Strafgesetzbuches gewesen, der seit 2015 die geschäftsmäßige Hilfe beim Suizid unter Strafe gestellt hatte – wobei »geschäftsmäßig« nicht bedeutet, dass sich jemand an dieser Dienstleistung bereichert, sondern dass er wiederholt Hilfe beim Suizid leistet. Dagegen hatten sowohl Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten als auch Vertreter von Sterbehilfeorganisationen Verfassungsbeschwerde erhoben – mit Erfolg.
Was bedeutet es, wenn der Weg zur Hilfe versperrt wird?
Jetzt debattieren Parlamentarierinnen und Parlamentarier wieder über Wartefristen, Pflichtberatungen und psychiatrische Gutachten für Sterbewillige, über Werbeverbote und neue Strafvorschriften für die Helfer. Aber was bedeutet es eigentlich für Menschen, die freiverantwortlich ihr Leben beenden wollen und für deren Angehörige, wenn ihnen der Zugang zur Hilfe bei diesem letzten Schritt versperrt wird?
Ich bitte Bernadette Kaminski um ein Gespräch. Sie sagt, zuvor wolle sie noch eine Operation abwarten, ihre letzte Hoffnung. Ein halbes Jahr später meldet sie sich: Es gehe ihr nicht besser, ihr Entschluss stehe fest.
»Manchmal denke ich, ich hätte lieber Krebs. Dann wüsste ich: Jetzt geht’s bald zu Ende. So nimmt mir das keiner aus der Hand.«
Bernadette Kaminski
»Seit drei Jahren denke ich jeden Tag daran, mir das Leben zu nehmen«, sagt sie bei unserem Telefonat. »Mein Mann versucht immer noch, mir Hoffnung zu geben. Er sagt mir immer, wie lieb er mich hat. Aber ich bin nicht mehr bereit, das auszuhalten. Manchmal denke ich, ich hätte lieber Krebs. Dann wüsste ich: Jetzt geht’s bald zu Ende. So nimmt mir das keiner aus der Hand. Letztendlich werde ich es selbst tun müssen.«
Frau Kaminski schildert mir ihr Leiden, dessen Symptome sie mit Diskretion behandelt wissen möchte. Ich frage sie, wie konkret ihre Gedanken sind.
»Er hat den Jagdschein gemacht, weil ich das von ihm wollte.«
»Ich habe oft gedacht: Ertrinken. Aber ich kann sehr gut schwimmen. Mich erhängen? Das ist für meine Familie nicht schön. Ich hab’ mir eine Brücke angeschaut, aber ich will nicht, dass mich irgendjemand so zerschmettert findet. An Medikamente heranzukommen, ist schwierig. Ich habe zu meinem Hausarzt gesagt: Möchten Sie lieber, dass ich mich vor den Zug schmeiße? Da hat er mich angeguckt, als ob er noch nie so ein Gespräch geführt hätte. Er fing an: Ich könnte Ihnen bei Ihren Depressionen helfen. Ich habe aber gar keine Depressionen. Es sind die körperlichen Schäden, mit denen ich nicht mehr leben möchte.
Mein Mann ist der Einzige, mit dem ich das bespreche. Es ist schlimm für ihn, das immer mitzukriegen. Die letzten Operationen habe ich eigentlich nur ihm zuliebe noch gemacht. Ich habe zu ihm gesagt: Ich mache das nur, wenn du den Jagdschein machst. Dann kannst du legal eine Waffe besorgen, und ich kann mich selber abknallen. Verrückt, oder? Aber daran sehen Sie, in welcher Situation wir sind. Er hat den Jagdschein gemacht, weil ich das von ihm wollte. Und wissen Sie was? Er hatte Angst, bei der Prüfung zu versagen. Wegen mir! Ich glaube, ich werde mir ins Herz schießen.«
Bernadette Kaminskis Verzweiflung überwältigt mich. Ich unterdrücke meinen Impuls, ihr irgendetwas zu raten – zu einem anderen Arzt zu gehen oder zu einem anderen Sterbehilfeverein, sich wenigstens nicht zu erschießen oder zumindest nicht gleich. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich fühle mich überfordert, noch dazu am Telefon.
»…die traurige Nachricht, dass meine Frau ihrem Leidensweg freiwillig ein Ende gesetzt hat.«
Ich sage: »Bitte, vielleicht gibt es doch einen anderen Weg.« Wir verabreden uns für ein persönliches Treffen, aber das verschiebt Bernadette Kaminski mehrmals. Im März 2021 schreibt mir Carsten Kaminski: »Leider muss ich Ihnen die traurige Nachricht übermitteln, dass meine Frau ihrem Leidensweg freiwillig ein Ende gesetzt hat.« Hilfe habe sie keine bekommen. »Mehr als ein Jahr nach dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts hätten wir uns mehr Unterstützung als Widerstand gewünscht.«
In Deutschland gibt es in Umfragen stets stabile Mehrheiten für den ärztlich assistierten Suizid. Zuletzt etwa bei der Ausstrahlung des Fernsehschauspiels »Gott« von Ferdinand von Schirach: Darin tritt der 78 Jahre alte Richard Gärtner mit der Bitte um Suizidhilfe vor eine fiktive Ethikkommission. Er ist nach einer symbiotisch geführten Ehe verwitwet, das Alter macht ihm zu schaffen, er möchte nicht mehr leben. Experten tragen ihre Argumente dafür und dagegen vor, das Urteil fällten die Zuschauer, per TED-Umfrage: 71 Prozent waren dafür, dass Gärtner ein tödliches Medikament erhalten dürfe.
In Karlsruhe fiel das Votum ähnlich aus. Es stehe niemandem zu, auch nicht dem Staat, die Gründe zu bewerten, aus denen ein Mensch sich das Leben nehmen wolle, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle: »Wir mögen seinen Entschluss bedauern und dürfen alles versuchen, um ihn umzustimmen. Wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren.«
Aber was soll daraus in der Praxis folgen?
In den Niederlanden gilt Suizidhilfe als normales ärztliches Handeln
In den Niederlanden gilt Suizidhilfe gut 20 Jahre nach der Legalisierung als normales ärztliches Handeln. In Deutschland war die Mitwirkung bis vor anderthalb Jahren von fast allen Landesärztekammern standesrechtlich untersagt. Fragt man bei Sterbehilfeorganisationen nach, so ist es für sie schwer, Medizinerinnen und Mediziner zu finden, die dazu bereit sind. Das Tabu, bei einer Selbsttötung zu helfen, sitzt bei der Ärzteschaft tief.
Einer, der das verteidigt, ist Reinhard Lindner. Auch er war in Karlsruhe dabei, das Gericht hatte ihn als Experten angehört. Mehr als 20 Jahre arbeitete der Psychiater und Neurologe psychotherapeutisch mit akut und chronisch Suizidgefährdeten. Lindner ist Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, seine Stimme hat Gewicht, wenn es nun wieder darum geht, wie der konkrete Zugang zu Hilfen beim Suizid aussehen könnte.
Ein gemütliches Behandlungszimmer in einer Hamburger Altbauwohnung, im Stövchen auf dem Schreibtisch brennt ein Teelicht.
Anstatt Suizidberatungsstellen zu schaffen, solle man die Suizidprävention ausbauen, fordert Lindner. Deren Einrichtungen arbeiteten ergebnisoffen. Suizidprävention sei »das Angebot einer therapeutischen Beziehung, die dazu führt, dass jemand seine inneren Spielräume vergrößert, auch den Spielraum, sich selbst auszuhalten«, sagt Lindner. »Aber die Option des Suizids muss man akzeptieren, wenn man mit suizidalen Menschen arbeitet.«
Was das bedeute, habe auch Andreas Voßkuhle von ihm wissen wollen. Der habe ihn direkt gefragt: Was würden Sie machen, wenn ich zu Ihnen komme und sage: Ich will mich umbringen? »Ich habe gesagt: ›Wenn der Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts zu mir kommt, würde ich ihn nach seinem Leiden fragen. Was ist das Schlimme?‹« Das Gespräch in Gang halten, sagt Lindner, das sei seine Aufgabe als Therapeut.
Lindner sagt, wahrscheinlich gebe es den freiverantwortlichen Suizid, aber er kenne keinen. Alle, die sich Hilfe dabei wünschten, habe er als sehr belastet erlebt. »Meine Erfahrung ist: Wenn man wirklich miteinander spricht, wenn man anerkennt, dass jemand in einer extremen Notlage ist und keinerlei Hilfe sieht, dann entstehen häufig neue Dynamiken.«
Und wenn nicht?
»Ich kann nur anbieten, unbedingt dabeizubleiben – aber dem anderen die Freiheit lassen, zu gehen und sich zu suizidieren.«
Reinhard Lindner, Psychotherapeut
Ein Mann habe sich beispielsweise von ihm gewünscht, dass er ihm ein Attest schreibe für Dignitas in der Schweiz. »Als ich sagte: Lassen Sie uns lieber darüber nachdenken, was die Hintergründe sind, sagte er: Ich will hier nicht mit Ihnen nachdenken. Und dann ist er weggeblieben.«
Hat er schon mal ein tödliches Mittel verschrieben oder an einen Kollegen verwiesen, der dazu bereit ist? – »Nein«, sagt Lindner.
Würde er es tun?
»Weiß ich nicht. In meiner Funktion als Psychotherapeut ist das keine Option. Ich kann nur anbieten, unbedingt dabeizubleiben – aber dem anderen die Freiheit lassen, zu gehen und sich zu suizidieren.«
Die Freiheit, von einer Brücke zu springen oder sich zu erschießen?
Für Sterbemöglichkeiten sind andere zuständig
Lindner findet die Frage polemisch, er will vor allem Lebensmöglichkeiten eröffnen helfen, für Sterbemöglichkeiten seien andere zuständig: »Es gibt Kollegen, die sich dazu bereit erklären«, sagt er. »Vielleicht muss man dafür sorgen, dass sie leichter aufzufinden sind. Es gibt ja auch Vereine, die ihren Mitgliedern genaue Handreichungen geben, wie man sich töten kann.«
Fünf Monate nach dem Tod seiner Frau besuche ich Carsten Kaminski. Ein Haus auf dem Land, bäuerliche Gegend, protestantisch. Kaminski ist 57 Jahre alt, als Geologe arbeitet er für eine Ingenieurbaufirma. Alles hier erinnert an seine Frau: die von ihr bemalten Möbel, das Klavier, ihr Motorrad in der Garage, eine Fotogalerie in der Diele. Bernadette, drahtig, sportlich, strahlend, bei einer Klettertour, mit den Kindern beim Paddeln, als Klippenspringerin in Frankreich, beim Skifahren. Nur aus den letzten drei Jahren, in denen die Krankheit überhandnahm, gibt es keine Bilder mehr. Wir setzen uns in den Garten, »auch ein Steckenpferd meiner Frau«, sagt Kaminski – und weint.
Jahrelang sei er mit ihr von einem Arzt zum anderen gelaufen – Urologen, Neurologen, Psychiater, Psychosomatiker, Psychotherapeuten. Bei einem der letzten Eingriffe fand man einen Faden, den ein Chirurg durch einen großen Beckennerv gezogen hatte. Ein schlimmer Behandlungsfehler mit irreparablen Folgen, Carsten Kaminski klagt gegen den Arzt.
Wie hat sich seine Frau das Leben genommen?
»Nicht, dass hinterher jemand denkt, ich hätte sie umgebracht.«
»Als ich den Jagdschein hatte, habe ich einen Revolver gekauft, nur zu dem Zweck, dass sie sich damit erschießen kann. Ihre Idee war: Wir fahren an die See, haben noch ein paar schöne Tage, und dann setzt sie sich in die Dünen unterm Sternenhimmel und erschießt sich. Ich sollte nicht dabei sein, nicht, dass hinterher jemand denkt, ich hätte sie umgebracht.
Aber das konnte ich ihr ausreden. Auch weil ich gesagt habe, ich will in deiner schwersten Stunde bei dir bleiben. Weil ihr sonst niemand geholfen hat, stand für mich außer Frage, dass ich ihr helfe, obwohl ich nie wollte, dass sie sich das Leben nimmt. So sind wir dann wieder auf die Medikamente gekommen.
Sie hatte unseren Hausarzt gefragt, ob er ihr was verschreibt, aber der wollte nicht mal mit ihr darüber reden. Sie ist dann nicht mehr hingegangen. Ich habe bei ihm gesessen und geheult. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass er unsere letzte Hoffnung ist. Sonst würde meine Frau sich vor den Zug schmeißen. Ob ihm das lieber wäre?
»Sie hat gesagt: Ich will nicht aufwachen mit einem Gehirnschaden.«
Am Ende hat er ihr ein starkes Schmerzmittel verschrieben, eine 50er-Packung, das könnte sie probieren gegen die Beschwerden. Er wusste aber, wozu sie das brauchte. Ich hab’ ihn ja gefragt, ob er sicher ist, dass das reicht, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Er war sich ziemlich sicher. Aber meine Frau hatte sich ein Buch bei Amazon besorgt, da stand es anders drin. Sie hat gesagt: Ich will nicht aufwachen mit einem Gehirnschaden. Also hat er ihr noch eine Packung aufgeschrieben.«
Er selbst habe sich dabei gedemütigt gefühlt, so als täte er etwas Illegales. Dabei sei der Arzt nicht ohne Mitgefühl gewesen. »Sein Argument war: Wenn er meiner Frau etwas verschreibt, mit dem Ziel, ihr Leben zu beenden, würde die Ärztekammer ihm die Kassenzulassung entziehen, und er könnte die Praxis dichtmachen.«
Carsten Kaminski holt einen Brief hervor, den seine Frau für die Polizei schrieb, um ihren Hausarzt, Dr. B., zu schützen: »Ich, Bernadette Kaminski, habe mir die Medikamente unter einem Vorwand verschreiben lassen und habe sie heute genommen in der Absicht, mir das Leben zu nehmen…«
In den Nachrichten hörte er, dass inzwischen der Deutsche Ärztetag das Verbot der Suizidhilfe aus der Musterberufsordnung gestrichen hat. Jetzt heißt es von der Bundesärtzekammer, jeder Arzt müsse selbst entscheiden, ob er die Hilfe dazu »mit seinem Gewissen und seinem ärztlichen Selbstverständnis vereinbaren« könne.
Von Dr. B. kommt keine Antwort
Ich würde Dr. B. gern fragen, wie er zu Bernadette Kaminskis Suizid steht – und zum Wegfall des Verbots. Ich schreibe ihm mehrmals und sichere ihm Anonymität zu. Aber von Dr. B. kommt nicht einmal eine Absage, es kommt gar keine Antwort.
Eine, die sich aus der Deckung wagte, ist Susanne Vogel. Bis vor Kurzem leitete sie die Palliativstation in Neumarkt in der Oberpfalz, sie hatte sich der Verfassungsbeschwerde angeschlossen, weil sie sich mit einem Bein im Gefängnis sah, wenn sie ihre Patienten angemessen behandelte. Ihr Berufsverband sei darüber nicht erfreut gewesen, aber von Kollegen habe sie viel Respekt erlebt: »Wenn wir jetzt Patienten mit einer Schmerzpumpe nach Hause entlassen, und einer will alles auf einmal nehmen und tot sein, dann darf er das, und ich kann dafür nicht belangt werden. Ich dürfte ihm sogar dabei helfen.«
Nur: Wie viel von einem Opiat muss man einem Menschen geben, damit er sicher tot ist? »Ganz ehrlich: Ich hab’ keine Ahnung«, sagt Vogel. »Ärzte lernen das ja nicht im Studium.«
Aber weil Vogels Name in der Zeitung stand, kamen plötzlich Menschen zu ihr, teils von weither, die gar keine Palliativpatienten waren, weil sie hofften, dass sie ihnen beim Suizid helfen würde – ein Missverständnis.
Einmal saß ein altes Ehepaar vor ihr, die Frau litt an einem Tumor, fortgeschritten, der Mann wollte mit ihr sterben. »Das darf man doch jetzt«, habe er gesagt, und von ihr ein Rezept verlangt. Vogel hatte die beiden nie zuvor gesehen. Sie erzählten ihr, dass sie es bereits versucht hatten: »Sie haben sich die Pulsadern aufgeschnitten, das hat nicht geklappt. Dann haben sie sich Insulin gespritzt und ihrem Sohn eine WhatsApp zum Abschied geschrieben.« Der Sohn schickte die Polizei, im Krankenhaus seien sie wieder aufgewacht.
Vogel sagt, sie habe die Not des Paares gespürt und den Wunsch verstehen können. Trotzdem habe sie abgelehnt. Den Sterbewunsch des Mannes habe sie als egozentrisch empfunden: »Er mag nicht weiterleben, wenn sie tot ist – eine normale Trauerreaktion. Ich soll ihm das ersparen. Das darf er sich wünschen, aber ich muss dem nicht nachgeben«, sagt Vogel, »da sehe ich meine Grenze.«
In den neuen Hinweisen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Suizidwünschen steht, das »vertrauensvolle Gespräch« darüber gehöre zum »Kern ärztlicher Tätigkeit«.
»Ich müsste die Menschen kennen, es müsste eine Beziehung da sein.«
Susanne Vogel, Palliativmedizinerin
Nicht nur die Autonomie der Suizidwilligen zählt, sondern auch die der Ärzte. Keine Medizinerin und kein Mediziner kann verpflichtet werden, bei einem Suizid zu helfen, es ist eine freie, persönliche Entscheidung. Vogel überlegt: »Wenn überhaupt, würde ich das nicht im Krankenhaus tun und nicht für irgendjemanden, der das als Dienstleistung von mir will. Ich müsste die Menschen kennen, es müsste eine Beziehung da sein. Ich würde dann auch dabei sein wollen.«
Leider sei es in Deutschland schwer, offen über den Suizid zu diskutieren, findet sie: »Hat das was mit Religion zu tun? Mit dem Tabu, dass das Leben dann absolut zu Ende ist?«
Die Selbsttötung dürfe nicht zu einer Option neben anderen am Lebensende werden, warnt nun wieder die Deutsche Bischofskonferenz. »Aber man muss doch ehrlich sein«, sagt Vogel: »Das sind ja keine Massen. Und keiner möchte, dass die paar, die das wirklich wollen, sich in der Klinik aus dem zehnten Stock stürzen.«
Laut Weltgesundheitsorganisation kommen auf jeden Suizid 10 bis 20 Versuche, die nicht mit dem Tod enden. Etwa zehn Prozent davon führen zu schweren Verletzungen. In Deutschland wären das mindestens 90.000 Betroffene pro Jahr, die ihren Suizid überleben. Etwa ein knappes Drittel davon versucht es britischen Studien zufolge erneut.
15 Gramm Natrium-Pentobarbital sind in der Schweiz die Standardmedikation für einen sicheren, schnellen Suizid. In Deutschland lehnt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte alle Anträge auf Ausgabe zum Zweck der Selbtsttötung ab. Zuletzt entschied das Oberverwaltungsgericht Münster sinngemäß, solange es kein Gesetz zum Umgang mit Natrium-Pentobarbital gebe, sei es Suizidwilligen zumutbar, sich auf andere Weise das Leben zu nehmen.
»Das war mein letzter Liebesdienst für sie.«
Carsten Kaminski sagt, seine Frau habe Sorge gehabt, ihr Suizid könnte fehlschlagen:
»Auf normalem Weg bekommt man keine Hilfe. Man wird völlig alleingelassen damit. Man erhält keine Beratung oder offizielle Anleitung, man bekommt auch nicht, wie in der Schweiz, ein Mittel speziell für die Lebensbeendigung. Stattdessen müssen Sie irgendwas in Überdosis nehmen und hoffen, dass die Nebenwirkungen Sie umbringen.
Ich habe meine Frau immer überreden können, noch ein bisschen zu warten. Bis es nicht mehr ging. An dem Abend saßen wir noch zusammen und haben uns Erinnerungen erzählt. Sie hat gesagt: Das Leben war schön, und sie hätte gern noch so viel mit mir erlebt.
Sie hat die 100 Kapseln geöffnet, Pulver raus, und alles in einen Pudding gerührt. Es hat sich so ergeben, dass ich ihr dabei geholfen hab’, weil die Kapseln so schwer aus der Blister-Verpackung rausgingen. Das war mein letzter Liebesdienst für sie. Sie hat mir noch das Versprechen abgenommen, wenn es nicht funktioniert, dass ich sie bloß nicht aufwachen lassen sollte. Also, dass ich dann nachhelfe.
»Ich habe sie noch lange atmen gehört. Irgendwann war es still.«
Wir haben uns in ihr Bett gelegt, und sie ist friedlich in meinen Armen eingeschlafen. Nach drei Stunden habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe mich von ihr verabschiedet und bin in mein Zimmer gegangen. Ich habe sie aber noch lange atmen gehört. Irgendwann war es still.«
Auch Sterbehilfeorganisationen und humanistische Vereine setzen sich für die Freigabe von Natrium-Pentobarbital ein. »Wir wollen harte Suizide vermeiden und Suizidhilfe da vermitteln, wo der rechtliche Rahmen stimmt«, sagt Johannes Weinfurter von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS).
Sind andere Hilfen im Leben geeigneter?
Bei der DGHS-Hotline »Schluss.Punkt« meldeten sich seit Anfang des Jahres rund 2400 Anrufer. »Wenn wir da eine Unsicherheit spüren, überlegen wir gemeinsam, ob andere Hilfen im Leben geeigneter sind. Wir fragen: Haben Sie mit anderen Menschen darüber gesprochen? Wie stehen Ihre Angehörigen zu Ihrem Wunsch? Manche kommen dann zum Schluss, dass sie auch gut auf natürlichem Weg gehen können, vielleicht mit hospizlicher oder palliativmedizinischer Begleitung.«
»Wir appellieren an die Politik, die Freiverantwortlichkeit ins Zentrum der Debatte zu rücken.«
Johannes Weinfurter, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben
Kontakt zu einem von derzeit zehn kooperierenden Freitodbegleitungsteams vermittelt die DGHS nur an Mitglieder, in der Regel nach sechs Monaten Wartezeit. 120-mal war das im Jahr 2021 der Fall. Die Sterbehelfer, meist ein Jurist und ein Arzt, besuchen die Betroffenen zu Hause, sprechen, wenn möglich, auch mit den Angehörigen, studieren Krankenakten, alles wird protokolliert. Gewinnen sie den Eindruck, dass jemand nicht aus freiem Entschluss und wohlerwogen aus dem Leben gehen will, sondern vielleicht aus einer Laune heraus oder weil er unter dem Druck von Angehörigen steht, brechen sie den Prozess ab.
»Wir appellieren an die Politik, die Freiverantwortlichkeit ins Zentrum der Debatte zu rücken«, sagt Weinfurter. Eigentlich brauche man kein neues Gesetz, weil das Strafrecht und auch das ärztliche Standesrecht in dieser Sache schon so klar seien. Im Anschluss an eine Freitodbegleitung wird automatisch die Polizei informiert. Es kommt vor, dass Staatsanwaltschaften nachfragen. »Es wäre leichtsinnig, wenn ein Freitodbegleiter einen Fall übernimmt, der nicht eindeutig ist.«
Suizidhilfe als Kassenleistung wäre eine transparente Lösung
Tatsächlich gab es schon vor dem Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe im Jahr 2015 Versuche, ärztliche Sterbehelfer mittels Strafverfahren zu verfolgen. Alle endeten mit Freispruch. Der viel beschworene Missbrauch ist bis heute in keinem einzigen Fall belegt.
Fragt man Kritiker, was genau ihnen an der Arbeit der Vereine dubios erscheint, kommt häufig nur ein Argument: dass Geld fließt – beim Verein Sterbehilfe, gegründet vom umstrittenen Sterbehilfeaktivisten und ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch, zwischen 2500 und 7000 Euro, je nach Dauer der Mitgliedschaft zum Zeitpunkt des Suizids. Bei der DGHS 4000 Euro, für die Kosten der Freitodbegleiter.
Demgegenüber wäre Suizidhilfe als ärztliche Kassenleistung, befreit vom moralischen Stigma, eine saubere und transparente Lösung. Sterbehilfeorganisationen würden dann vielleicht sogar überflüssig werden. Man könnte eine Qualifikation für Suizidbegleiter und -berater einführen. Man könnte die Prävention stärken, zugleich alle Suizidhilfefälle dokumentieren und anschauen, wie sich das Ganze entwickelt.
»Wenn wir dann feststellen würden, dass immer mehr hochbetagte Menschen wegen Einsamkeit oder Pflegebedürftigkeit aus dem Leben gehen wollten, dann wäre das nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt«, sagt der Palliativmediziner Borasio, »aber als Gesellschaft müssten wir uns sehr ernste Fragen stellen« – Fragen, auf die das Strafrecht keine angemessene Antwort geben kann.
In den Niederlanden gehen 4,5 Prozent aller Todesfälle auf Suizidhilfe zurück
In allen Ländern, in denen die Hilfe zum Suizid erlaubt ist, sinkt die Zahl der übrigen Suizide nicht unbedingt. In der Schweiz gingen der amtlichen Statistik zufolge zuletzt 1,6 Prozent aller Todesfälle auf Suizidhilfe zurück. In den Niederlanden, wo auch aktive Sterbehilfe möglich ist: 4,5 Prozent.
Dort übernimmt die Krankenkasse die Kosten, Freiverantwortlichkeit wird vorausgesetzt, ein Psychiater kommt nur hinzu, wenn eine psychische Erkrankung die Quelle des Leids ist. Die Niederländer vertrauen ihrem Hausarzt. Der darf helfen, wenn er keine andere für den Suizidwilligen annehmbare Option hat. Erforderlich ist die zweite Meinung eines unabhängigen Kollegen. Wer keinen geeigneten Arzt kennt, kann sich an die Stiftung Lebensendeklinik wenden. Alle Fälle müssen gemeldet werden, sie werden geprüft, nachträglich, durch eine staatliche Kommission.
Was sagt eine steigende Zahl?
Im Jahr 2021 beendeten 7666 Niederländer ihr Leben mit ärztlicher Hilfe – 10,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Aber was sagt eine steigende Zahl? Ist sie ein Indikator dafür, dass etwas nicht gut läuft in der Gesellschaft? Ist sie ein Zeichen wachsenden Bewusstseins für die Autonomie am Lebensende? Fühlen sich vielleicht einfach immer weniger Menschen an die Moralvorstellung der Kirchen gebunden?
89 Prozent der Niederländer, die 2021 Hilfe zum Sterben in Anspruch genommen hatten, litten unheilbar an Krebs, schweren neurologischen Krankheiten oder einem Mix mehrerer Leiden. Lediglich bei sieben Fällen befand die Kommission für Sterbehilfe, dass nicht alle Sorgfaltskriterien eingehalten worden waren.
In der Debatte über den Tod auf Verlangen werden oft Erkenntnisse aus der allgemeinen Suizidforschung herangezogen – wie etwa die Annahme, über 90 Prozent aller Suizide würden unter dem Einfluss einer psychischen Erkrankung geschehen. Aber trifft das auch auf Menschen zu, die sich bewusst für Hilfe zur Selbsttötung entscheiden?
Blickt man auf Daten aus den Niederlanden oder auf Statistiken von Sterbehilfeorganisationen, sind die allermeisten älter als 60 Jahre, in der allgemeinen Suizidstatistik ist die Hälfte der Betroffenen jünger. Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch nehmen, verfügen eher über eine höhere Bildung, nur sehr wenige haben schon einen Suizidversuch hinter sich. Während sich ohne Hilfe dreimal so viele Männer wie Frauen das Leben nehmen, ist beim Tod auf Verlangen das Geschlechterverhältnis ausgewogen.
Die Internetauftritte der Sterbehilfeorganisationen zeigen braun gebrannte Rentner, entspannt, heiter angesichts der Aussicht auf einen sanften, schnellen Freitod. Dort werde oft ein heroisches Menschenbild propagiert, meint der Palliativmediziner Borasio: Der aufgeklärte Mensch, der selbstbestimmt und stark seinen freien Willen durchsetze – auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts scheine dieses Menschenbild auf. Aber solch ein »idealer Freitod« sei in der Realität die Ausnahme: »Die meisten Suizidwilligen sind alt, schwer krank, kognitiv zum Teil beeinträchtigt, fragil, schwer leidend.«
872-mal grünes Licht
Auch der Verein Sterbehilfe verklärt optisch den Freitod, zugleich verfügt er über ein morbides Archiv, darin sind Videointerviews mit allen Suizidenten abgelegt. Fitte Senioren oder 25-Jährige mit Liebeskummer sind nicht dabei, ohnehin sind Kurzschlussreaktionen als Grund für Suizidhilfe strafrechtlich ausgeschlossen. In den allermeisten Fällen geht es um unheilbare Krankheiten wie Krebs, Multiple Sklerose oder ALS. Aber auch Leiden am körperlichen Verfall im hohen Alter, Lebensverdrossenheit und Einsamkeit scheinen auf.
Die meisten, sagt Gründer Kusch, kämen nach langer Vorbereitung zum Verein, manche hätten sich mit der Philosophie des Suizids beschäftigt: Friedrich Nietzsche, Jean Améry, Walter Jens, Hans Küng. Viele hätten keine konkreten Suizidpläne, sie betrachteten das »grüne Licht«, wie der Verein das Okay zur Suizidhilfe nennt, als »Tür zum Notausgang«. Bei den meisten vergehen danach bis zum Suizid noch mehrere Wochen oder Monate, fast jeder Fünfte lebt noch ein Jahr später.
872-mal gab der Verein seit seiner Gründung im Jahr 2009 grünes Licht, in 92 Fällen lehnte er es ab, meist wegen einer psychischen Erkrankung. 568 Mitglieder gingen bis heute mithilfe des Vereins aus dem Leben. Bei 191 von ihnen war der Sterbebegleiter ein Angehöriger.
Im Sommer 2020 besuchte ich Roger Kusch. Er hatte gerade mit der ersten Suizidhilfe in einem deutschen Altenheim Schlagzeilen gemacht. 2008 hatte Kusch mich schon einmal in seiner Hamburger Wohnung empfangen. Damals hatte er die Öffentlichkeit mit der Präsentation einer Suizidmaschine geschockt, auch mich. Heute sagt Kusch, selbst engste Freunde hätten seinen Injektionsautomaten geschmacklos gefunden.
Die meisten Sterbewilligen bekämen ein Glas mit aufgelösten Medikamenten, wie auch jetzt im Seniorenstift. Der alte Herr F. sei seit Jahren Mitglied gewesen: »Er hatte Angst, in die Pflegeabteilung zu kommen. Das war für ihn der völlige Horror. Der Heimleiter rief an, sie würden das billigen. Da bot ich ihm an, dass ich das selbst mache, obwohl ich seit fünf Jahren keine Sterbehilfe mehr geleistet habe. Mit Herrn F. hatte ich vorher nur einmal gesprochen, eine Stunde, bei laufender Kamera, dann beim Suizid das zweite Mal.«
Ich frage Roger Kusch, wie es sich anfühlte, Herrn F. beim Suizid zu begleiten.
»Danach war ich ziemlich erledigt. Dabei war alles normal gelaufen, es hatte nichts Beunruhigendes gegeben. Aber Sterbehilfe ist generell sehr anstrengend. Es bleiben immer Zweifel, ob es richtig ist. Oder ob es jetzt richtig ist. Die Entscheidung ist nicht rückgängig zu machen. Wenn man einem Menschen dabei zuschaut, wie er sich ins Jenseits verabschiedet, kann man das nicht von sich fernhalten. Dieser Mensch kann einem erzählen so viel er will, aber er nimmt viele Geheimnisse mit.«
Vor Jahren habe er die Begleitung zweier älterer, lebenssatter Damen übernommen, zu denen ein vertrauter Kontakt entstanden sei. Da sei es ihm leichter gefallen, Sterbehilfe zu leisten: »Es fühlte sich an, als könnte ich einer Freundin einen Wunsch erfüllen.« Im Jahr 2015 jedoch, als alle das Verbot kommen sahen, habe der Verein zu viele Anträge und zu wenige Helfer gehabt: »Da fühlte ich mich zeitweise wie ein Klempner, der irgendeine Tätigkeit ausübt«, sagt Kusch. »Wenn ich es häufiger machen würde, würde ich das Gespräch mit einem Psychologen suchen.«
Wer sich mit dem Suizid beschäftigt, kommt zwangsläufig zu sich selbst und zu den eigenen Ängsten. »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, auf welche Weise Sie sich das Leben nehmen würden?«, hatte mich Bernadette Kaminski gefragt.
Konkret? Noch nie. Grundsätzlich schon. Mein Mann und ich, wir haben keine Kinder. Er ist 30 Jahre älter als ich. Wir werden nicht zusammen alt werden. Für ein Dokumentationsprojekt , das mittlerweile rund eine halbe Million Besucher in vielen Ländern gesehen haben, verbrachten wir zusammen mehr als ein Jahr mit Sterbenden im Hospiz. Nicht alle waren alt. Die meisten hingen trotz schweren Leidens an ihrem Leben, nur wenige hätten es gern abgekürzt. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie sich mein Leben anfühlen würde, wenn eine Krankheit das Regiment übernimmt oder wenn die letzten Freunde wegsterben. Der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz sprach, 83 Jahre alt, vor seiner Reise zu Dignitas in die Schweiz von einem »leer gelebtem« Leben.
Die Vorstellung, auf erträgliche Weise gehen zu können, wenn ich meine Existenz nicht mehr annehmbar fände, würde ich als Beruhigung empfinden. Ich antworte Bernadette Kaminski, dass ich einen Arzt kenne, von dem ich annehme, dass er mir helfen würde.
Gefragt habe ich ihn noch nie danach.
Also rufe ich Michael de Ridder an. Wir kennen uns, seit ich in einer Reportage beschrieb, wie er einen jungen Wachkomapatienten beim Sterben begleitete – eine verbindende Erfahrung. Er ist jetzt 75, früher leitete er die Rettungsstelle im Vivantes-Klinikum Am Urban in Berlin–Kreuzberg, für den Klinikkonzern gründete er ein Hospiz. Er befürwortete nicht nur öffentlich die Möglichkeit zur Suizidhilfe, er hatte zudem einigen wenigen Menschen geholfen, ihr Leben zu beenden, bis Paragraf 217 in Kraft trat. Auch er hatte sich der Verfassungsbeschwerde angeschlossen.
Was hat sich nach dem Urteil für ihn verändert?
Er habe seither mehr als hundert Anfragen erhalten, sagt Michael de Ridder. Meist lehne er ab, wie im Fall der jungen Frau, 35, Philosophin, die von ihm gefordert habe, ihr etwas zu verschreiben, mit der Begründung, das sei ihr Recht, und sie habe ihr Leben zu Ende gelebt. »Aber ich bin ja kein Dienstleister«, sagt er, »sondern ein Mitmensch auf Augenhöhe.« Die meisten, die um Sterbehilfe bitten, bräuchten in erster Linie Lebenshilfe. »Für mich gehören lange Gespräche dazu. Psychisch und auch zeitlich ist es ein großer Angang. Ich muss die Möglichkeit haben, mich dagegen zu entscheiden.«
Wie bei der 87-jährigen Dame aus Wilmersdorf, sehr nett, sehr einsam, die nicht mehr leben wollte. Er habe sie mehrmals im Café getroffen, ihr dann einen Platz in einem hübschen Pflegeheim besorgt: »Dort lebt sie jetzt, und der Sterbewunsch ist nicht mehr da.«
Ein altes Ehepaar habe er fortgeschickt, die Eltern eines prominenten Politikers, sie hätten sich einen gemeinsamen Abschied gewünscht, aber bei dem Mann sah er die Freiverantwortlichkeit nicht gegeben. »Einige Zeit später rief der Sohn an, seine Eltern seien aus dem Leben gegangen, mit Hilfe vom Verein Sterbehilfe, pro Person 7000 Euro.«
»Ich behaupte nicht, dass es eine gute Möglichkeit ist, sein Leben zu beenden«, sagt Michael de Ridder. »Für mich ist es die Ultima Ratio. Aber ich meine, jedem Menschen sollte das Recht zugestanden werden, sein Leben eigenverantwortlich so zu beenden, wie es seiner Vorstellung von sich selbst entspricht.«
Es kostet mich Überwindung, meine Frage zu stellen. »Angenommen, ich würde zu dir kommen und sagen: Ich will nicht mehr – würdest du mir helfen?« Er überlegt, dann sagt er: »Wir haben ja eine gemeinsame Geschichte mit diesem Thema. Wenn du es mir plausibel machen kannst, wenn ich dein Leiden nachvollziehbar finde, warum du nicht mehr willst, dann wäre ich offen dafür. Ja, ich glaube, ich würde dir helfen.«
Gegenüber dem Tresor, in dem der Revolver liegt, hat Carsten Kaminski im Wohnzimmer ein bunt bemaltes Kuvert an die Wand gehängt, in dem steckt der Abschiedsbrief seiner Frau:
»Glaub mir, ich habe dich sehr lieb. Du hast alles versucht, um mir zu helfen. Mach Dir keine Vorwürfe. Ich hoffe, Du denkst ab und zu an mich, aber nicht zu sehr…«
Neulich war er wieder im Ruheforst, Bernadettes Asche liegt dort unter einer 30 Jahre alten Buche am lichten Rand des Waldes. Zweifel an ihrer Entscheidung habe er bis heute nicht, aber Sehnsucht. »Hättest du es doch nicht gemacht«, denke er manchmal, aber das seien nur kurze Momente.
Ob er finde, dass seine Frau ihm viel zugemutet habe?
»Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich habe sie über alles geliebt, und sie hat es ja nicht leichtfertig gemacht. Sie hat lange genug gelitten. Es war eine rationale Entscheidung. Aber es macht mich wütend, dass wir auf diesen Weg gezwungen wurden. Dass ich aus diesem Grund den Jagdschein gemacht habe, dass sie sich irgendwelche Brücken angesehen hat, dass sie so verzweifelt war, dass sie mit dem Strick schon in den Wald gefahren ist. Ich bin ihr hinterher und habe sie noch davon abhalten können. Dass so etwas überhaupt passieren muss! Aber daran kann man ihr keine Schuld geben. Sondern nur denjenigen, die mit ihren Gesetzen dafür gesorgt haben, dass die Situation so ist, wie sie ist.«
Inzwischen liegen dem Parlament drei neue Gesetzesvorschläge vor, alle gehen von einer Beratungspflicht und Wartefristen aus. Der konservativste – und womöglich aussichtsreichste – will die Suizidhilfe erneut wie im alten Paragrafen 217 unter Strafe stellen, es sei denn, der Sterbewillige hat zuvor mindestens eine Pflichtberatung und zwei psychiatrische Untersuchungen absolviert. So will man verhindern, dass Menschen sich das Leben nehmen, denen man anders hätte helfen können.
Da habe er gar nichts gegen, sagt Carsten Kaminski. Seine Frau, meint er, hätte sich auch einer Beratung unterzogen oder mit Psychiatern geredet. Aber wenn man solche Gesetze erlasse, müsse man auch die Infrastruktur dafür schaffen: »Ein Jahr beim Psychologen auf der Warteliste, das geht dann nicht.« Und die Kosten dafür könne man schlecht den Betroffenen aufbürden.
Ich frage ihn, ob man sich Sorgen um ihn machen müsse?
Nein, sagt er. Er habe nie gewollt, dass sich seine Frau das Leben nehme, und er selbst habe das auch nicht vor. Er habe wieder Perspektiven, er pflanze im Garten Gemüse und habe sich Schafe gekauft. Aber es sei gut, den Revolver zu haben. Falls er eines Tages in Not gerate wie seine Frau, werde er bei keinem Arzt um Hilfe betteln müssen.
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November 20, 2022 at 07:14PM